K224
Modell geglückter Begriffsbestimmung
Zu Theodor W. Adornos Theorie der Halbbildung (Teil 2 )

5. Dezember 2020

Fortsetzung von Teil 1 mit Teil 2 ...

Der Ausgangspunkt der von Theodor W. Adorno in der Theorie der Halbbildung (Nachweis siehe unten im gelben Kasten) vorgenommenen Bestimmung des Begriffs der Bildung kann mit dem nachstehenden, im 1. Teil bereits abgebildeten Schema illustriert werden. Es wäre dabei von einem Kraftfeld von Bildung zu sprechen.

Im 1. Teil des Kommentars war der Hinweis zentral, dass die Verwirklichung der philosophischen Bildungsidee auf ihrer Höhe nur augenblicksweise glückte. Adorno rekurriert damit also nicht nur auf einen traditionellen Begriff von Bildung, sondern zugleich auf einen von der entstehenden bürgerlichen Gesellschaft versäumten Begriff.

Es wäre dabei zusätzlich auf ein Moment hinzuweisen, das von Adorno nicht angesprochen wird. Wenn er bei der Bildung im engeren Sinn von der Rettung des Natürlichen im Widerstand gegen den Druck der hinfälligen, von Menschen gemachten Ordnung spricht (vgl. Adorno S. 95; auch oben im Schema), dann dürfte mit der Ordnung zu jener Zeit, wo diese philosophische Bildungsidee auf ihrer Höhe augenblicksweise glückte – das heisst um 1800 – wesentlich die feudale oder absolutistische und nicht die erst sich etablierende bürgerliche Ordnung gemeint gewesen sein. Die grossen Enttäuschungen darüber, dass es auch in der bürgerlichen Ordnung nicht gelang, das Natürliche im Widerstand gegen den Druck der hinfälligen, von Menschen gemachten – jetzt eben bürgerlichen – Ordnung zu retten, setzten erst im Verlauf des 19. Jahrhunderts ein.

Bei Adorno ist mit der hinfälligen, von Menschen gemachten Ordnung, gegen die es in Rettung des Natürlichen Widerstand zu leisten gälte, jetzt freilich die bürgerliche Ordnung selber gemeint.

Zudem steht bereits jene philosophische Bildungsidee auf ihrer Höhe für sich zur Kritik ( vgl. Adorno, S. 102). Es scheint hier ein Moment sich bemerkbar zu machen, das Adorno ebenfalls immer nur antönt. Es hat mit Adornos Begriff des Nichtidentischen selber zu tun, der über jenen Hegels (*1770) wesentlich – was Adorno nie unmittelbar klarstellte – hinausgeht. Bei Hegel – so sei hier ganz verkürzt festgestellt – ist das Nichtidentische Durchgangsstation zum absoluten Geist, bei Adorno dagegen das den Geist wesentlich Bestimmende und dadurch das, was diesen bescheiden machen müsste. Das Nichtidentische bezeugt bei Adorno im Gegensatz zu Hegel nicht den Vorrang des Geistes, sondern den Vorrang des Objekts – dieses bei aller natürlich ablaufenden Subjekt-Objekt-Dialektik. Dementsprechend wäre zu sagen, dass die philosophische Bildungsidee auf ihrer Höhe in Form der grossen spekulativen Metaphysik eines Hegel und der mit ihr bis ins Innerste verwachsenen grossen Musik eines Beethoven (vgl. Adorno, S. 94; Nachweis oben im gelben Kasten) eben gerade – was Grössen wie Hegel oder Beethoven mit der zu etablierenden neuen bürgerlichen Ordnung verbanden – den absoluten Geist in der Welt verwirklicht sehen wollten. Dieses kann bei Vorrang des Objekts und des Nichtidentischen jedoch – von Adorno immer bloss angedeutet – gar nicht gelingen, weshalb jene Metaphysik und damit verbunden jene philosophische Bildungsidee objektiv hinab mussten. Bereits der von Hegel proklamierte absolute Geist war ein entfremdeter Geist (vgl. zum Begriff des Geistes nachstehend im Zusammenhang mit der Halbbildung). Zwangsläufig wurde er von noch aufgeklärteren Formen des entfremdeten Geistes abgelöst, insbesondere dann in Form des Positivismus oder Szientismus.

