K209 Sag mir, wo die Blumen sind
Zu dem von Marlene Dietrich gesungenen Lied

7. März 2020

Das Lied Sag mir, wo die Blumen sind war in den 1960er Jahren insbesondere in der Interpretation von Marlene Dietrich ein grosser Erfolg. Marlene Dietrich sang das Lied meisterhaft sowohl in der amerikanischen, der französisch- als auch in der deutschsprachigen Version. Sie wusste, wovon sie sang. In den nachstehenden gelben Kästen sind die Liedtexte der drei Versionen (deutsch, amerikanisch, französisch) wiedergegeben, zuzüglich je eines Links auf youtube respektive die von Marlene Dietrich gesungene Version.

Das Lied insistiert auf der Frage, wo die Blumen, wo die Mädchen, wo die Männer, wo die Soldaten, wo die Gräber geblieben sind, gibt sogleich selber die Antwort, nämlich: dass die Mädchen die Blumen geschwind pflückten, dass die Männer die Mädchen geschwind nahmen, dass die Männer in den Krieg fort zogen, dass die Soldaten in Gräbern verschwanden, über denen der Wind weht, dass die Gräber überwachsen wurden von Blumen, die im Sommerwind blühn. Zum Schluss jeder Strophe macht das Lied mit der zwei Mal gestellten Frage: Wann wird man je verstehn? deutlich, dass die beschriebenen Verluste darauf zurückzuführen sind, dass die Menschen nicht verstehn. Würden die Menschen verstehen, nähmen die zu den Verlusten führenden Handlungen ein Ende.

Sag mir, wo die Blumen sind ist ein an der Todeswiege des nicht verstehen wollenden Menschengeschlechts gesungenes, der Verzweiflung darüber Ausdruck verleihendes Lied.

... auf Gräbern blühten die Blumen im Sommerwind.

Hätten die Mädchen verstanden, hätten sie die Blumen nicht gepflückt, aber sie pflückten sie geschwind.

Die Männer nahmen die Mädchen geschwind, ohne zu verstehen, um wie viel mehr es dabei gegangen wäre.

Die Männer zogen in den Krieg, als Soldaten, verstanden nicht, was Krieg bedeutet.

Der Wind weht über Gräbern.

Die im Sommerwind blühenden Blumen überwachsen die Gräber.

Mädchen pflücken die Blumen geschwind ...

Wer wie Marlene Dietrich das Lied zu singen vermag, tritt auf wie der von Paul Klee gemalte und von Walter Benjamin beschriebene Engel Angelus Novus:

Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heisst. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen, und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muss so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füsse schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, dass der Engel sie nicht mehr schliessen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.
(In: Walter Benjamin: Illuminationen. Ausgewählte Schriften. Herausgegeben von Siegfried Unseld. Fr.a.M.: Suhrkamp 1961; darin: Geschichtsphilosophische Thesen: These IX, S. 272f.)

Die Katastrophen bestehen nicht erst aus den geführten Kriegen und ihren Folgen, sondern in dem, was – wie Walter Benjamin es formulierte – vor uns erscheint als eine Kette von Begebenheiten.