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Modell geglückter Begriffsbestimmung
Zu Theodor W. Adornos Theorie der Halbbildung (Teil 3) 19. Dezember 2020 |
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Fortsetzung von Teil 2 mit Teil 3 ... Mit der Etablierung der bürgerlichen Gesellschaft wird eine bestimmte Kultur und mit ihr verbunden eine bestimmte Form von Bildung, nämlich Halbbildung sozialisiert. Auf die eine Seite hin ist die Kultur in eine Geisteskultur verwandelt, ist das Bewusstsein von einem Geist durchdrungen, der ans reale Leben nicht mehr heranreicht, einem entfremdeten Geist. Auf die andere Seite hin bedeutet Kultur dort, wo sie das reale Leben berührt, einzig noch Anpassung ans Vorfindliche. Beide Seiten von Kultur – Bildung hier und Gesellschaft dort – sind zu einem erstarrten Ganzen amalgamiert, kennen keine gegenseitige Spannung oder gar Widerspruch mehr, sind total integriert. In ihr fällt es den Menschen überhaupt nicht schwer, sich beispielsweise am Abend den Besuch der alten Dame von Friedrich Dürrenmatt anzusehen und am nächsten Morgen im Auftrag der Firma das nächste korrupte Geschäft einzufädeln. Theater ist Theater; Geschäft ist Geschäft. |
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Sozialisierte Halbbildung 'verhilft' den Menschen zu einem falschen Bewusstsein sowohl von der Gesellschaft, mit der sie sich identisch fühlen (durch das Geschäft), als auch vom eigenen Selbst, das sie für autonom gegenüber dem realen Leben halten (durch das besuchte Theater). Es macht sich dabei eine eigenartige Verkehrung geltend. In der blinden Anpassung ans gesellschaftlich Vorfindliche (durchs Geschäft) setzt der Einzelne sich eine Charaktermaske auf und spielt seine Rolle ganz so, wie es gesellschaftlich gefordert ist. Wir alle spielen Theater (Erving Goffman). Es geht dann gar so weit, dass der Einzelne seine gelingende Identifizierung mit der von ihm erwarteten Rolle als Merkmal von Persönlichkeit deutet. Er bemerkt nicht, dass ihm sein Ich oder sein Selbst durch sein Rollenspiel, durch sein blosses Einhalten von Konventionen abhanden kommt, dass er – wie Adorno es ausdrückt – Selbsterhaltung ohne Selbst betreibt (Adorno, S. 115; Nachweis im gelben Kasten). Und am Abend sitzt der Einzelne im Theater, wo ja wirklich Rollen gespielt werden, ohne zu bemerken, dass das vorgeführte Rollenspiel dazu da wäre, über die reale Welt aufzuklären, im wahrsten Sinn zu bilden. Der halbgebildete Zuschauer konfrontiert das vorgeführte Schauspiel gar nicht mehr mit dem realen Leben, sondern achtet nur darauf, wie gut die Schauspielerinnen und Schauspieler ihre Rollen verkörpern, das heisst wie gut sie das machen, was er im realen Leben als das Wesentliche und ihm angeblich Persönlichkeit Verleihende macht. Dass die Schauspielerinnen und Schauspieler ihr Rollenspiel mit einem Zweck verbinden, nämlich eben, über das reale Leben kritisch aufzuklären, dementsprechend sehr genau zwischen sich und ihrer Rolle, die sie nach dem gefallenen Vorhang ja auch sofort ablegen, unterscheiden können, bemerkt er gar nicht. Er sitzt im Theater, ohne dessen ureigenen Zweck noch zu erkennen, will sich nur unterhalten, unter keinen Umständen sich bilden. |
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Theodor W. Adorno (1959) Theorie der Halbbildung In: Ders.: Soziologische Schriften I. Gesammelte Schriften, Herausgegeben von Rolf Tiedemann unter Mitwirkung von Gretel Adorno, Susan Buck-Morss und Klaus Schultz, Band 8, |
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Das halbgebildete bürgerliche Bewusstsein erschöpft sich nicht in seiner Phänomenologie, sondern erfüllt zugleich die Funktion der integrierenden Abwehr des ihm äusserlich Bleibenden, des vom und im realen Leben verdrängten Lebendigen.