Die Rettung des Natürlichen – was Bildung im Kern wäre – in einer gesellschaftlichen Ordnung zu institutionalisieren, wurde in ihrer Widersprüchlichkeit schon damals, als die philosophische Bildungsidee auf ihrer Höhe war, nicht richtig eingesehen. In der bürgerlichen Folgezeit wurde sie als Ziel umso leichter verworfen.

Daran allerdings, dass auch der von ihm verwendete traditionelle Bildungsbegriff der Kritik bedarf, lässt Adorno keinen Zweifel.

Taugt jedoch als Antithese zur sozialisierten Halbbildung kein anderer als der traditionelle Bildungsbegriff, der selber zur Kritik steht, so drückt das die Not einer Situation aus, die über kein besseres Kriterium verfügt als jenes fragwürdige, weil sie ihre Möglichkeit versäumte. Weder wird die Restitution des Vergangenen gewünscht, noch die Kritik daran im mindesten gemildert. Nichts widerfährt heute dem objektiven Geist, was nicht in ihm selbst in hochliberalen Zeiten schon gesteckt hätte oder was nicht wenigstens alte Schuld eintriebe. Aber was jetzt im Bereich von Bildung sich zuträgt, lässt nirgends anders sich ablesen als an deren wie immer auch ideologischer älterer Gestalt. Denn potentiell haben die versteinerten Verhältnisse abgeschnitten, womit der Geist über die herkömmliche Bildung hinausginge. Mass des neuen Schlechten ist einzig das Frühere. Es zeigt in dem Augenblick, da es verurteilt ist, gegenüber der jüngeren Form des Bestürzenden, als Verschwindendes versöhnende Farbe. Allein um ihretwillen, keiner laudatio temporis acti zuliebe, wird auf traditionelle Bildung rekurriert.
(Adorno, S. 102f.; Nachweis oben im gelben Kasten)

Und die Kritik hätte – von Adorno nicht ausgeführt – dahin zu gehen, dass die mit Bildung einhergehende Rettung des Natürlichen oder eben Nichtidentischen einen unhintergehbaren Widerspruch zu jeglicher gesellschaftlichen Ordnung bildet, was bedeutet, dass eine wirklich fortschrittliche gesellschaftliche Ordnung die Reflexion auf den unhintergehbaren Widerspruch in sich aufzunehmen hätte. Für diese – im Allgemeinen freilich unerhörte – Reflexion tritt Adorno mit seiner Theorie der Halbbildung auch genau ein.

Das mit dem obigen Schema angezeigte Kraftfeld von Bildung wurde im Zuge der Etablierung und Integration der bürgerlichen Gesellschaft nicht nur nicht verwirklicht, sondern mehr noch – und zwar gerade hinsichtlich des von ihm angezeigten, von allem Anfang an nicht ausgehaltenen Widerspruchs – dem Verfall preisgegeben. Wie dieser Verfall vonstatten ging, wie es zum Verfall von Bildung (Adorno, S. 93; Nachweis oben im gelben Kasten) kam, darauf soll hier jetzt eingegangen werden.

In allgemeinen Termini kann der Verfall von Bildung so beschrieben werden, dass die verschiedenen, sich widersprechenden Momente, die das Kraftfeld von Bildung prägen und es dadurch überhaupt erst zu einem solchen machen – es wäre von einer gegenseitigen Belebung von Sache (wie Bildung im engeren Sinne) und Sachfremdem (wie Gesellschaft) zu sprechen –, voneinander isoliert und dadurch erst – scheinbar paradox – aneinander amalgamiert wurden. Die sich integriende bürgerliche Gesellschaft erzwang – was auch der für ihre oberflächliche Integration zu entrichtende Preis darstellt – die Isolierung der das Kraftfeld prägenden Momente voneinander, dadurch deren Amalgamierung aneinander. Das Kraftfeld musste erstarren, um die oberflächliche gesellschaftliche Integration der bürgerlichen Gesellschaft bewirken zu können.

