K103 | Serienproduktion, Ticketmentalität, Antisemitismus Aus den "Elementen des Antisemitismus" von Horkheimer und Adorno (1) 18. Oktober 2014 |
||||
In verschiedenen Regionen der Welt sind barbarische Feldzüge von nationalistischen Gruppierungen im Gang, die in vielerlei Hinsicht den Feldzügen der deutschen Nationalsozialisten unter Hitler (1933 bis 1945) gleichen. Selbstredend bestehen je nach historischer und regionaler Lage sowie der inhaltlichen Ideologie und Zusammensetzung der verschiedenen Bewegungen Unterschiede. Ein grosser Vorzug der hier thematisierten von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno erarbeiteten Elementen des Antisemitismus (vgl. Nachweis im Kasten) besteht darin, einsichtig zu machen, dass die spätbürgerlich-kapitalistisch verfassten Gesellschaften die Barbarei in sich selber tragen: Antisemitische Bewegungen sind nicht irgendwelche Irrläufer gegen die Moderne, sondern selber ein Produkt der Moderne. Und diese Moderne macht weltweit sich geltend. Vorweg ist auf den Begriff des Antisemitismus näher einzugehen. Zu Beginn ihrer Erörterung des VII. Elements des Antisemitismus (das im Jahr 1947 nachträglich zugefügt wurde) formulieren Horkheimer und Adorno den für die Zeit auf den ersten Blick höchst eigenartigen Satz: Aber es gibt keine Antisemiten mehr. (Horkheimer/Adorno 1947: 209) Mit den Antisemiten ist ein am Ende des 19. Jahrhunderts noch häufig anzutreffender Charaktertyp gemeint, der nicht mehr aus einer altkonservativen, sondern aus einer mehr bürgerlichen Position heraus gegen die Juden pöbelt und prügelt. Der Antisemit erklärt die Juden zum Sündenbock für sein eigenes schlechtes Fortkommen im Konkurrenzkampf, reagiert so in eigener Weise darauf, dass er im liberalistischen Konkurrenzkampf, den er als solchen durchaus akzeptiert, nicht zu reüssieren vermag. Für den Antisemiten ist der Antisemitismus noch ein konkurrierendes Motiv in subjektiver Wahl (Horkheimer/Adorno 1947: 210). Der Antisemit rebelliert vielleicht auch gegen die Gewerkschaften, gegen die Sozialisten oder die neue Kunst, doch macht er noch nicht alles automatisch gleichzeitig, ist vielleicht sogar noch Gewerkschafter oder Arbeitervertreter. Das änderte sich im Übergang zum 20. Jahrhundert und der Herausbildung des faschistischen Antisemitismus. Hier dann ist der Judenhass zwar mehr denn je zentraler ideologischer Kernpunkt, neu aber ein solcher, der mit anderen ideologischen Kernpunkten zum vornherein fest verknüpft war. Antisemitismus ist kaum mehr eine selbständige Regung (wie noch beim bürgerlichen Antisemiten, kw), sondern eine Planke der Plattform: wer irgend dem Faschismus die Chance gibt, suskribiert mit der Zerschlagung der Gewerkschaften und dem Kreuzzug gegen den Bolschewismus automatisch auch die Erledigung der Juden. Die wie sehr auch verlogene Überzeugung des Antisemiten ist in die vorentschiedenen Reflexe der subjektlosen Exponenten ihrer Standorte übergegangen. Wenn die Massen das reaktionäre Ticket annehmen, das den Punkt gegen die Juden enthält, gehorchen sie sozialen Mechanismen, bei denen die Erfahrungen mit Juden keine Rolle mehr spielen. (ebda) Und das macht die Sache deswegen erst recht barbarisch, weil die Massen die Identifizierung der Juden mit dem absolut Bösen zusammen mit dem faschistischen Ticket unbesehen übernehmen, ohne über die Lage der Juden überhaupt nur einen Moment noch nachzudenken und ohne überhaupt einen noch kennen zu müssen. Dementsprechend: Es gibt keine Antisemiten mehr. |
|||||
