K225
Modell geglückter Begriffsbestimmung
Zu Theodor W. Adornos Theorie der Halbbildung (Teil 3)

19. Dezember 2020

Fortsetzung von Teil 2 mit Teil 3 ...

Mit der Etablierung der bürgerlichen Gesellschaft wird eine bestimmte Kultur und mit ihr verbunden eine bestimmte Form von Bildung, nämlich Halbbildung sozialisiert. Auf die eine Seite hin ist die Kultur in eine Geisteskultur verwandelt, ist das Bewusstsein von einem Geist durchdrungen, der ans reale Leben nicht mehr heranreicht, einem entfremdeten Geist. Auf die andere Seite hin bedeutet Kultur dort, wo sie das reale Leben berührt, einzig noch Anpassung ans Vorfindliche. Beide Seiten von KulturBildung hier und Gesellschaft dort – sind zu einem erstarrten Ganzen amalgamiert, kennen keine gegenseitige Spannung oder gar Widerspruch mehr, sind total integriert. In ihr fällt es den Menschen überhaupt nicht schwer, sich beispielsweise am Abend den Besuch der alten Dame von Friedrich Dürrenmatt anzusehen und am nächsten Morgen im Auftrag der Firma das nächste korrupte Geschäft einzufädeln. Theater ist Theater; Geschäft ist Geschäft.

Sozialisierte Halbbildung 'verhilft' den Menschen zu einem falschen Bewusstsein sowohl von der Gesellschaft, mit der sie sich identisch fühlen (durch das Geschäft), als auch vom eigenen Selbst, das sie für autonom gegenüber dem realen Leben halten (durch das besuchte Theater). Es macht sich dabei eine eigenartige Verkehrung geltend.

In der blinden Anpassung ans gesellschaftlich Vorfindliche (durchs Geschäft) setzt der Einzelne sich eine Charaktermaske auf und spielt seine Rolle ganz so, wie es gesellschaftlich gefordert ist. Wir alle spielen Theater (Erving Goffman). Es geht dann gar so weit, dass der Einzelne seine gelingende Identifizierung mit der von ihm erwarteten Rolle als Merkmal von Persönlichkeit deutet. Er bemerkt nicht, dass ihm sein Ich oder sein Selbst durch sein Rollenspiel, durch sein blosses Einhalten von Konventionen abhanden kommt, dass er – wie Adorno es ausdrückt – Selbsterhaltung ohne Selbst betreibt (Adorno, S. 115; Nachweis im gelben Kasten).

Und am Abend sitzt der Einzelne im Theater, wo ja wirklich Rollen gespielt werden, ohne zu bemerken, dass das vorgeführte Rollenspiel dazu da wäre, über die reale Welt aufzuklären, im wahrsten Sinn zu bilden. Der halbgebildete Zuschauer konfrontiert das vorgeführte Schauspiel gar nicht mehr mit dem realen Leben, sondern achtet nur darauf, wie gut die Schauspielerinnen und Schauspieler ihre Rollen verkörpern, das heisst wie gut sie das machen, was er im realen Leben als das Wesentliche und ihm angeblich Persönlichkeit Verleihende macht. Dass die Schauspielerinnen und Schauspieler ihr Rollenspiel mit einem Zweck verbinden, nämlich eben, über das reale Leben kritisch aufzuklären, dementsprechend sehr genau zwischen sich und ihrer Rolle, die sie nach dem gefallenen Vorhang ja auch sofort ablegen, unterscheiden können, bemerkt er gar nicht. Er sitzt im Theater, ohne dessen ureigenen Zweck noch zu erkennen, will sich nur unterhalten, unter keinen Umständen sich bilden.

Das halbgebildete bürgerliche Bewusstsein erschöpft sich nicht in seiner Phänomenologie, sondern erfüllt zugleich die Funktion der integrierenden Abwehr des ihm äusserlich Bleibenden, des vom und im realen Leben verdrängten Lebendigen.

