K222 Erziehung – wozu?
Zu dem so übertitelten Gespräch von Theodor W. Adorno mit Hellmut Becker

31. Oktober 2020

Im September 1966, also vor rund 54 Jahren, führten Theodor W. Adorno und Hellmut Becker ein vom Hessischen Rundfunk ausgestrahltes Gespräch zur Frage: Erziehung – wozu? (Nachweis im gelben Kasten)

Gleich zu Beginn erläutert Adorno, weshalb er vorgeschlagen hat, zur Frage Erziehung – wozu? das Gespräch mit Hellmut Becker zu führen.

Adorno: Wenn ich vorgeschlagen habe, dass wir uns unterhalten über "Bildung – wozu?" oder "Erziehung – wozu?", so sollte das nicht bedeuten zu diskutieren, wozu überhaupt noch Erziehung da oder nötig sei, sondern: wohin soll Erziehung führen? Es sollte also die Frage des Erziehungszieles in einem sehr prinzipiellen Sinn gefasst werden, und zwar so, dass eine solche generelle Unterhaltung über das Erziehungsziel gegenüber der Diskussion der einzelnen Erziehungsbereiche und Medien den Vorrang hätte.

Becker: Ich glaube, dass wir uns darüber ganz einig sind. Das Entscheidende scheint mir zu sein, dass wir in einer Zeit leben, in der sich das Wozu offensichtlich nicht mehr von selbst versteht.
Adorno: Genau das ist das Problem, mit dem wir es zu tun haben. Man kennt die kindische Anekdote von dem Tausendfüssler, der gefragt wird, wann er jeden einzelnen seiner tausend Füsse bewege, der davon völlig gelähmt wird und überhaupt keinen Schritt mehr machen kann. Etwas ähnlich verhält es sich mit Erziehung und Bildung. Es gab Zeiten, wo diese Begriffe, wie Hegel das genannt hätte, substantiell waren, sich aus dem Ganzen einer Kultur heraus von selbst verstanden, nicht selber problematisch. Das sind sie heute. In dem Augenblick, da man fragt: "Erziehung – wozu?", wo dies "wozu" nicht mehr selbstverständlich, naiv gegenwärtig ist, gerät alles in Unsicherheit und bedarf schwieriger Reflexionen. Man kann vor allem, wenn dieses "wozu" einmal verlorengegangen ist, es nicht einfach durch den Willen restituieren, ein Erziehungsziel von aussen aufrichten.
(S. 105f.; Hervorhebung im Original; Nachweis im Kasten)

Freilich bestimmt die bestehende Gesellschaft die Erziehung, das 'wozu' von Erziehung, wesentlich von selber (vgl. dazu weiter unten), dieses allerdings – und hierin liegt dann das Grundproblem – über die Köpfe der Menschen hinweg. Die Menschen sollen möglichst ohne Reibungsverlust in die Gesellschaft eingepasst, ans Bestehende assimiliert werden. Wenn dazu dann – wie Adorno es eben feststellte – ein Erziehungsziel von aussen aufgerichtet werden soll, dann scheint das die Reaktion darauf zu sein, dass die von selber erfolgende Assimilation der Menschen ans Bestehende eben sehr wohl grosse Reibungsverluste verursacht, man diese mit der Aufrichtung äusserer Erziehungsziele reaktionär, das heisst unter Absehung von der Problematik der Assimilierung selber, zu kompensieren versucht.

Hellmut Becker kritisiert dieses Von-aussen-Aufrichten eines Erziehungsziels und dabei die Forderung, die uns am deutlichsten in der Beschwörung neuer Leitbilder entgegentritt (S. 105). Adorno nimmt die Kritik zustimmend auf:

Adorno: Ich möchte dabei nur auf ein spezifisches Moment eingehen, das der Heteronomie im Begriff des Leitbildes, das Autoritäre, von aussen willkürlich Gesetzte. Ihm eignet etwas Usurpatorisches. Man fragt sich, woher heute irgend jemand das Recht sich nimmt, darüber zu entscheiden, wozu andere erzogen werden sollen. Dieser Denkweise sind die Bedingungen – die aus derselben Sprach- und Denk- oder Nichtdenkschicht stammen – im allgemeinen auch nicht weit. Sie stehen im Widerspruch zur Idee eines autonomen, mündigen Menschen, wie Kant sie unübertroffen formuliert in der Forderung, die Menschheit habe sich von ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit zu befreien.
Ich möchte es danach riskieren, auf einem Beine stehend, zu sagen, was ich mir zunächst unter Erziehung überhaupt vorstelle. Eben nicht sogenannte Menschenformung, weil man kein Recht hat, von aussen her Menschen zu formen; nicht aber auch blosse Wissensübermittlung, deren Totes, Dinghaftes oft genug dargetan ward, sondern die Herstellung eines richtigen Bewusstseins. Es wäre zugleich von eminenter politischer Bedeutung; seine Idee ist, wenn man so sagen darf, politisch gefordert. Das heisst: eine Demokratie, die nicht nur funktionieren, sondern ihrem Begriff gemäss arbeiten soll, verlangt mündige Menschen. Man kann sich verwirklichte Demokratie nur als Gesellschaft von Mündigen vorstellen.
(S. 107, Hervorhebung im Original)

