K213
Bedürftigkeit nach unbeherrschter Natur
Eine Annäherung mit Hilfe von Friedrich Hölderlins Hälfte des Lebens

9. Mai 2020

Das berühmte Gedicht des vor 250 Jahren geborenen Friedrich Hölderlin mit dem Titel Hälfte des Lebens war schon einmal Thema in einem Kommentar (vgl. Kommentar K45 vom 5. November 2011). Dort ging es um den Begriff der Parataxis. An dieser Stelle geht es um den Begriff der unbeherrschten Natur, wobei – wie zu zeigen sein wird – beide Begriffe in einer engen Verbindung zueinander stehen.

Das Gedicht wäre zu deuten als die Darstellung von unbeherrschter Natur, in der ersten Hälfte von unbeherrschter Natur als ein Lebendigkeit Verleihendes, in der zweiten Hälfte von unbeherrschter Natur als ein Lebendigkeit Vorenthaltendes. Die pralle Fülle des Herbsts steht der eisigen Leere des Winters gegenüber.

Allerdings bilden die beiden Hälften unbeherrschter Natur nicht nur einen Gegensatz. Der als Parataxis zur Darstellung kommende Gegensatz ist als solcher zwar durchaus in der Wirklichkeit, als ein unvermeidlicher, nicht beseitigbarer, aber auch als ein notwendiger. Damit im Frühling die Natur in ihrer ganzen Vielfalt spriessen und im Herbst ihre ganze Fülle entfalten kann, muss sie zum Winter hin verwelken, ersterben. Lebendigkeit, das neu sich Zeigende, setzt das – wohlverstanden! – unwillkürliche Absterben des vormals Erblühten voraus.

Während die Tiere und die Pflanzen in den dramatischen Wechsel der beiden Hälften unbeherrschter Natur ganz eingebunden oder zumindest instinktiv an ihn assimiliert sind, gilt dieses nicht für die Menschen. Die Menschen mussten Mittel der Naturbeherrschung erfinden und tradieren, um insbesondere die kalten – oder allenfalls auch trockenen – Jahreszeiten überstehen zu können. Dank Naturbeherrschung, dank einer geheizten Stube, einer gefüllten Speisekammer, dank warmen Kleidern usw. überstehen sie den Winter nicht nur, sondern können ihn unter Umständen sogar geniessen.

Vor diesem Hintergrund und erst recht dem Hintergrund moderner Zeiten wirkt die Hölderlinsche Frage eigentümlich:

Weh mir, wo nehm' ich, wenn
Es Winter ist, die Blumen, und wo
Den Sonnenschein
Und Schatten der Erde?

In modernen Zeiten ist es doch auch im Winter dank Gewächshäusern und/oder Import jederzeit möglich, Blumen zu bekommen. Mittels Grossbildschirmen kann man sich Sonnenschein und Schatten der Erde jederzeit ins Wohnzimmer holen. Den begüterten Menschen – angeblich ja das Mass für das richtige Leben – ist es sogar möglich, das ganze Jahr über immer gerade dort zu leben, wo es schön ist, wo es eben beispielsweise immer Sonnenschein und Schatten der Erde gibt. Scheinbar kein Risiko mehr für das Weh mir ... .

Alles richtig, nur handelt es sich dabei nicht um dasjenige, was Hölderlin im Sinn hat. Hölderlin hat nicht die beherrschte, sondern die unbeherrschte Natur im Sinn. Es geht ihm in seinem Gedicht um die Bedürftigkeit der Menschen nach unbeherrschter Natur.

Gemäss vorherrschender Meinung freilich soll eben diese unbeherrschte Natur keine unmittelbare Rolle im Leben der Menschen spielen. Sie soll dank Naturbeherrschung immer gleich und vorgeblich zugunsten der Menschen unter Kontrolle gehalten oder verdrängt sein, als solche an die Menschen gar nicht herankommen. Beherrschung und Beherrschtheit sollen alles sein.

Für das Subjekt in Hölderlins Gedicht ist dieses nicht nur keine Option, sondern würde ihm die Lebendigkeit noch im Leben erst recht nehmen. Es ist sich bewusst, dass diejenige Lebendigkeit, die sich besinnungsloser Naturbeherrschung verdankt, mit derjenigen Lebendigkeit, die sich unbeherrschter Natur verdankt, nicht zu vergleichen ist. Erstere nämlich ist erkauft mit – wie Hölderlin im Gedicht Da ich ein Knabe war ... es sagt (abgedruckt in Kommentar K174, dort ganz unten) – dem Geschrei und der Rute der Menschen. Hölderlins Subjekt dagegen verdankt seine Lebendigkeit – in jenem Gedicht indirekt ebenfalls gesagt – der unbeherrschten Natur: Ich verstand die Stille des Äthers / Der Menschen Worte verstand ich nie.

Die sich der Naturbeherrschung verdankende Lebendigkeit beruht auf Willkür und Kontrolle und dementiert sich dadurch immer gleich selber. Die sich der unbeherrschten Natur verdankende Lebendigkeit ist – wie in wahrhafter Liebe – unwillkürlich und kann vom Menschen vielleicht gelockt, nicht aber befohlen werden.

Selbstredend bevorzugt das Subjekt von Hölderlins Gedicht die Fülle des Herbstes, wie sie ihm ohne sein willkürliches Zutun und also unwillkürlich gegeben ist:

Mit gelben Birnen hänget
Und voll mit wilden Rosen
Das Land in den See,
Ihr holden Schwäne,
Und trunken von Küssen
Tunkt ihr das Haupt
Ins heilignüchterne Wasser.

Auch dort nämlich, wo dank Naturbeherrschung die Blumen auch im Winter nicht entbehrt werden müssen, wo der Selbsterhalt nicht gefährdet ist, kann Winter im Hölderlinschen Sinne sein, kann Depression sich breit machen, vielleicht sogar erst recht sich breit machen. Wie rasch doch entpuppt sich das vermeintlich beherrscht Sichere, die sichere Stelle, die sichere Ehe, das gesicherte Glück als goldener Käfig. Freiheit verdankt sich wesentlich nicht der naturbeherrschenden Willkür, sondern der – wenn man so will – Unwillkür unbeherrschter Natur.

Die Menschen sind – zumeist ohne sich dessen bewusst zu sein – der unbeherrschten Natur bedürftig. Nur diese vermag ihnen im wahrhaften Sinn Lebendigkeit zu verleihen, freilich auch, diese ihnen vorzuenthalten. Die unbeherrschte Natur trägt genauso ihre andere, negative Seite in sich, die Möglichkeit des Mangels oder gar völligen Fehlens. Es geht dementsprechend nicht ohne Naturbeherrschung, aber eben auch nicht – was kaum je eingestanden wird – ohne unbeherrschte Natur.

Friedrich Hölderlin repräsentierte die Bedürftigkeit an unbeherrschter Natur wie kein zweiter, ist ihr in der zweiten Hälfte seines Lebens, wo er psychisch erkrankt war, vermutlich gar zum Opfer gefallen. Als wenn in den langen Jahren seiner zweiten Lebenshälfte für ihn tatsächlich nur noch Winter gewesen wäre. Er hatte ja auch seine Diotima verloren.

Die Mauern stehn
Sprachlos und kalt, im Winde
Klirren die Fahnen.

Die mit Friedrich Hölderlin hervorzuhebende Bedeutung unbeherrschter Natur für die Menschen, die mittels Naturbeherrschung genau nicht einzuholen ist, sondern deren Kritik respektive Selbstkritik bedarf, hat mit Naturromantik gar nichts zu tun.