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Die Ukraine wird von Russland angegriffen
Teil 3: Identifikation mit dem Aggressor 21. Mai 2022 |
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Das Konzept der Identifikation mit dem Aggressor wurde in einem vom Psychoanalytiker Sandor Ferenczi im September 1932 gehaltenen Vortrag erstmals vorgestellt. Der Vortrag wurde 1933 unter dem Titel Sprachverwirrung zwischen den Erwachsenen und dem Kind veröffentlicht (erschienen in: Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse. Herausg. von Sigmund Freud. XIX. Band, 1933, Heft 1/2: S. 5-15), wobei der ursprüngliche Titel des Vortrags seinem Inhalt gerechter zu werden scheint: Die Leidenschaften der Erwachsenen und deren Einfluss auf Charakter- und Sexualentwicklung des Kindes. Sandor Ferenczi (1873-1933) war ein überaus offener und kreativer Psychoanalytiker, der sich einerseits stark an der psychoanalytischen Theorie von Sigmund Freud (1856-1939) orientierte, auch mit diesem zusammenarbeitete, andererseits eigene neue Einsichten wie die hier vorgestellte entwickelte. Der Mechanismus der Identifikation mit dem Aggressor macht sich bei Kleinkindern, welche von Seiten eines Elternteils sexuelle Gewalt erfahren, mit aller Dramatik bemerkbar. Das Kleinkind kennt noch keine andere Bezugsform als die der Identifikation mit den für es sorgenden Personen, verfügt noch nicht über ein eigenständiges Ich.
Die Identifizierung mit den für es sorgenden Eltern stellt eine notwendige Voraussetzung für das Kind dar, ein Ich zu entwickeln. Im Prozess der Identifizierung wird das Gewissen anhand der Vorgaben der Eltern wie vorgeformt, kann vom Kind während des Erwachsenwerdens autonom modifiziert werden und es kann auf diese Weise ein Ich mit einem eigenständigen Gewissen entwickeln. Wenn das Kind nun aber infolge sexueller Gewalt in die Identifizierung mit dem Angreifer gezwungen wird, bleibt es diesem in die eigenen Psyche introjizierten Zwang ständig verhaftet. Es muss unablässig Mimikry mit dem Angreifer betreiben, um mit der erfahrenen Gewalt einigermassen klarzukommen. Es besteht die grosse Gefahr, dass das Kind sich gezwungen sieht, die Identifikation mit dem Angreifer nicht nur zum ursprünglichen Angreifer zu betreiben, sondern den Mechanismus auf andere als Angreifer in Erscheinung Tretende zu übertragen, dieses auch noch im Erwachsenenalter. Die Identifizierung mit dem Angreifer und das zugehörige Mimikry werden unter Umständen zu einem Persönichkeitsmerkmal der Betroffenen, womit einhergeht, dass sie nur schwer noch ein wirkliches Ich zu entwickeln vermögen.
Das sexuell ausgebeutete Kind läuft Gefahr, eine Persönlichkeit zu entwickeln, welche weiterhin entsprechenden Bedrohungen anstatt mit Abwehr, mit ängstlicher Identifizierung und Introjektion des Bedrohenden oder Angreifenden antwortet. Der Angreifer nutzt die Tatsache, dass er mit dem angegriffenen Kind einen Menschen vor sich hat, dessen Ich erst in Entwicklung begriffen ist, genau auch aus.