Das Erziehungsziel, dass Adorno und Becker jenem überkommenen, von aussen aufgerichteten entgegenhalten, ist eines, demgemäss die Menschen über ihr Leben aus eigener Vernunft, als autonome, mündige Menschen bestimmen können, wie Kant diese Idee unübertroffen formuliert in der Forderung, die Menschheit habe sich von ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit zu befreien.

Hier gilt es einen Zusatzgedanken einzuflechten, der sich nicht nur für, sondern kritisch differenzierend auch gegen Kant richtet. Es handelt sich um einen Gedanken, den Adorno zusammen mit Max Horkheimer in der Dialektik zur Aufklärung zu Beginn des Teils über Juliette und Aufklärung und Moral explizit gegen Kant entwickelte. Im hier besprochenen Gespräch kommt Adorno darauf implizit dort zu sprechen, wo er sich gegen die Formulierung von Becker wendet, dergemäss eine Überwindung der Entfremdung zu vollziehen sei (vgl. S. 113).

Adorno: Dazu möchte ich einen gewissen Vorbehalt anmelden. Ich sträube mich nachgerade gegen die Inflation, die mit dem Begriff der 'Entfremdung' eingerissen ist. Die sogenannten Entfremdungsphänomene gründen in der Gesellschaftsstruktur. Der tiefste Defekt, mit dem man es heute zu tun hat, ist der, dass die Menschen eigentlich gar nicht mehr zu Erfahrung fähig sind, sondern zwischen sich und das zu Erfahrende jene stereotype Schicht dazwischenschieben, der man sich widersetzen muss.
(S. 113f.)

Und dass die Menschen eigentlich gar nicht mehr zu Erfahrung fähig sind, dazu hat Kant mit seiner idealistischen Konzeption der Vernunft die bei Kant selber allerdings auch wieder gar nicht so weit getrieben ist, wie es in der gängigen Kant-Rezeption angenommen wird –, wesentlich beigetragen (die reine Vernunft verweist bei Kant ja auf eine mögliche Vernunft a priori, das heisst auf eine Vernunft vor jeder Erfahrung). Bei Kant erfährt die von Adorno im Zusammenhang mit der Frage der Erziehung zur Mündigkeit betonte Erfahrungsfähigkeit eine prinzipielle Abwertung, ist im Kantischen Begriff der Autonomie zu wenig mitenthalten. Überspitzt polemisch könnte man sagen, dass die Kantische reine Vernunft genau die zwischen sich und das zu Erfahrende geschobene stereotype Schicht evoziert, der man sich mit Adorno – widersetzen muss.

Wenn man Erfahrungen wirklich macht, stösst man auf Fremdes als solches, auf Nichtidentisches. Dieser Gedanke wird mit der inflationären Rede von der zu überwindenden Entfremdung zu sehr verzerrt, wogegen Adorno sich wendet. Der Begriff der Entfremdung macht zu wenig klar, dass die mit ihm angesprochene Problematik gerade im versperrten Zugang zum Fremden also solchem besteht, und dass diese Sperrung in der Gesellschaftsstruktur, in der durch diese zwischen sich und das zu Erfahrende (als Fremdes zu Erfahrende) dazwischengeschobenen sterotypen Schicht gründet. Wenn mit Entfremdung aber gemeint wäre – was im Allgemeinen aber nicht der Fall ist –, dass in ihr der Zugang zum Fremden als solchem verhindert ist, könnte man dem Begriff zustimmen und würde auch Adorno ihm zustimmen.
(Vgl. zur Kritik am Entfremdungsbegriff auch Kommentar K141)

Adorno führt den Gedanken zur Erfahrungsfähigkeit an späterer Stelle im Gespräch folgendermassen aus.

