K233 |
Kritik der (theoriefeindlichen) Scheinpraxis
17. April 2021 |
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Für die hier zu führende Kritik theoriefeindlicher Scheinpraxis wird an Adornos Aufsatz Marginalien zu Theorie und Praxis (Nachweis im Kasten) angeschlossen und mit eigenen Überlegungen ergänzt. Vorweg seien einige Aussagen von Adorno zur Scheinpraxis zitiert: |
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Wohl liesse sich fragen, ob nicht bis heute alle naturbeherrschende Praxis in ihrer Indifferenz gegens Objekt Scheinpraxis sei. Ihren Scheincharakter erbt sie fort auch an all die Aktionen, die den alten gewalttätigen Gestus von Praxis ungebrochen übernehmen. Wo Erfahrung versperrt oder überhaupt nicht mehr ist, wird Praxis beschädigt und deshalb ersehnt, verzerrt, verzweifelt überbewertet. Verzweiflung, die, weil sie die Auswege versperrt findet, blindlings sich hineinstürzt, verbindet noch bei reinstem Willen sich dem Unheil. Pseudo-Aktivität, Praxis, die sich umso wichtiger nimmt und um so emsiger gegen Theorie und Erkenntnis abdichtet, je mehr sie den Kontakt mit dem Objekt und den Sinn für Proportionen verliert, ist Produkt der objektiven gesellschaftlichen Bedingungen. Sie wahrhaft ist angepasst: an die Situation des huis clos. Die Substitution der Zwecke durch Mittel ersetzt die Eigenschaften in den Menschen selbst. Verinnerlichung wäre das falsche Wort dafür, weil jener Mechanismus feste Subjektivität gar nicht mehr sich bilden lässt; Instrumentalisierung usurpiert deren Stelle. Die am heftigsten protestieren, gleichen den autoritätsgebundenen Charakteren in der Abwehr von Introspektion; wo sie sich mit sich beschäftigen, geschieht es kritiklos, richtet sich ungebrochen, aggressiv nach aussen. Die eigene Relevanz überschätzen sie narzisstisch, ohne zureichenden Sinn für Proportionen. Vernebelt aber Praxis durchs Opiat der Kollektivität die eigene aktuelle Unmöglichkeit, so wird sie Ideologie ihrerseits. Dafür gibt es ein untrügliches Anzeichen: das automatische Einschnappen der Frage nach dem Was tun, die auf jeglichen kritischen Gedanken antwortet, ehe er nur recht ausgesprochen, geschweige denn mit vollzogen ist. Nirgendwo ist der Obskurantismus jüngster Theoriefeindschaft so flagrant. Sie erinnert an den Gestus des den Pass Abverlangens. Unausdrücklich, doch desto mächtiger ist das Gebot: du musst unterschreiben. Der Einzelne soll sich ans Kollektiv zedieren; zum Lohn dafür, dass er in den melting pot springt, wird ihm die Gnadenwahl der Zugehörigkeit verheissen. Schwache, Verängstigte fühlen sich stark, wenn sie rennend sich an den Händen halten. |
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Theodor W. Adorno Marginalien zu Theorie und Praxis In: Ders.: Kulturkritik und Gesellschaft II. Eingriffe. Stichworte. Gesammelte Schriften. Herausgegeben von Rolf Tiedemann unter Mitwirkung von Gretel Adorno, Susan Buck-Morss und Klaus Schultz. Band 10.2. 1Der Text blieb zu Lebzeiten von Adorno unveröffentlicht, wurde von Adorno vermutlich 1969, in dessen Todesjahr, geschrieben. |
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Scheinpraxis darf nicht mit Nicht-Praxis gleichgesetzt werden. Scheinpraxis ist Praxis insofern, als in ihr Mittel tatsächlich bedient, Produktionsmittel und Arbeitskraft eingesetzt, Waren hergestellt werden usw., doch wird die Praxis zur Scheinpraxis dadurch, dass der durch sie erreichte Zweck auf den Begriff, der in der Praxis selber drinsteckt, nicht gebracht ist, sondern der Vernunft zuwider läuft, wider die Menschen wirkt. Gerade das, was in unserer Gesellschaft am allermeisten als richtige Praxis angesehen wird – zuvorderst die Praxis der Lohnarbeit –, entpuppt am ehesten sich als Scheinpraxis. Die sie Leistenden werden durch sie ihrer Lebendigkeit beraubt. Das Kriterium, ob es sich um Scheinpraxis oder um auf eine auf ihren Begriff gebrachte Praxis handelt, ergibt sich aus der Beantwortung der Frage, ob die durch die Praxis