Der Angreifer versucht sich in die Rolle desjenigen hineinzuleugnen, der ganz für das vorgeblich unwissende Kind denke, der weit über diesem stehe, ihm moralisch völlig überlegen sei. Diese ganze Lüge wird oft auch noch – wie es Sektenführer gegenüber Sektenmtgliedern regelmässig machen – mit irgendeiner als religiös bezeichneten Ideologie zu untermauern versucht. Der Angreifer baut ein eigentliches Lügengebäude um das angegriffene Kind und auch um sich herum auf, um seine Untaten als solche zu verschleiern, dieselbigen sogar als notwendig und hilfreich vorzustellen. Der Mechanismus der Identifizierung mit dem Angreifer wird allerdings – was über Ferenczi und über die Psychoanlayse hinaus in die Soziologie verweist – nicht alleine durch sexuelle Gewalt gegen Kinder ausgelöst, sondern auch durch andere Formen von Gewalt wie insbesondere institutionelle Gewalt. Die beständige Forderung von Seiten der Eltern an das Kind, in jeder Situation brav und folgsam zu sein, allen Autoritätspersonen wie insbesondere den Lehrerinnen und Lehrern immer aufs Genaueste zu gehorchen, was immer diese vorschreiben, befördert den Mechanismus der Identifikation mit dem Angreifer ebenfalls. Es wäre in diesem Zusammenhang an den auf die institutionelle Gewalt anspielenden Kinderwitz erinnert: "Schulgesetz: §1 Der Lehrer hat immer Recht. §2 Sollte er einmal nicht Recht haben, tritt automatisch §1 in Kraft." Die Möglichkeit, dass das Kind Recht, der Lehrer Unrecht hat, darf nicht in Betracht kommen, kommt institutionell oft wirklich nicht in Betracht. Auch die Identifizierung mit dem Angreifer als Folge institutioneller Gewalt ist früh erkannt und insbesondere von kritischer Theorie so auch immer wieder hervorgehoben worden. Hierfür war eine zusätzliche, wesentlich auf Sigmund Freud zurückgehende Einsicht von grosser Bedeutung. Sie besagt, dass ein im Grunde krankhaftes Verhalten wie eben das permanente Durchsetzen von Gewalt gegen Kinder in ein sozial allgemein anerkanntes Recht – im eben zitierten Schulwitz mit den Paragraphen angezeigt – verwandelt, als solches institutionalisiert und zur allgemeinen Norm erhoben werden kann. Und wenn ein pathisches Verhalten durch Institutionalisierung zur allgemeinen Norm erhoben ist, muss es innerhalb des vorgeblich Normalen recht eigentlich verschwinden, wirkt aber nach wie vor und umso mehr. Es ist als solches nun aber sozial nicht mehr auffällig, sondern eben vorgeblich normal. Das Pathische wird – so die Einsicht von Freud – vermittels Massenpsychologie zum scheinbaren Verschwinden gebracht. Darauf wies Sigmund Freud bereits in seiner Schrift Massenpsychologie und Ich-Analyse (1921) im Anschluss an Le Bons Psychologie der Massen (im französischen Original 1895) hin. Ein bedeutsames, diese Einsicht aufnehmendes Werk war die von Wilhelm Reich verfasste Massenpsychologie des Faschismus (1933). Die ganzen Studien der kritischen Theorie zu Autorität und Familie, zum autoritären Charakter usw. nahmen diese Einsicht auf und führten sie fort. Das Verhältnis eines Diktatoren zu der ihn stützenden Bevölkerung dürfte wesentlich vom Mechanismus der Identifizierung mit dem Angreifer angetrieben sein. Dieses galt für Hitler, galt für Stalin, gilt genauso für Wladimir Putin und andere ehemalige oder zeitgenössische Potentaten. Dasselbe gilt für die Führer rechtsextremer Parteien und Bewegungen in den westlichen Ländern, für Leute wie Donald Trump oder Marine Le Pen. Die Diktatoren/Potentaten stützen sich auf eine Bevölkerung oder Anhängerschaft, deren Mitglieder ein nur schwaches Ich besitzen, das heisst die weitgehend ohne eigenes Gewissen und Urteilsvermögen dastehen, aus diesem Grund ganz an einer Führerfigur sich orientieren 'müssen'. Sie 'müssen' sich dermassen mit dem so genannten Führer identifizieren, dass sie diesen als den, der er in Wahrheit ist, nämlich Angreifer oder Aggressor, gar nicht erkennen können. Sie glauben verblendet glühend an ihren Führer. Die Mitglieder der mit dem Diktatoren/Potentaten identifizierten Anhängerschaft haben sich der Freiheit als Möglichkeit, sich selber zu wählen (Begriff nach Imre Kertész), derart entschlagen, dass sie auch die Bedeutung von Freiheit nicht kennen, vielleicht gar nie gekannt haben. In der Folge – und hierin stimmen sie mit dem Diktatoren/Potentaten aufs Genaueste überein, werden von diesem darin auch ständig bestärkt – 'müssen' sie wie unter einem inneren Zwang alles an Freiheit gemahnende Lebendige abwehren, verdrängen, zerstören. Sie opponieren auch überhaupt nicht, wenn einzelne für die Freiheit einstehende Menschen – dann als Dissidenten bezeichnet – widerrechtlich