Erstarrt das Kraftfeld, das Bildung hiess, zu fixierten Kategorien, sei es Geist oder Natur, Souveränität oder Anpassung, so gerät jede einzelne dieser isolierten Kategorien in Widerspruch zu dem von ihr Gemeinten und gibt sich her zur Ideologie, befördert die Rückbildung.
(Adorno, S. 96; Nachweis oben im gelben Kasten; vgl. die vier erwähnten Kategorien Souveränität, Anpassung, Geist und Natur im obigen Schema)

Mit der Integration der bürgerlichen Gesellschaft ist das Kraftfeld der Bildung auf beiden im obigen Schema unterschiedenen Ebenen zu fixierten Kategorien erstarrt, das heisst einerseits auf der Ebene der Bildung im engeren Sinne (Erstarrung des Geistes sowie des Bezugs zum Natürlichen), andererseits auf der Ebene der Bildung im weiteren Sinne, der Gesellschaft (Erstarrung der Anpassung der Menschen aneinander sowie des Bezugs zum Animalischen).

Auf der Ebene der Bildung im engeren Sinne ist der Geist, welcher im Widerstand gegen den Druck der hinfälligen, von Menschen gemachten Ordnung die Rettung des Natürlichen – das Nichtidentische oder auch die unbeherrschte Natur – zu gewährleisten hätte, gegenüber seiner Aufgabe erstarrt. Der Geist zog sich vom realen Leben, von der realen Rettung der Sachen als natürliche zurück, entfremdete sich von diesen als solchen, wurde selbstgenügsam, vulgär-idealistisch. Der Geist der Menschen wurde zum entfremdeten Geist (Adorno, S. 93; Nachweis oben im gelben Kasten).

Nach deutschem Sprachgebrauch gilt für Kultur, in immer schrofferem Gegensatz zur Praxis, einzig Geisteskultur. Darin spiegelt sich, daß die volle Emanzipation des Bürgertums nicht gelang oder erst zu einem Zeitpunkt, da die bürgerliche Gesellschaft nicht länger der Menschheit sich gleichsetzen konnte. Das Scheitern der revolutionären Bewegungen, die in den westlichen Ländern den Kulturbegriff als Freiheit verwirklichen wollten, hat die Ideen jener Bewegungen gleichsam auf sich selbst zurückgeworfen und den Zusammenhang zwischen ihnen und ihrer Verwirklichung nicht nur verdunkelt, sondern mit einem Tabu belegt. Kultur wurde selbstgenügsam, schließlich in der Sprache der ausgelaugten Philosophie zum »Wert«. Wohl sind ihrer Autarkie die große spekulative Metaphysik und die mit ihr bis ins Innerste verwachsene große Musik zu danken. Zugleich aber ist in solcher Vergeistigung von Kultur deren Ohnmacht virtuell bereits bestätigt, das reale Leben der Menschen blind bestehenden, blind sich bewegenden Verhältnissen überantwortet. Dagegen ist Kultur nicht indifferent. Wenn Max Frisch bemerkte, daß Menschen, die zuweilen mit Passion und Verständnis an den sogenannten Kulturgütern partizipierten, unangefochten der Mordpraxis des Nationalsozialismus sich verschreiben konnten, so ist das nicht nur ein Index fortschreitend gespaltenen Bewußtseins, sondern straft objektiv den Gehalt jener Kulturgüter, Humanität und alles, was ihr innewohnt, Lügen, wofern sie nichts sind als Kulturgüter.
(Adorno, S. 94; Nachweis oben im gelben Kasten)

Der Geist ist zu einem Moment einer Geisteskultur erstarrt, worin Kultur nur ein Gut, ein 'Wert' für sich ist, jenseits dessen, was im realen Leben sich abspielt. Er nimmt auf das reale Leben nur zum täuschenden und auch selbsttäuschenden Schein Bezug, tut im selben immer so, als müsste er gar nicht mehr richtig hinschauen, wisse es sowieso schon immer. Es ...