bedienten Mittel auf fix vorgegebene und nicht zu hinterfragende Zwecke hin bezogen sind, oder ob die Zwecke vermittels kritischer Reflexion (Theorie) darauf, ob sie den beteiligten Individuen und der bearbeiteten Sache entsprechen, in Frage gestellt werden können. Nur schon dort, wo die kritische Reflexion (Theorie) nicht mehr einsetzen darf, ist von Scheinpraxis zu sprechen, und mag der verabsolutierte Zweck die Mittel noch so heiligen. Der Zweck, den die Menschen in der Gesellschaft sich üblicherweise blind voraussetzen und auf den sie – so die Kritik – nicht reflektieren und auch nicht reflektieren dürfen, ist – abstrakt gesagt – der Zweck des Selbsterhalts der Menschen und damit verbunden der Gesellschaft. Auf ihn, der für sich durchaus notwendig ist, wird eindimensional – jegliche kritische Reflexion ausschliessend – fokussiert (vgl. Kommentar K231). Im Kapitalismus ist dieser Zweck aufs Engste verflochten mit dem des Profits – nach Karl Marx der Schaffung von Mehrwert (Surplus) –, der seinerseits auf der Ausbeutung der Arbeitskraft beruht, die nun eben – da den Selbsterhalt noch der Ausgebeuteten mehr oder weniger sichernd – als nicht hinterfragbar angesehen wird. Ausbeutung ist freilich nicht nur eine ökonomische Frage, das heisst eine Frage des Selbsterhalts, sondern auch derjenigen, ob durch den Selbsterhalt hindurch zugleich ein lebendiges Leben möglich ist. Das bedeutet, dass auch eine Kritik an der Ausbeutung – wofern diese Kritik sich nur auf die Verbesserung des Selbsterhalts bezieht – im Eindimensionalen verbleibt und entsprechend genauso einer Scheinpraxis huldigt. Diese Problematik scheint auch von Karl Marx – zusammen mit Friedrich Engels zu sehr nur auf die Kritik der Verelendung konzentriert – unterschätzt worden zu sein. Adorno bringt sie allgemein in der Theorie der Halbbildung mit der Formulierung auf den Punkt, dass Selbsterhaltung ohne Selbst betrieben werde. Wenn in einer Gesellschaft dem Kriterium der frei lebendigen Entfaltung des Selbst Bedeutung zugemessen würde, dann müsste mit Bezug auf die ganze gesellschaftliche Organisation des Selbsterhalts und der dabei einverlangten Praxis die kritische Frage immer dazu genommen werden, ob dieses Kriterium im Gleichen erfüllt ist. Es müsste zur kritischen Reflexion (Theorie) auf den Selbsterhalt kommen, durch welche die Praxis dann, wenn sie sich als eine nur auf den Selbsterhalt beschränkte, das Selbst selber aber unterdrückende erweist, als Scheinpraxis kritisiert würde. Damit würde die Grundproblematik der eindimensionalen Fokussierung auf den Selbsterhalt, die Indifferenz gegens Objekt (Adorno; vgl. oben beim gelben Kasten, erstes Zitat) aufgehoben. Das Objekt bliebe nicht länger bloss Objekt, das heisst bloss ein Lohnarbeit Verrichtendes, bloss ein Waren Konsumierendes oder bloss ein in Ware verwandelter Rohstoff, sondern würde auch zum Subjekt (zum Selbst), zu einem seine Bedürftigkeit wider den Zweck des Selbsterhalts anzeigen Könnendes. Wenn Es – psychoanalytisch gesprochen – nun aber weggedrückt, das heisst die seiner Rettung dienenden kritische Reflexion blockiert wird, dann herrscht Scheinpraxis und mit ihr Theoriefeindlichkeit vor. Scheinpraxis ist theoriefeindlich. Zum Verhältnis von Theorie und Praxis sei angemerkt, dass es sich immer um ein wechselseitiges handelt, also nicht das eine gegen das andere priorisiert werden kann. Ginge die Theorie der Praxis immer voraus – wie es gerade von kritischen Stimmen immer wieder proklamiert wird –, könnte eine für das Selbst der Menschen sich als drückend erweisende Praxis, wofern sie nur der angeblich richtigen Theorie genügt, gar nie mehr korrigiert werden. Hierin steckt nicht zuletzt der Grundirrtum vieler die Revolution Proklamierender, die in Wahrheit am Individuum, am Selbst und seiner Entfaltung so wenig interessiert sind wie diejenigen, gegen welche die Revolution sich richtet. In Entsprechung zur Scheinpraxis wäre bei ihnen dann von Scheinrevolutionären zu