Adorno: Ich glaube, das hängt sehr tief mit dem Begriff der Rationalität oder des Bewusstseins überhaupt zusammen. Man hat davon im allgemeinen einen viel zu engen Begriff, nämlich den der formalen Denkfähigkeit. Sie ist aber selber bereits eine Verengung der Intelligenz, ein Spezialfall der Intelligenz, dessen es gewiss bedarf. Das aber, was eigentlich Bewusstsein ausmacht, ist Denken in bezug auf Realität, auf Inhalt: die Beziehung zwischen den Denkformen und -strukturen des Subjekts und dem, was es nicht selber ist. Dieser tiefere Sinn von Bewusstsein oder Denkfähigkeit ist nicht einfach der formallogische Ablauf, sondern er stimmt wörtlich mit der Fähigkeit, Erfahrungen zu machen, überein. Denken und geistige Erfahrungen machen, würde ich sagen, ist ein und dasselbe. Insofern sind Erziehung zur Erfahrung und Erziehung zur Mündigkeit, so, wir versucht haben, es auszuführen, miteinander identisch.
Becker: Und vor allem ist die Erziehung zur Erfahrung identisch mit der Erziehung zur Phantasie.
(S. 116)

Demnach ist man zur Erfahrung einer Sache erst wirklich fähig, wenn jene sterotype Schicht, die von der Gesellschaft zwischen die Menschen und das zu Erfahrende dazwischengeschoben ist zum Lebens- oder Selbsterhalt notwendigerweise dazwischengeschoben ist – kritisch und auch selbstkritisch durchdrungen werden kann, man damit erst – in Entfaltung von Lebendigkeit – an die Sache selbst als einer, die mit den Denkformen und -strukturen nicht identisch ist, heranreicht. Und dazu bedarf es – wie Becker richtig hervorhebt – Phantasie.

Der Begriff der Erfahrungsfähigkeit, der für den Begriff von Mündigkeit nach Adorno und Becker unabdingbar ist, basiert auf der grundlegenden Annahme, dass für das menschliche Leben nicht nur der Lebenserhalt wesentlich ist (wofür es des formallogischen Denkens bedarf), sondern genauso die Entfaltung von Lebendigkeit (wofür es der Erfahrungsfähigkeit bedarf).
(vgl. dazu auch die Kommentare K215 und K216 zur Arbeit in Entfaltung von Lebendigkeit im Gegensatz zur Arbeit zum Selbsterhalt)

Hierin, in der Notwendigkeit von Erziehung oder Bildung als ein die Erfahrungsfähigkeit Stärkendes sind Becker und Adorno sich einig. Adorno bestätigt folgendermassen:

Adorno: Hier läge eine konkrete Aufgabe für das, was Sie Bildungsforschung nennen. Ganz schlicht gesagt: man müsste einmal studieren, was die Kinder heute, wie man so sagt, nicht mehr mitbekommen: die unsagbare Verarmung des Bilderschatzes, des Schatzes an 'imagines', ohne die sie gross werden, die Verarmung der Sprache und des gesamten Ausdrucks. Ich hatte mir genau wie Sie vorgenommen zu diskutieren, ob die Schule diese Aufgabe nicht übernehmen kann.
(S. 111)

Es sei angemerkt, dass wenn in der kritischen Theorie in anderem Zusammenhang von dem so genannten Bilderverbot die Rede ist, nur das Verbot gemeint ist, sich von einer Sache ein steoreotyp festes Bild zu machen, ohne noch einzusehen, dass die Sache mit solcher Identifizierung wesentlich ja nicht übereinstimmt, wesentlich nichtidentisch ist. Für die Fähigkeit hingegen, Nichtidentisches zu erfahren, bedarf es genau der Bilder, des Bilderschatzes, des Schatzes an 'imagines', der Phantasie.

Im Gegensatz zu Becker zeigt Adorno sich nun allerdings skeptisch, ob die geforderte Erfahrungsfähigkeit im Rahmen des Institutionellen genügend vermittelbar ist.

Adorno: Ich möchte dazu nur ganz leise anmelden, dass in dieser äusserst zarten und subtilen Schicht, die etwas mit der unwillkürlichen Erinnerung, überhaupt mit dem Moment des Unwillkürlichen zu tun hat, das Institutionelle, also: die Vergegenständlichung solcher Erfahrungsbereiche, grosse Schwierigkeiten hat. Wenn ich noch einmal vom Musikalischen reden darf: musikalische Erfahrungen in der frühen Kindheit macht man, wenn man im Schlafzimmer liegt, schlafen soll und mit weitaufgesperrten Ohren unerlaubt hört, wie im Musikzimmer eine Beethoven-Sonate für Klavier und Violine gespielt wird. Wird einem aber diese Erfahrung in einem gleichsam selber wieder geregelten Prozess beigebracht, dann erhebt sich die Frage, ob er dieselbe Tiefe der Erfahrungsschicht erreicht. Ich möchte darüber jetzt nicht spekulieren, nur wenigstens auf einen neuralgischen Punkt aufmerksam machen.
(S. 112)