... kennt Halbbildung, als entfremdetes Bewusstsein, wiederum kein unmittelbares Verhältnis zu irgend etwas, sondern ist stets fixiert an die Vorstellungen, welche sie an die Sache heranbringt. Ihre Haltung ist die des taking something for granted; ihr Tonfall bekundet unablässig ein "Wie, das wissen Sie nicht?", zumal bei den wildesten Konjekturen. Kritisches Bewusstsein ist verkrüppelt zum trüben Hang, hinter die Kulissen zu sehen: Riesman hat das am Typus des inside dopesters (bestens informierter Insider; kw) beschrieben.
(Adorno, S. 118; Nachweis oben im gelben Kasten)

Der entfremdete oder eben erstarrte Geist lässt das Natürliche oder Nichtidentische im Stich, will von ihm – als einem Fremden, einem Nicht-Ich – gar nichts wissen. Für ihn ist alles nur noch Naturbeherrschung. In der Folge kann er die in einem von ihm gesehenen oder gehörten Werk zum Ausdruck gebrachte Rettung des Natürlichen gar nicht mehr sehen, gar nicht mehr hören, gar nicht mehr verstehen. Er redet sich klar zu sehen ein, sieht genau dadurch nichts, redet sich klar zu hören ein, hört gerade dadurch nichts, redet sich klar zu verstehen ein, versteht gerade dadurch nichts. Und in jenen Fällen, wo ihm ein Werk schwer verständlich oder gar unverständlich erscheint, macht er dieses ohne Umscheife dem Werk zum Vorwurf. (Der hier Schreibende hat noch kaum eine Veranstaltung über Adornos Werk erlebt, worin gegen dieses nicht der Vorwurf des schwer oder nicht Verständlichen erhoben worden wäre. Und wenn man dem entgegen dann zeigt, dass der Vorwurf sich leicht entkräften lässt, hören die den Vorwurf Erhebenden bereits gar nicht mehr hin. Sie wollen und können der Realität – was den entfremdeten Geist und mit diesem die Halbbildung kennzeichnet – nicht mehr ins Auge blicken.)

Adorno weist auf eine doppelte Problematik hin.

Fraglos ist in der Idee der Bildung notwendig die eines Zustands der Menschheit ohne Status und Übervorteilung postuliert, und sobald sie davon etwas sich abmarkten lässt und sich in die Praxis der als gesellschaftlich nützliche Arbeit honorierten partikularen Zwecke verstrickt, frevelt sie an sich selbst. Aber sie wird nicht minder schuldig durch ihre Reinheit; diese zur Ideologie. Soweit in der Bildungsidee zweckhafte Momente mitklingen, sollten sie ihr zufolge allenfalls die Einzelnen dazu befähigen, in einer vernünftigen Gesellschaft als vernünftige, in einer freien Gesellschaft als freie sich zu bewähren, und eben das soll, nach liberalistischem Modell, dann am besten gelingen, wenn jeder für sich selber gebildet ist. Je weniger die gesellschaftlichen Verhältnisse, zumal die ökonomischen Differenzen dies Versprechen einlösen, um so strenger wird der Gedanke an die Zweckbeziehung von Bildung verpönt. Nicht darf an die Wunde gerührt werden, dass Bildung allein die vernünftige Gesellschaft nicht garantiert. Man verbeisst sich in die von Anbeginn trügende Hoffnung, jene könne von sich aus den Menschen geben, was die Realität ihnen versagt. Der Traum der Bildung, Freiheit vom Diktat der Mittel, der sturen und kargen Nützlichkeit, wird verfälscht zur Apologie der Welt, die nach jenem Diktat eingerichtet ist. Im Bildungsideal, das die Kultur absolut setzt, schlägt die Fragwürdigkeit von Kultur durch.
(Adorno, S. 97f.; Nachweis oben im gelben Kasten)

Ginge es in der Bildung um die Rettung des Natürlichen als Nichtidentischem – was in ihrer ganzen Schwierigkeit auch von den zeitgenössischen Vertretern der philosophischen Bildungsidee auf ihrer Höhe nicht eingesehen wurde – , könnte und müsste sie sich als rein gar nicht betrachten. Zugleich würde sie auch nicht von der Praxis der als gesellschaftlich nützliche Arbeit honorierten partikularen Zwecke etwas sich abmarkten lassen, da klar wäre, dass sie ihr Ziel nur im Widerstand gegen den Druck der hinfälligen, von Menschen gemachten Ordnung erreichen kann.