Horkheimer und Adorno stellen diesen Wechsel in einen Zusammenhang mit den neu entwickelten Produktionsmethoden, der Fliessband- oder Serienproduktion: In der Welt als Serienproduktion ersetzt deren Schema, Stereotypie, die kategoriale Arbeit. Das Urteil beruht nicht mehr auf dem wirklichen Vollzug der Synthesis, sondern auf blinder Subsumtion. (...) In der spätindustriellen Gesellschaft wird auf den urteilslosen Vollzug des Urteils regrediert. Als im Faschismus die beschleunigte Prozedur das umständliche Gerichtsverfahren im Strafprozess ablöste, waren die Zeitgenossen ökonomisch darauf vorbereitet; sie hatten gelernt, besinnungslos die Dinge durch die Denkmodelle hindurch zu sehen, durch die termini technici, welche beim Zerfall der Sprache jeweils die eiserne Ration ausmachen. Der Wahrnehmende ist im Prozess der Wahrnehmung nicht mehr gegenwärtig. Er bringt die tätige Passivität des Erkennens nicht mehr auf, in der die kategorialen Elemente vom konventionell vorgeformten "Gegebenen" und dieses von jenen neu, angemessen sich gestalten lassen, so dass dem wahrgenommenen Gegenstand sein Recht wird. (...) Das ist das Geheimnis der Verdummung, die dem Antisemitismus zugute kommt. (...) Die Spielmarke wird aufgeklebt: jeder zu Freund oder Feind. Der Mangel an Rücksicht aufs Subjekt macht es der Verwaltung leicht. Man versetzt Volksgruppen in andere Breiten, schickt Individuen mit dem Stempel Jude in die Gaskammer." (Horkheimer/Adorno 1947: 211f.) Die von Grosskonzernen vorangetriebene Serienproduktion, die ihrerseits vermittels der Kriegsproduktion immer wieder beschleunigt wird, signalisiert ein grundsätzliches Abstumpfen des Denkens. Vereinfacht gesagt wird von den Menschen - mal abgesehen von der rein umsetzenden instrumentellen Vernunft - nur noch abverlangt, zwischen schwarz und weiss, zwischen Produkt und Ausschuss, zwischen von oben erwartet und nicht erwartet, zwischen Freund und Feind trennen zu können. Das Urteil ist das von Standpunkten und welches Paket mit welchen Standpunkten, welches Ticket man zu vertreten hat, sagen einem die Grosskonzerne, die politischen Parteien, die Verwaltung. |
|||||
Max Horkheimer / Theodor W. Adorno
Dialektik der Aufklärung Fr.a.M.: S. Fischer (1969) 1986. darin der Abschnitt: Der Abschnitt 'Elemente des Antisemitismus" ist unterteilt in die Abschnitte I bis VII. In der Vorrede zum Buch wird bei diesen Abschnitten auch von Thesen gesprochen, dort nämlich, wo einerseits angemerkt wird, dass Leo Löwenthal an der Niederschrift der ersten drei "Thesen" mitarbeitete, wo andererseits zur Buchausgabe 1947 festgehalten wird, dass einzig die letzte "These" der 'Elemente des Antisemitismus' nachträglich hinzugefügt wurde (vgl. Dialektik der Aufklärung, S. 7). |
|||||
Diese Entwicklung bedeutet, dass das Individuum selber als Besonderes mit einem eigenen Denken oder überhaupt einem Denken überflüssig gemacht wurde und wird. Die Gleichgültigkeit gegens Individuum, die in der Logik sich ausdrückt, zieht die Folgerung aus dem Wirtschaftsprozess. Es (das Individuum, kw) wurde zum Hemmnis der Produktion. Die Ungleichzeitigkeit in der menschlichen und technischen Entwicklung, das 'cultural lag', über das sich die Soziologen aufhielten, beginnt zu verschwinden. Ökonomische Rationalität, das gepriesene Prinzip des kleinsten Mittels formt unablässig noch die letzten Einheiten der Wirtschaft um: den Betrieb wie den Menschen. Die je fortgeschrittenere Form wird zur vorherrschenden. Einmal enteignete das Warenhaus das Spezialgeschäft alten Stils. Der merkantilistischen Regulierung entwachsen, hatte dieses Initiative, Disposition, Organisation in sich hineingenommen und war, wie die alte Mühle und Schmiede, zur kleinen Fabrik, selbst zur freien Unternehmung geworden. In ihm ging es umständlich, kostspielig, mit Risiken zu. Daher setzte dann Konkurrenz die leistungsfähigere zentralisierte Form des Detailsgeschäfts durch, eben das Warenhaus. Dem psychologischen Kleinbetrieb, dem Individuum ergeht es nicht anders. (...) Was der Einzelne jeweils tun soll, braucht er sich nicht erst mehr in einer schmerzhaften inneren Dialektik von Gewissen, Selbsterhaltung und Trieben abzuringen. Für den Menschen als Erwerbstätigen wird durch die Hierarchie der Verbände bis hinauf zur nationalen Verwaltung entschieden, in der Privatsphäre durchs Schema der Massenkultur, das noch die letzten inwendigen Regungen ihrer Zwangskonsumenten in Beschlag nimmt. (Horkheimer/Adorno 1947: 212f.) Bereits Horkheimer und Adorno bemerkten, wie sehr der das selber denkende Individuum überflüssig