Unwillkürliche Erfahrungen – gerade wie man sie in der Kindheit machen kann – sind annähernd begriffslos. Sie zeugen von genau demjenigen Bereich, den Adorno als das Nichtidentische bezeichnet. In der vorherrschenden Erziehung aber, wo alles mit Willkür, das heisst immer schon begriffen und identifiziert beigebracht wird, kann jene Erfahrungsschicht des Nichtidentischen oder Begriffslosen nur schwer überhaupt noch evoziert werden. Wenn man sich vor diesem Hintergrund den durchorganisierten Alltag vieler Kinder sowie die fehlenden Nischen fürs freie, unkontrollierte Spielen ansieht, wird einem angst und bang. In Kritik daran weist Adorno implizit auf die Notwendigkeit hin, dass im Institutionellen, Schulischen usw. unbedingt Lücken oder Nischen bestehen müssten, die Momente des Unwillkürlichen ermöglichen. Die Unwillkür des Glücks kann einem auch Auf einer Wanderung (Eduard Mörike) (vgl. Kommentar K217) oder – nach Jacques Prévert – beim Malen eines Bildes (vgl. Kommentar K220) zufallen.

Bei der Bestimmung dessen, was Mündigkeit ist, ist der bestehende immense Druck zur Anpassung zu berücksichtigen.

Adorno: Ich denke vor allem an zwei schwierige Probleme, die man nicht übersehen darf, wenn es um Mündigkeit geht.
Zunächst, dass die Einrichtung der Welt, in der wir leben, und die herrschende Ideologie – die ja heute schon kaum mehr eine bestimmte Weltanschauung oder Theorie ist –, dass also die Einrichtung der Welt selbst unmittelbar zu ihrer eigenen Ideologie geworden ist (siehe zu diesem spezifischen Problem den Kommentar K185; kw). Sie übt einen so ungeheuren Druck auf die Menschen aus, dass er alle Erziehung überwiegt. Es wäre wirklich idealistisch im ideologischen Sinn, wollte man den Begriff der Mündigkeit verfechten, ohne dass man die unermessliche Last der Verdunkelung des Bewusstseins durch das Bestehende mitaufnimmt. Beim zweiten Problem dürften sich zwischen uns sehr subtile Unterscheidungen ergeben: bei dem der Anpassung. Mündigkeit bedeutet in gewisser Weise soviel wie Bewusstmachtung, Rationalität. Rationalität ist aber immer wesentlich auch Realitätsprüfung, und diese involviert regelmässig ein Moment von Anpassung.
Erziehung wäre ohnmächtig und ideologisch, wenn sie das Anpassungsziel ignorierte und die Menschen nicht darauf vorbereitete, in der Welt sich zurechtzufinden. Sie ist aber genauso fragwürdig, wenn sie dabei stehenbleibt und nichts anderes als 'well adjusted people' produziert, wodurch sich der bestehende Zustand, und zwar gerade in seinem Schlechten, erst recht durchsetzt. Insofern liegt im Begriff der Erziehung zu Bewusstsein und Rationalität von vornherein eine Doppelschlächtigkeit. Vielleicht ist sie im Bestehenden nicht zu bewältigen; jedenfalls dürfen wir ihr nicht ausweichen.
(S. 108f.)

Die Spannung zwischen Anpassung einerseits, Widerstand gegen eben diese Anpassung andererseits – letzteres zugunsten der erwähnten Erfahrungsfähigkeit –, wäre wohl selber als ein zur Mündigkeit gehöriges Moment aufzufassen, sodass zur Mündigkeit dazu käme, noch diese Spannung selber sich bewusst machen zu können. Dieses dann allerdings impliziert im – dann ja voll bewusst gemachten – Angesicht des ungeheuren Anpassungsdrucks auf die Menschen Verzweiflung, was Adorno mit der Feststellung andeutet, dass die Doppelschlächtigkeit im Bestehenden vielleicht nicht zu bewältigen ist.

Jedenfalls aber – so Adorno – ist unter den gegebenen Bedingungen der Widerstand zu kräftigen.