Mit der objektiv gesetzten Grenze von Bildung sind die gesellschaftlichen respektive ökonomischen Bedingungen gemeint, die es den Menschen verwehren, lebendig frei zu den Sachen, zu den anderen Menschen und zu sich selbst sich zu verhalten. Dabei ist diese Grenze von Bildung in den Dezennien, die im "Kapital" und in der "Lage der arbeitenden Klassen in England" – den Werken von Karl Marx und Friedrich Engels – behandelt sind, noch offen und also auch subjektiv sicht- und spürbar. Die zur Macht gekommenen Bürger hatten Bildung, die für sie arbeitenden Proletarier hatten keine Bildung. Dieses änderte sich ab dem beginnenden 20. Jahrhundert. Die Massen werden durch zahllose Kanäle mit Bildungsgütern beliefert. Die Erfindungen von Kino, Radio, später Fernsehen und zum Ende des Jahrhunderts des Internets bilden technisch die Voraussetzungen dafür. Zugleich wird den Proletariern mehr und mehr an Konsum ermöglicht, können sie sich unter vielem anderen auch ein Auto (zuerst: Ford Modell T; Volkswagen) leisten. Und auch die Wohnqualität wird verbessert, mit fliessend Wasser, Strom usw. Aus den Proletariern werden Arbeiter und Angestellte. Sie werden als Kleinbürger in die bürgerliche Gesellschaft integriert. Die für Adorno entscheidende Frage lautet, ob es mit diesem Prozess, in welchem die ausserhalb des Bürgerlichen stehenden Proletarier in Radio hörende, Fernsehen schauende, Auto fahrende Arbeiter und Angestellte respektive Kleinbürger integriert wurden, zugleich gelang, jene objektiv gesetzte Grenze von Bildung, die es den Menschen verwehrt, lebendig frei zu den Sachen, zu den anderen Menschen und zu sich selbst sich zu verhalten, zu überwinden. Adorno verneint die Frage, mehr noch, er gelangt in seiner Theorie der Halbbildung zur Feststellung, dass die Grenze objektiv erst recht verfestigt wurde, und zwar genau durch die ganze, eben beschriebene Integration hindurch. Die Belieferung der Massen durch zahllose Kanäle mit Bildungsgütern lässt es subjektiv nur so erscheinen, als wäre den Menschen der die Bildung charakterisierende lebendig freie Zugang zu den Sachen, zu den anderen Menschen und zu sich selbst eröffnet. In Wirklichkeit und also objektiv handelt es sich bei dem durch die Bildungsgüter vermittelten Geist um jenen oben beschriebenen, die Halbbildung charakterisierenden entfremdeten Geist, der an das reale Leben genau nicht heranreicht, wofern darin – was zu den Bildungsgütern immer auch gehört – nicht an die blinde Anpassung ans gesellschaftlich Vorfindliche appelliert wird. Die Integration der Proletarier zu Kleinbürgerinnen und Kleinbürgern ist zum Preis ihrer Sozialisierung in halbgebildete Menschen gelungen, was meint, dass sie einen lebendig freien Zugang zu den Sachen, zu den anderen Menschen und zu sich selbst genau nicht gewannen, und zwar eben nicht nur nicht gewannen, sondern erst recht – gewissermassen durch ihre ganze Person hindurch, bis in die feinsten psychischen Regungen hinein – verloren. Die Belieferung der Massen durch zahllose Kanäle mit Bildungsgütern bewirkt, dass ihnen der lebendig freie Zugang zu den Sachen, zu den anderen Menschen und zu sich selbst mit Halbverstandenem und Halberfahrenem verstopft wird. Es hat unmittelbar damit zu tun, dass die Menschen und die Sachen nur noch als Bildungsgüter, nur noch als Ware mit einem bestimmten Tauschwert, das heisst als warenhaft Verdinglichtes in Erscheinung treten können. Der Halbgebildete sieht alles sofort immer in warenhaft verdinglichter Perspektive, und glaubt dann gar noch, diese Perspektive sei die einzig mögliche, insofern das Ganze, und verwechselt dieses dann gar mit dem in ihr nicht mehr zu erfahrenden Lebendigen. Der Halbgebildete ist zu Erfahrungen von Lebendigem nicht mehr fähig.
Die allgemeine Steigerung des Lebensstandards und damit zusammenhängend der Fortschritt der Technik haben anstatt Bildung Halbbildung gefördert, nur den Schein vermittelt, dass die durch zahllose Kanäle mit Bildungsgütern Belieferten integriert wären. Indem sie dadurch der Möglichkeit zur lebendigen Beziehung zu lebendigen Subjekten genau enteignet wurden, wurden sie objektiv und entgegen dem gesellschaftlichen Schein umso sicherer desintegriert.
Das heisst freilich nicht, dass es nicht auch möglich wäre, an einem am Radio statt im Konzert gehörten Musikstück oder an einem im Taschenbuch statt im gebundenen Buch gelesenen Roman (zur Frage des Taschenbuchs vgl. Adorno, S. 111f.) sich wirklich zu bilden, doch fällt es in der Grundtendenz schwerer, weil man beim Zweiteren rascher in Versuchung gerät, doch nicht recht hinzuhören, doch nicht recht zu lesen. Adorno weist selber darauf hin, dass er sich mit solchen Überlegungen des Verdachts des Reaktionären aussetze (vgl. Adorno, S. 111; Nachweis im gelben Kasten). Die Überlegungen sind aber nicht reaktionär. Es ist umgekehrt. Indem Halbbildung den Menschen den lebendig freien Zugang zu den Sachen, zu den anderen Menschen und zu sich selbst fortwährend verwehrt, verlieren sie jegliches Einfühlungsvermögen und tendieren in der Folge selber zum Reaktionären. Dieser Zusammenhang von sozialisierter Halbbildung und Reaktion freilich will nicht eingesehen sein, was selber ein Kennzeichen von Halbbildung ist. Und wenn die Reaktion erneut zugeschlagen hat, will von jenem Zusammenhang auch niemand mehr etwas wissen. Dann allerdings ist es auch zu spät.
Das würde dann gar bedeuten, dass die ohne bürgerliche Bildung ausgestatteten frühen Proletarier – in der Grundtendenz und nur in dieser – hinsichtlich Bildung besser dastanden als die auf sie folgenden Kleinbürger, und zwar trotz der für letztere markant verbesserten Lebensbedingungen und trotzdem, dass letztere lesen und schreiben können.
Bei den Eigenschaften, die im nicht ganz Domestizierten gedeihen, kommen einem die von Cervantes gezeichneten Figuren des Don Quixote und des Sancho Pansa in den Sinn. Nicht obwohl, sondern weil die Halbgebildeten stereotypisierend-gescheiter als die Ungebildeten sind, ist ihnen Unbildung, als blosse Naivetät, blosses Nichtwissen verwehrt, ist ihnen ein unmittelbares Verhältnis zu den Objekten nicht gestattet, besitzen sie nicht die Naivetät, die kraft ihres Potentials von Skepsis, Witz und Ironie zum kritischen Bewusstsein gesteigert werden kann. Unbildung steht Bildung näher als Halbbildung.
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