machende Wirtschaftsprozess sich der ganzen Welt bemächtigte: Als dichtes Gewebe neuzeitlicher Kommunikation ist die Welt so einheitlich geworden, dass die Unterschiede der Diplomatenfrühstücke in Dumbarton Oaks und Persien als nationales Timbre erst ausgesonnen werden müssen und die nationale Eigenart vornehmlich an den nach Reis hungernden Millionen erfahren wird, die durch die Maschen gefallen sind. (ebda, 214) Heute gilt das natürlich erst recht, was sich übrigens in vielerlei Forschungen derart widerspiegelt, dass darin die durch die Maschen Gefallenen schon gar nicht mehr vorkommen dürfen. Selbstverständlich und entgegen dem immer wieder verwendeten Schlagwort des "Postfordismus" ist die Serienproduktion noch heute, und zwar mehr denn je dominierend. Sie wurde dank der digitalen Revolution ganz einfach aufs Höchste beschleunigt, flexibilisiert respektive - um dieses missverständliche Wort hier zu verwenden - individualisiert. Das Auto bleibt noch dann ein seriell hergestelltes, wenn es in unterschiedlichen Farben und Formen und mit unterschiedlichen Accessoires ausgeliefert wird. Die so genannte Individualisierung täuscht darüber hinweg, was das Auto als solches aus den es Konsumierenden macht, wie "individuell" es auf diese auch immer zugeschnitten ist. Sie werden dazu erzogen zu glauben, dass alles von der Wahl des richtigen Tickets abhänge, beim Auto, beim Smartphone usw., nicht merkend, dass das Ticket selber das Problem ist, indem es sie vom selbständigen Denken abzieht. Nicht zufällig kann von Markt- oder Trendforschern immer wieder problemlos aufgezeigt werden, dass sich die Bevölkerung hinsichtlich Konsum auf vergleichsweise wenige Typen oder eben Ticket-Kombinationen reduzieren lässt. Dass die Menschen derart leicht auf solche Konsum-Kombinationen und auch auf andere zumeist damit korrelierende Kombinationen (beruflich, politisch, kulturell) sich reduzieren und aufteilen lassen, ist - neben der Tatsache, dass die Betroffenen vor lauter Individualisierungsglauben es überhaupt nicht merken - das eigentlich Erschreckende. Von Individuen ist in Wahrheit gar nicht mehr viel; sie sind im "big data" schon aufgegangen, bevor die kommerzielle Jagd auf sie überhaupt richtig begonnen hat: Leichte Beute. Die Verdinglichung, kraft deren die einzig durch die Passivität der Massen ermöglichte Machtstruktur diesen selbst als eiserne Wirklichkeit entgegentritt, ist so dicht geworden, dass jede Spontaneität, ja die blosse Vorstellung vom wahren Sachverhalt notwendig zur verstiegenen Utopie, zum abwegigen Sektierertum geworden ist. Der Schein hat sich so konzentriert, dass ihn zu durchschauen objektiv den Charakter der Halluzination gewinnt. Ein Ticket wählen dagegen heisst die Anpassung an den zur Wirklichkeit versteinerten Schein vollziehen, der durch solche Anpassung sich unabsehbar reproduziert. Eben deshalb wird schon der Zögernde als Deserteur verfemt. Seit Hamlet war den Neueren das Zaudern Zeichen von Denken und Humanität. Die verschwendete Zeit repräsentierte und vermittelte zugleich den Abstand zwischen Individuellem und Allgemeinem, wie in der Ökonomie die Zirkulation zwischen Konsum und Produktion. Heute erhalten die Einzelnen ihre Tickets fertig von den Mächten, wie die Konsumenten ihr Automobil von den Verkaufsfilialen der Fabrik. (...) Nicht indem sie ihm die ganze Befriedigung gewährten, haben die losgelassenen Produktionskolosse das Individuum überwunden, sondern indem sie es als Subjekt auslöschten. (Horkheimer/Adorno 1947: 214f.) Das wird, wie bereits angemerkt, verschleiert damit, dass jeder Mitarbeiter und jede Mitarbeiterin ebenso wie jeder Konsument und jede Konsumentin - natürlich - individuell angesprochen werden und natürlich, sofern das Ticket eingehalten bleibt, so genannt individuell sein dürfen oder, das hängt seinerseits vom Ticket ab, individuell sein sollen. Aufschlussreich ist die momentane Überraschung in den westlichen Medien darüber, dass diejenigen Jugendlichen, die in den letzten Monaten aus dem Westen zu den Jihadisten in den