Die Phänomenologie des bürgerlichen Bewusstseins allein reicht indessen zur Erklärung des neuen Zustands nicht aus. Konträr zur Vorstellung der bürgerlichen Gesellschaft von sich selbst war das Proletariat zu Beginn des Hochkapitalismus gesellschaftlich exterritorial, Objekt der Produktionsverhältnisse, Subjekt nur als Produzent. Die frühen Proletarier waren depossedierte Kleinbürger, Handwerker und Bauern, sowieso jenseits der bürgerlichen Bildung beheimatet. Der Druck der Lebensbedingungen, die unmäßig lange Arbeitszeit, der erbärmliche Lohn in den Dezennien, die im "Kapital" und in der "Lage der arbeitenden Klassen in England" behandelt sind, haben sie zunächst weiter draussen gehalten. Während aber am ökonomischen Grund der Verhältnisse, dem Antagonismus wirtschaftlicher Macht und Ohnmacht, und damit an der objektiv gesetzten Grenze von Bildung nichts Entscheidendes sich änderte, wandelte die Ideologie sich um so gründlicher. Sie verschleiert die Spaltung weithin auch denen, welche die Last zu tragen haben. Sie sind während der letzten hundert Jahre vom Netz des Systems übersponnen worden. Der soziologische Terminus dafür lautet: Integration. Subjektiv, dem Bewusstsein nach, werden, wie längst in Amerika, die sozialen Grenzen immer mehr verflüssigt. Die Massen werden durch zahllose Kanäle mit Bildungsgütern beliefert. Diese helfen als neutralisierte, versteinerte die bei der Stange zu halten, für die nichts zu hoch und teuer sei. Das gelingt, indem die Gehalte von Bildung, über den Marktmechanismus, dem Bewusstsein derer angepasst werden, die vom Bildungsprivileg ausgesperrt waren und die zu verändern erst Bildung wäre. Der Prozess ist objektiv determiniert, nicht erst mala fide veranstaltet. Denn die gesellschaftliche Struktur und ihre Dynamik verhindert, dass die Kulturgüter lebendig, dass sie von den Neophyten so zugeeignet werden, wie es in ihrem eigenen Begriff liegt.
(Adorno, S. 100; Nachweis im gelben Kasten)

Mit der objektiv gesetzten Grenze von Bildung sind die gesellschaftlichen respektive ökonomischen Bedingungen gemeint, die es den Menschen verwehren, lebendig frei zu den Sachen, zu den anderen Menschen und zu sich selbst sich zu verhalten. Dabei ist diese Grenze von Bildung in den Dezennien, die im "Kapital" und in der "Lage der arbeitenden Klassen in England" – den Werken von Karl Marx und Friedrich Engels – behandelt sind, noch offen und also auch subjektiv sicht- und spürbar. Die zur Macht gekommenen Bürger hatten Bildung, die für sie arbeitenden Proletarier hatten keine Bildung.

Dieses änderte sich ab dem beginnenden 20. Jahrhundert. Die Massen werden durch zahllose Kanäle mit Bildungsgütern beliefert. Die Erfindungen von Kino, Radio, später Fernsehen und zum Ende des Jahrhunderts des Internets bilden technisch die Voraussetzungen dafür. Zugleich wird den Proletariern mehr und mehr an Konsum ermöglicht, können sie sich unter vielem anderen auch ein Auto (zuerst: Ford Modell T; Volkswagen) leisten. Und auch die Wohnqualität wird verbessert, mit fliessend Wasser, Strom usw. Aus den Proletariern werden Arbeiter und Angestellte. Sie werden als Kleinbürger in die bürgerliche Gesellschaft integriert.

Die für Adorno entscheidende Frage lautet, ob es mit diesem Prozess, in welchem die ausserhalb des Bürgerlichen stehenden Proletarier in Radio hörende, Fernsehen schauende, Auto fahrende Arbeiter und Angestellte respektive Kleinbürger integriert wurden, zugleich gelang, jene objektiv gesetzte Grenze von Bildung, die es den Menschen verwehrt, lebendig frei zu den Sachen, zu den anderen Menschen und zu sich selbst sich zu verhalten, zu überwinden. Adorno verneint die Frage, mehr noch, er gelangt in seiner Theorie der Halbbildung zur Feststellung, dass die Grenze objektiv erst recht verfestigt wurde, und zwar genau durch die ganze, eben beschriebene Integration hindurch.