Adorno: Der Stellenwert der Erziehung zur Realität dürfte historisch wechseln. Trifft aber zu, was ich vorhin angedeutet habe: dass die Realität so übermächtig geworden ist, dass sie den Menschen sich von vornherein aufzwingt, so würde wohl jener Anpassungsprozess heute eher automatisch besorgt. Erziehung durchs Elternhaus, soweit sie bewusst ist, durch die Schule, durch die Universität hätte in diesem Augenblick des allgegenwärtigen Konformismus vorweg eher die Aufgabe, Widerstand zu kräftigen, als Anpassung zu verstärken. Ich würde, wenn mich meine Beobachtung nicht täuscht, beinahe annehmen, dass bei jungen Menschen, vor allem auch bei Kindern, so etwas wie ein überwertiger Realismus – vielleicht sollte man sagen: Pseudorealismus – sich findet, der auf eine Narbe zurückdeutet. Dadurch, dass der Anpassungsprozess so masslos forciert wird von der gesamten Umwelt, in der die Menschen leben, müssen sie die Anpassung gleichsam sich selber schmerzhaft antun, den Realismus sich selbst gegenüber übertreiben und, mit Freud zu reden, sich mit dem Angreifer identifizieren. Die Kritik dieses überwertigen Realismus scheint mir eine der entscheidensten Bildungsaufgaben, die allerdings wohl in der frühen Kindheit schon würde einsetzen müssen.
(S. 110)

Der überwertige Realismus, wie Adorno ihn nennt, mündet in eine richtiggehende Bildungsfeindschaft, womit gemeint ist, dass die Menschen von selber sich dem verweigern, was sie erfahrungsfähig machen würde, und zwar ganz einfach deshalb, weil sie gelehrt werden, dass Erfahrungsfähigkeit der gesuchten überwertigen Anpassung und dem gesuchten überwertigen Realismus zuwiderlaufen.

Becker: Ich glaube, dass diese Frage der Nicht-Erfahrungsfähigkeit sehr unmittelbar mit dem gestörten Verhältnis von Theorie und Praxis zusammenhängt.
Adorno: Vielleicht darf ich dabei zunächst auf eine psychodynamische Tatsache aufmerksam machen. Alle diese Dinge dürften nicht einfach ein Fehlen von Funktionen oder von Möglichkeiten sein. Sondern sie entspringen selber in einem Antagonismus zur Sphäre des Bewusstseins. Wahrscheinlich gibt es in ungezählten Menschen heute, zumal während der Pubertät, möglicherweise schon früher, etwas wie Bildungsfeindschaft. Sie möchten das Bewusstsein und die Last der primären Erfahrung abwerfen, weil sie es ihnen nur schwerer macht, sich zurechtzufinden. In der Pubertät tritt etwa der Typus auf, der sagt – wenn ich noch einmal auf Musik rekurrieren darf –: "Die Zeit der ernsten Musik ist vorbei: die Musik unserer Zeit ist der Jazz oder der Beat." Das ist keine primäre Erfahrung, sondern das ist, wenn ich den Nietzscheanischen Ausdruck auch einmal verwenden darf, ein Ressentiment-Phänomen. Diese Menschen hassen das Differenzierte, nicht Getypte, weil sie davon ausgeschlossen sind und weil es ihnen, liessen sie sich damit ein, die "Daseinsorientierung", wie Karl Jaspers sagen würde, erschwerte. Deshalb wählen sie sozusagen gegen sich selbst, mit zusammengebissenen Zähnen das, was sie eigentlich nicht wollen. Die Herstellung der Erfahrungsfähigkeit bestünde sehr wesentlich im Bewusstmachen und damit im Abbau dieser Verdrängungsmechanismen und Reaktionsbildungen, die in den Menschen selber ihre Erfahrungsfähigkeit verkrüppeln. Es geht also nicht einfach um die Absenz von Bildung, sondern um die Feindschaft dagegen, um die Rancune gegen das, was ihnen versagt ist. Sie wäre zu durchdringen, die Menschen zu dem zu bringen, was sie alle zuinnerst möchten. Sie haben vorhin sehr richtig gesagt, dass auch ein Bedürfnis nach Aufklärung vorhanden sei, und mindestens so stark wie das nach Leitbildern. Das hängt damit sehr zusammen. Das dürfte der entscheidende Aspekt dessen sein, wovon wir im Augenblick reden.
Becker: Ja, und ich würde sagen, dass diese Erfahrungsfähigkeit eigentlich eine Voraussetzung für die Steigerung des Reflexionsniveaus ist. Ohne Erfahrungsfähigkeit gibt es kein eigentlich qualifiziertes Reflexionsniveau.
Adorno: Hier stimme ich völlig mit Ihnen überein.
(S. 114f.)