Irak überliefen, vorher gar nicht gross auffielen, gekleidet waren und sprachen wie ihre Kollegen oder Kolleginnen. Was die Medien nicht bemerken: Dass es darauf ankomme, nach einem Ticket zu ticken, darauf wurden die Überläufer nicht minder wie deren ehemaligen Kolleginnen und Kollegen bereits bestens vorbereitet, und zwar nicht von irgendwelchen Hasspredigern, sondern von der hiesigen so genannt demokratischen Gesellschaft. Nur wählten sie dann eben das faschistische Ticket. Man wird einwenden, dass es ja nicht nur das faschistische und auch nicht nur das reaktionäre oder auch nicht mal nur das konservative, sondern auch das progressive Ticket gäbe, und dass das dann doch schon ein Unterschied sei. Der Einwand verkennt, dass das Ticket oder die Ticketmentalität selber das Problem darstellt, weil es ganz unabhängig von seiner Ausgestaltung, als Ticket von zu übernehmenden so genannten Standpunkten eben, dem autonomen Denken zuwider läuft. Auch sozialdemokratische Parteien oder alternative Listen rekurrieren nicht minder auf eine Reihe von Standpunkten wie es Schweizerische Volksparteien oder liberale Parteien machen. Und wenn neue politische Bewegungen dieses nicht machen, wird es ihnen von allen Seiten sofort zum Vorwurf gemacht. Dabei ginge es im selbständigen Denken doch darum, über Standpunkte genau hinaus zu kommen (vgl. dazu auch den letzten Kommentar K102 zum Standpunktübernahmejournalismus), was aber freilich genau die Denkanstrengungen voraussetzte, an denen es heute nicht nur allenthalben mangelt, sondern die oft geradezu unterdrückt werden. Die Freiheit auf dem progressiven Ticket ist den machtpolitischen Strukturen, auf welche die progressiven Entscheidungen notwendig hinauslaufen, so äusserlich wie die Judenfeindschaft dem chemischen Trust. Zwar werden die psychologisch Humaneren von jenem angezogen, doch verwandelt der sich ausbreitende Verlust der Erfahrung auch die Anhänger des progressiven Tickets am Ende in Feinde der Differenz. Nicht erst das antisemitische Ticket ist antisemitisch, sondern die Ticketmentalität überhaupt. (Horkheimer/Adorno 1947: 214f.) Das würde dann gar heissen, dass noch dann, wenn auf den vorgegebenen Tickets nirgends der Judenhass verzeichnet ist, trotzdem, und zwar eben aufgrund der hier wie dort propagierten Ticketmentalität, von einer Beförderung des Antisemitismus zu sprechen ist. Die Plausibilität dieser Einsicht zeigt sich nicht zuletzt daran, dass gerade die auf progressive Tickets abonnierten Menschen ihr überhaupt nicht folgen können. Wenn Judenhass doch nicht drauf stehe, oder erst recht gar, wenn im Gegenteil Judenfreundschaft drauf stehe, dann könne doch wirklich nicht von Antisemitismus gesprochen werden. Doch, kann sehr wohl, und es wurde hier erklärt weshalb. Es ist ein qualitativer Unterschied, ob man irgendwelche Stars in gigantischen Werbekampagnen vorbeten lässt, dass Fremdenhass abzulehnen sei, oder man Kindern und Jugendlichen zu selbständigem Denken verhelfen will. Weiter würde es heissen - und das wurde oben ebenfalls schon angedeutet im Zusammenhang mit den vom Westen zu den Jihadisten Wechselnden -, dass Gesellschaften, in denen progressive Tickets vorherrschend sind und wo keine Juden und auch keine anderen Gruppierungen verfolgt werden - was für sich selbstredend humaner ist als beim gegenteiligen Ticket -, dem Antisemitismus ebenfalls Vorschub geleistet wird. Die Ticketmentalität selber ist antisemitisch. Nicht zuletzt damit auch wäre das in den letzten Jahren immer stärker gewordene Gefühl zu erklären - ein Gefühl, das in der Schweiz nicht zuletzt auf den Ausgang bestimmter durchgeführter Referenden sich gründet ("Minarett", "Masseneinwanderung" usw.) -, dass sehr vieles an den immer wieder gelobten westlichen Demokratien äussert oberflächlich zusammen gehalten ist, die Bevölkerungen jederzeit und sehr rasch, eben weil zur Ticketmentalität erzogen, das Ticket nicht nur wechseln können, sondern tatsächlich und mehrheitlich auch wechseln. Es wäre wegzukommen von den Tickets selber. |
|||||