Die Belieferung der Massen durch zahllose Kanäle mit Bildungsgütern lässt es subjektiv nur so erscheinen, als wäre den Menschen der die Bildung charakterisierende lebendig freie Zugang zu den Sachen, zu den anderen Menschen und zu sich selbst eröffnet. In Wirklichkeit und also objektiv handelt es sich bei dem durch die Bildungsgüter vermittelten Geist um jenen oben beschriebenen, die Halbbildung charakterisierenden entfremdeten Geist, der an das reale Leben genau nicht heranreicht, wofern darin – was zu den Bildungsgütern immer auch gehört – nicht an die blinde Anpassung ans gesellschaftlich Vorfindliche appelliert wird. Die Integration der Proletarier zu Kleinbürgerinnen und Kleinbürgern ist zum Preis ihrer Sozialisierung in halbgebildete Menschen gelungen, was meint, dass sie einen lebendig freien Zugang zu den Sachen, zu den anderen Menschen und zu sich selbst genau nicht gewannen, und zwar eben nicht nur nicht gewannen, sondern erst recht – gewissermassen durch ihre ganze Person hindurch, bis in die feinsten psychischen Regungen hinein – verloren. Die Belieferung der Massen durch zahllose Kanäle mit Bildungsgütern bewirkt, dass ihnen der lebendig freie Zugang zu den Sachen, zu den anderen Menschen und zu sich selbst mit Halbverstandenem und Halberfahrenem verstopft wird. Es hat unmittelbar damit zu tun, dass die Menschen und die Sachen nur noch als Bildungsgüter, nur noch als Ware mit einem bestimmten Tauschwert, das heisst als warenhaft Verdinglichtes in Erscheinung treten können. Der Halbgebildete sieht alles sofort immer in warenhaft verdinglichter Perspektive, und glaubt dann gar noch, diese Perspektive sei die einzig mögliche, insofern das Ganze, und verwechselt dieses dann gar mit dem in ihr nicht mehr zu erfahrenden Lebendigen. Der Halbgebildete ist zu Erfahrungen von Lebendigem nicht mehr fähig.

Im Klima der Halbbildung überdauern die warenhaft verdinglichten Sachgehalte von Bildung auf Kosten ihres Wahrheitsgehalts und ihrer lebendigen Beziehung zu lebendigen Subjekten. Das etwa entspräche ihrer Definition.
(Adorno, S. 103; Nachweis im gelben Kasten)

Die allgemeine Steigerung des Lebensstandards und damit zusammenhängend der Fortschritt der Technik haben anstatt Bildung Halbbildung gefördert, nur den Schein vermittelt, dass die durch zahllose Kanäle mit Bildungsgütern Belieferten integriert wären. Indem sie dadurch der Möglichkeit zur lebendigen Beziehung zu lebendigen Subjekten genau enteignet wurden, wurden sie objektiv und entgegen dem gesellschaftlichen Schein umso sicherer desintegriert.

Selbst der manifeste Fortschritt, die allgemeine Steigerung des Lebensstandards mit der Entfaltung der materiellen Produktivkräfte, schlägt den geistigen nicht durchaus zum Segen an. Die Disproportionen, die daraus resultieren, dass der Überbau langsamer sich umwälzt als der Unterbau, haben zum Rückschritt des Bewusstseins sich gesteigert. Halbbildung siedelt parasitär im cultural lag sich an. Daß Technik und höherer Lebensstandard ohne weiteres der Bildung dadurch zugute komme, dass alle von Kulturellem erreicht werden, ist pseudodemokratische Verkäuferideologie – "Music goes into mass production" –, und sie wird es darum nicht weniger, weil man den, der an ihr zweifelt, snobistisch schilt. Sie ist widerlegbar von der empirischen Sozialforschung. So hat in Amerika Edward Suchmann in einer ingeniösen Studie dargetan, daß von zwei Vergleichsgruppen, die sogenannte ernste Musik hörten und von denen die eine diese Musik durch lebendige Aufführungen, die andere nur vom Radio her kannte, die Radiogruppe flacher und verständnisloser reagierte als die erste. Wie für die Radiogruppe die ernste Musik virtuell in Unterhaltungsmusik sich verwandelte, so frieren allgemein die geistigen Gebilde, welche die Menschen mit jener Plötzlichkeit anspringen, die Kierkegaard dem Dämonischen gleichsetzte, zu Kulturgütern ein. Ihre Rezeption gehorcht nicht immanenten Kriterien, sondern einzig dem, was der Kunde davon zu haben glaubt. Zugleich aber wächst mit dem Lebensstandard der Bildungsanspruch als Wunsch, zu einer Oberschicht gerechnet zu werden, von der man ohnehin subjektiv weniger stets sich unterscheidet. Als Antwort darauf werden immense Schichten ermutigt, Bildung zu prätendieren, die sie nicht haben. Was früher einmal dem Protzen und dem nouveau riche vorbehalten war, ist Volksgeist geworden. Ein grosser Sektor der kulturindustriellen Produktion lebt davon und erzeugt selbst wiederum das halbgebildete Bedürfnis; die Romanbiographien, die über Bildungstatsachen berichten und gleichzeitig billige und nichtige Identifikationen bewirken; der Ausverkauf ganzer Wissenschaften wie der Archäologie oder Bakteriologie, der sie in grobe Reizmittel verfälscht und dem Leser einredet, er sei au courant. Die Dummheit, mit welcher der Kulturmarkt rechnet, wird durch diesen reproduziert und verstärkt. Frisch-fröhliche Verbreitung von Bildung unter den herrschenden Bedingungen ist unmittelbar eins mit ihrer Vernichtung.
(Adorno, S. 109f.; Nachweis im gelben Kasten)