sprechen, die den berühmten Satz, wonach die Revolution ihre Kinder fresse, wahr machen. Die eindimensionale Fokussierung auf den Selbsterhalt führt dazu, dass die bedienten Mittel, die den Selbsterhalt sicher zu stellen haben, sich gegenüber den Menschen verselbständigen und diese dadurch – durch die Scheinpraxis eben – selber zu blossen Mitteln oder blossen Objekten gemacht werden. Dass die freie Entfaltung der Menschen als Individuen, als Subjekte genauso Zweck zu sein hätte, wird gesellschaftlich unterdrückt. In den oben zitierten Marginalien zu Theorie und Praxis zeigt Adorno die Problematik an der Soziologie Max Webers auf (Adorno, op.cit., S. 774ff.). Max Weber hatte seine Soziologie auf den Grundsatz gegründet, dass dieselbige sich mit der Bestimmung der gesellschaftlichen Zwecke nicht befassen dürfe, da eine solche Zweckbestimmung Werturteile voraussetze, Werturteile in der Soziologie aber nichts zu suchen hätten. Dementsprechend ist es Weber in seiner Soziologie nur darum gegangen, die Rationalität der Mittel hinsichtlich Erreichung vorgegebener und nicht weiter zu untersuchender oder gar zu kritisierender Zwecke zu bestimmen. Max Weber plädierte damit in erzbürgerlicher Weise dafür, dass die Soziologie die Zweckbestimmung ganz den ausserwissenschaftlichen gesellschaftlichen Kräften zu überlassen – nicht lange nach Webers Tod 1920 zeigte sich in Deutschland, wozu es führen kann – und sich nur um die (scheinpraktische) Rationalität der Mittel in Erfüllung der gesellschaftlich vorgegebenen Zwecke zu kümmern habe. Damit hat er selber mit seiner Soziologie der Verselbständigung der Mittel im Dienste der gesellschaftlich sakrosankten Zwecke das Wort geredet, derjenigen Verselbständigung notabene, die er selber zugleich mit Ausdrücken wie dem stahlharten Gehäuse des Kapitalismus bitterlich beklagte, ohne dass er daraus die Konsequenzen für seine Theorie gezogen hätte. Überspitzt gesagt amputierte Max Weber genau diejenige Theorie aus der Soziologie, die die – auf die Rationalität der Mittel zur Erfüllung vorgegebener Zwecke eindimensional fokussierte – Scheinpraxis hätte kritisieren können. Insofern ist sie theoriefeindlich oder auch spekulationsfeindlich, nähert sich jedenfalls sehr einer bürgerlichen Verwaltungswissenschaft an. Daher dürfte auch der Eindruck herrühren, den viele Professorinnen und Professoren der Soziologie noch heute erwecken, nämlich, dass sie als blosse VerwalterInnen eines fix vorgegebenen Wissens fungieren. Mit den ganzen neoliberalen Bildungsreformen rund um Bologna geht es jedenfalls bestens zusammen. Zur Scheinpraxis tendiert, wer nicht einzusehen vermag, dass zwischen Individuum und Gesellschaft nicht nur eine – für den Selbsterhalt durchaus notwendige – Übereinstimmung gegeben sein muss, sondern zugleich immer auch – hinsichtlich Entfaltung des Selbst – Widerspruch. Die Gesellschaft müsste diesen – von den sich um Entfaltung sich bemühenden Individuen kommenden – Widerspruch gegen sich selber aushalten lernen, das heisst die kritische Reflexion auf die für sich durchaus auch, aber eben immer nur auch notwendige Organisierung des Selbsterhalts zulassen, in den eigenen Institutionen und Organisationen wider diese. Es ist nicht so, dass die Gesellschaften keiner Verwaltung, keiner Organisation, keiner staatlichen Verfassung bedürften. Sie bedürfen ihrer zum Selbsterhalt der Menschen sehr wohl; alles andere käme dem berühmten – reaktionären – Ausschütten des Kindes mit dem Bad gleich. Sie bedürfen im Gleichen der sie von der Sache und den Individuen her als solche durchdringenden, aufhebenden Kritik, der Kritik an sich selbst, zugunsten eines freien, autonomen, lebendigen Selbst. Erst diese Differenzierung bereitet den Weg in eine freie Gesellschaft, verwandelte die bloss formale in eine inhaltliche Demokratie. Dieser differenzierende Weg ist alles andere als einfach. Wäre er einfach, würde er längst schon beschritten. |
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