Auf der Ebene der Gesellschaft (Bildung im weiteren Sinne) ist die Anpassung, welche in Bändigung des animalischen Menschen die Anpassung der Menschen aneinander zu gewährleisten hätte, gegenüber ihrer Aufgabe erstarrt. Anpassung der Menschen aneinander ist Selbstzweck, losgelöst von der in der Bildungsidee wesentlichen Frage, inwiefern und ob der gesellschaftliche Bestandserhalt von der Möglichkeit des animalisch werdenden Menschen gefährdet ist, inwiefern und ob es dementsprechend der Anpassung der Menschen aneinander bedarf. Anpassung wird allherrschend und das Natürliche als das Nichtidentische zum generellen animalischen Feind erklärt.

Umgekehrt hat Kultur, wo sie als Gestaltung des realen Lebens sich verstand, einseitig das Moment der Anpassung hervorgehoben, die Menschen dazu verhalten, sich aneinander abzuschleifen. Dessen bedurfte es, um den fortdauernd prekären Zusammenhang der Vergesellschaftung zu stärken und jene Ausbrüche ins Chaotische einzudämmen, die offenbar gerade dort periodisch sich ereignen, wo eine Tradition autonomer Geisteskultur etabliert ist. (...) Ist jene Spannung (siehe einleitendes Schema; kw) einmal zergangen, so wird Anpassung allherrschend, ihr Maß das je Vorfindliche. Sie verbietet, aus individueller Bestimmung (d.h. im Widerstand gegen den Druck der hinfälligen, von Menschen gemachten Ordnung; kw) übers Vorfindliche, Positive sich zu erheben. (...)
Die ganz angepasste Gesellschaft ist, woran ihr Begriff geistesgeschichtlich mahnt: bloße darwinistische Naturgeschichte. Sie prämiiert das survival of the fittest.
(Adorno, S. 95f.; Nachweis oben im gelben Kasten)

Versteht man unter dem von Bildung zu rettenden Natürlichen das Nichtidentische oder auch unbeherrschte Natur, dann ist mitzubedenken, dass dieses Natürliche nicht nur Lebendigkeit Ermöglichendes, sondern auch Animalisches, Todbringendes in sich birgt. Die Bändigung des Animalischen gehört zur Herstellung von Gesellschaft, zu deren Erhalt und überhaupt dem Erhalt der Menschheit notwendig dazu, und dieses setzt eine gewisse Anpassung der Menschen aneinander voraus. Damit hat zu tun, dass Bildung allein die vernünftige Gesellschaft nicht garantiert (vgl. vorletztes Zitat). Das heisst nun freilich nicht, dass das notwendige Moment der Anpassung der Menschen aneinander zum Selbstzweck des Ganzen erklärt, zur Rechtfertigung der ganz angepassten Gesellschaft genommen werden dürfte. Dazu aber kam es im Zuge der Etablierung der bürgerlichen Gesellschaft. Statt sich auf die Bändigung des Animalischen zu beschränken, kassierte sie das die Lebendigkeit der Menschen und der Welt erst ermöglichende Natürliche gleich mit ein. Widerstand gegen den Druck der hinfälligen, von Menschen gemachten Ordnung in Rettung des Natürlichen darf es auch in bürgerlicher Ordnung nicht geben, sondern immer bloss Anpassung an sie. Die ganz angepasste Gesellschaft will damit nichts weniger als Selbsterhalt ohne Selbst (vgl. Adorno, S. 115; Nachweis oben im gelben Kasten), Selbsterhalt ohne das, was ein Selbst überhaupt erst ermöglicht: die vom Natürlichen herrührende Lebendigkeit.

Die zum Selbstzweck gewordene Anpassung meint Anpassung an die bestehende Macht, wie gesagt unabhängig davon, ob es darin um die Bändigung des Animalischen geht oder – was die Regel ist – gar nicht geht. Der positive, auf die Bändigung des Animalischen konzentrierte Begriff der Souveränität – auch historisch in der Regel anders aufgefasst – ist in der bürgerlichen Gesellschaft abgelöst durch den allgemeinen Begriff der Macht. Das Vorfindliche, Positive übt die Macht über die Menschen aus, an die diese sich blind anzupassen haben. Entsprechend geht in der bürgerlichen Gesellschaft auch denjenigen Menschen, die die Macht auf ihrer Seite haben, jegliche Souveränität im besagt positiven Sinne ab, sind auch sie zu Lakaien des Vorfindlichen geworden.