Das heisst freilich nicht, dass es nicht auch möglich wäre, an einem am Radio statt im Konzert gehörten Musikstück oder an einem im Taschenbuch statt im gebundenen Buch gelesenen Roman (zur Frage des Taschenbuchs vgl. Adorno, S. 111f.) sich wirklich zu bilden, doch fällt es in der Grundtendenz schwerer, weil man beim Zweiteren rascher in Versuchung gerät, doch nicht recht hinzuhören, doch nicht recht zu lesen.

Adorno weist selber darauf hin, dass er sich mit solchen Überlegungen des Verdachts des Reaktionären aussetze (vgl. Adorno, S. 111; Nachweis im gelben Kasten). Die Überlegungen sind aber nicht reaktionär. Es ist umgekehrt. Indem Halbbildung den Menschen den lebendig freien Zugang zu den Sachen, zu den anderen Menschen und zu sich selbst fortwährend verwehrt, verlieren sie jegliches Einfühlungsvermögen und tendieren in der Folge selber zum Reaktionären. Dieser Zusammenhang von sozialisierter Halbbildung und Reaktion freilich will nicht eingesehen sein, was selber ein Kennzeichen von Halbbildung ist. Und wenn die Reaktion erneut zugeschlagen hat, will von jenem Zusammenhang auch niemand mehr etwas wissen. Dann allerdings ist es auch zu spät.

Das Halbverstandene und Halberfahrene ist nicht die Vorstufe der Bildung sondern ihr Todfeind: Bildungselemente, die ins Bewusstsein geraten, ohne in dessen Kontinuität eingeschmolzen zu werden, verwandeln sich in böse Giftstoffe, tendenziell in Aberglauben, selbst wenn sie an sich den Aberglauben kritisieren (...). Unassimilierte Bildungselemente verstärken jene Verdinglichung des Bewusstseins, vor der Bildung bewahren soll.
(Adorno, S. 111f.; Nachweis im gelben Kasten)

Das würde dann gar bedeuten, dass die ohne bürgerliche Bildung ausgestatteten frühen Proletarier – in der Grundtendenz und nur in dieser – hinsichtlich Bildung besser dastanden als die auf sie folgenden Kleinbürger, und zwar trotz der für letztere markant verbesserten Lebensbedingungen und trotzdem, dass letztere lesen und schreiben können.

Die gegenwärtig in Wahrheit wirksamen Leitbilder sind das Konglomerat der ideologischen Vorstellungen, die in den Subjekten sich zwischen diese und die Realität schieben und die Realität filtern. Sie sind affektiv derart besetzt, dass sie nicht ohne weiteres von der ratio weggeräumt werden können. Halbbildung fasst sie zusammen. Unbildung, als blosse Naivetät, blosses Nichtwissen, gestattete ein unmittelbares Verhältnis zu den Objekten und konnte zum kritischen Bewusstsein gesteigert werden kraft ihres Potentials von Skepsis, Witz und Ironie – Eigenschaften, die im nicht ganz Domestizierten gedeihen. Der Halbbildung will das nicht glücken.
(Adorno, S. 104f.; Nachweis im gelben Kasten)

Bei den Eigenschaften, die im nicht ganz Domestizierten gedeihen, kommen einem die von Cervantes gezeichneten Figuren des Don Quixote und des Sancho Pansa in den Sinn.

Nicht obwohl, sondern weil die Halbgebildeten stereotypisierend-gescheiter als die Ungebildeten sind, ist ihnen Unbildung, als blosse Naivetät, blosses Nichtwissen verwehrt, ist ihnen ein unmittelbares Verhältnis zu den Objekten nicht gestattet, besitzen sie nicht die Naivetät, die kraft ihres Potentials von Skepsis, Witz und Ironie zum kritischen Bewusstsein gesteigert werden kann. Unbildung steht Bildung näher als Halbbildung.

Hiermit endet die Trilogie zu Adornos Theorie der Halbbildung.