verhaftet, gefoltert, umgebracht werden. In Übereinstimmung mit dem Diktatoren/Potentaten reden sie sich ein, dass das entsprechende Unrecht Recht sei. Unter Stalin gab es viele Fälle, wo glühende Anhänger, die plötzlich selber sich verhaftet sahen, noch dieses als richtig empfanden. Noch das an ihnen selber offenkundig begangene Unrecht betrachteten sie als eigene Schuld, als ihr eigenes Versagen vor dem von ihnen nach wie vor geliebten Führer. Auch unter Putin und den von ihm angeordneten sog. Säuberungen der eigenen Reihen dürfte es solche Fälle geben. Die sich mit dem Diktatoren/Potentaten identifizierende Anhängerschaft erkennt durchaus, dass ihre Identifikation sie selber in den Abgrund reissen kann, doch das Antizipieren des Schreckens (vgl. dazu auch die Kommentare K203 und K204 zum Rechtsradikalismus) gehört zu ihrem Komplex fest dazu, schreckt sie nicht, sondern im Gegenteil, wird mehr oder weniger bewusst sogar erwartet. Und dann wird sie halt, wie in diesem Frühjahr x-fach an jungen russischen Soldaten vollzogen, in den Krieg geschickt, ohne noch recht zu bemerken, dass sie in einen Krieg und oft auch in den Tod geschickt ist. Was der Führer der getreuen Anhängerschaft einzig verspricht und auch gibt, sind Führerschaft, glühender Nationalismus, Schiefheilung der beschädigten Psyche sowie, solange sie am Leben ist, eine minimale ökonomische Sicherheit. Diktatoren wie Putin sehen in ihrer Anhängerschaft gar nicht mehr Menschen, sondern nur noch Funktionäre, die ihren Wahnvorstellungen blind zu Diensten zu stehen haben. Für die Umsetzung ihres krankhaften Grössenwahn gehen sie durchaus strategisch vor, nutzen alle ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln von Manipulation und Propaganda. Krankhaftes Verhalten und manipulatives Verhalten schliessen sich gegenseitig nicht aus, bedingen sich vielmehr. Die 'Welt' des Führers soll zur einzigen den Anhängern noch zur Verfügung stehenden werden. Die institutionelle Gewalt zur Identifikation mit dem Angreifer nahm in den letzten dreissig, vierzig Jahren auch in den westlichen Ländern wieder enorm zu, was sich am Wiedererstarken von rechtsradikalen Bewegungen zeigt. Dazu sei eingefügt, dass Phänomene wie jenes des Arbeitskraftunternehmers (vgl. dazu die Kommentare K37 und K38) dieser Tendenz überaus förderlich sind, paradoxerweise gerade dadurch, dass der Angreifer innerhalb der Anonymität der Konzernimperative kaum noch als Person in Erscheinung tritt, man es bei den Arbeitskraftunternehmern vielmehr wie mit einer Herde von Schafen zu tun hat, die des Hirts gar nicht mehr bedarf, sondern von selber aussengeleitet funktioniert. Die anonyme Führung macht sich mittels der einzuhaltenden Imperative ebenfalls autoritär geltend, fordert ebenfalls die Identifikation mit ihnen, und zwar in analoger Weise an jedem ansonsten noch so divers ausgestalteten Arbeitsplatz. Dieses nicht zuletzt dürfte – so hier die Annahme – das Erstarken rechtsradikaler Bewegungen auch in westlichen Ländern erleichtert haben, inklusive der in diesen Bewegungen weit verbreiteten Bewunderung von Putin. Allerdings – und hierin besteht der Unterschied zu den russischen Verhältnissen – bedarf die fortschreitende Ökonomie eines von der Politik auch zugelassenen Innovationspotentials und damit eines bestimmten Grades von Freiheit auch für die Arbeitskraftunternehmer (vgl. zu diesem Zweispalt die Kommentare K247 bis K249). Der damit verbundene ökonomistische Freiheitsbegriff dürfte die von den westlichen Ländern und insbesondere den USA gewährten militärische Unterstützung der Ukraine wesentlich miterklären, im Gleichen die technologische Überlegenheit der westlichen Waffentechnologie gegenüber der russischen. Der institutionelle Zwang in die Identifikation mit dem Diktatoren/Potentaten ist in Russland tief in der Geschichte verankert, wie immer auch – hier nur erwähnt, aber nicht zu vergessen – der individuelle Widerstand dagegen. Seit der Zeit der Zaren, durch die stalinistische Sowjetunion hindurch bis zur heutigen Ära Putins bestand immer ein enormer institutionelle Zwang auf die Menschen in die Identifikation mit dem jeweiligen Diktatoren/Potentaten. Zu Versuchen hin zur Demokratie kam es jeweils immer nur schwach und kurz. Im Unterschied zur Entnazifizierung in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg kam es in Russland nie zu einer Entstalinisierung und auch zu einer Entputinifizierung dürfte es nach Putin kaum kommen. Möglicherweise wird Russland aufgrund der Kriegsfolgen ganz zu einem Land wie es das heutige Nordkorea ist. Es herrscht Krieg in der Ukraine ... |
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