Anpassung aber kommt, in der nun einmal existenten, blind fortwesenden Gesellschaft, über diese nicht hinaus. Die Gestaltung der Verhältnisse stösst auf die Grenze von Macht; noch im Willen, sie menschenwürdig einzurichten, überlebt Macht als das Prinzip, welches die Versöhnung verwehrt. Dadurch wird Anpassung zurückgestaut: sie wird ebenso zum Fetisch wie der Geist: zum Vorrang der universal organisierten Mittel über jeden vernünftigen Zweck, zur Glätte begriffsloser Pseudorationalität; sie errichtet ein Glashaus, das sich als Freiheit verkennt, und solches falsche Bewußtsein amalgamiert sich dem ebenso falschen, aufgeblähten des Geistes von sich selber.
(Adorno, S. 96f.; Nachweis oben im gelben Kasten)

Kultur wurde im Zuge der Integration der bürgerlichen Gesellschaft – als Bildung im engeren Sinn einerseits – zur Geisteskultur des entfremdeten Geistes (vgl. oben), sowie – als Bildung im weiteren Sinn andererseits (Gesellschaft) – zur geistlosen Kultur blinder Anpassung ans Vorfindliche. Indem beides – gemäss dem von Adorno verwendeten Ausdruck – sich amalgamierte, ist jene in der philosophischen Bildungsidee auf ihrer Höhe enthaltene Spannung zwischen Bildung und Gesellschaft zergangen. Dieses auch ist gemeint mit Integration der bürgerlichen Gesellschaft, auf die im nächsten Teil des Kommentars (3. Teil) näher eingegangen wird

In der etablierten bürgerlichen Gesellschaft steht somit dasjenige, was von Bildung noch übrig blieb, Halbbildung eben – im Gegensatz zur philosophischen Bildungsidee auf ihrer Höhe –, gar nicht mehr in Spannung oder im Widerspruch zur hinfälligen, von Menschen gemachten Ordnung. Sie will ein Natürliches gar nicht retten, kann dieses als solches entweder gar nicht mehr wahrnehmen oder identifiziert es reflexartig als abzuwehrende animalische Natur.

Damit geht es der Bildung selbst, trotz aller Förderung, an den Lebensnerv. Vielerorten steht sie, als unpraktische Umständlichkeit und eitle Widerspenstigkeit, dem Fortkommen bereits im Wege: wer noch weiß, was ein Gedicht ist, wird schwerlich eine gutbezahlte Stellung als Texter finden. Die unablässig weiter anwachsende Differenz zwischen gesellschaftlicher Macht und Ohnmacht verweigert den Ohnmächtigen – tendenziell bereits auch den Mächtigen – die realen Voraussetzungen zur Autonomie, die der Bildungsbegriff ideologisch konserviert.
(Adorno, S. 101; Nachweis oben im gelben Kasten)

Wirkliche Autonomie nämlich hätte mit der Rettung des Natürlichen im Widerstand gegen den Druck der hinfälligen, von Menschen gemachten Ordnung unmittelbar zu tun.

In dem hier mit Adorno nachgezeichneten Prozess des Verfalls von Bildung nehmen die Begriffe selber Schaden, wird Bildung zur Halbbildung, wird Anpassung zum Abschleifen der Menschen aneinander, wird Souveränität zur Allmacht des Vorfindlichen, Positiven, wird Natürliches zum zu bekämpfenden Animalischen, wird Geist zum entfremdeten Geist.

Wenn in diesen Kommentaren mit Bezug auf Adornos Theorie der Halbbildung von einem Modell geglückter Begriffsbestimmung gesprochen wird, dann sind damit wesentlich diese Begriffsverschiebungen gemeint, die in die Begriffsbestimmung kritisch reflektierend hineingenommen sind. Es wird in den Begriff die geschichtliche Entwicklung hineingenommen, die dafür sorgte, dass der Begriff die Sachen als solche nicht mehr erreicht.

Kritische Begriffsarbeit dient der Bergung, wenn nicht gar Rettung des von den Begriffen Gemeinten, jedoch nicht Erreichten.