K109 Bewusste versus falsche (pathische) Projektion (1. Teil)
Aus den "Elementen des Antisemitismus" von Horkheimer und Adorno (3a)

24. Januar 2015

Dieser Kommentar schliesst thematisch an die Kommentare K103 und K105 an.

Im 1. Teil dieses zweiteiligen Kommentars wird darauf eingegangen, was unter bewusster Projektion verstanden wird, im in vierzehn Tagen folgenden 2. Teil (Kommentar K110) darauf, was unter falscher (pathischer) Projektion verstanden wird.

Max Horkheimer und Theodor W. Adorno weisen in Abschnitt VI der "Elemente des Antisemitismus" darauf hin, dass der Antisemitismus auf falscher Projektion beruht (vgl. S. 196; Nachweis siehe Kasten). Dabei ist zu beachten, was die Autoren sofort auch hervorheben, nämlich, dass in gewissem Sinn alles Wahrnehmen Projizieren ist. Der häufig zu hörende Vorwurf: "Du projizierst ja!" ist an sich wenig aussagekräftig, da eben kein Wahrnehmen und kein Denken ohne Projizieren auskommt. Der wesentliche Unterschied besteht vielmehr darin, ob man bewusst projiziert oder ob man falsch (pathisch) projiziert.

Zwischen einem wahrhaften Gegenstand, also einem Gegenstand, wie er wahrhaft ausserhalb unserer Wahrnehmung besteht, und der Wahrnehmung dieses Gegenstandes, die wir aufgrund unserer sinnlichen Erfahrung von ihm machen, klafft ein Abgrund:

Zwischen dem wahrhaften Gegenstand und dem unbezweifelbaren Sinnesdatum, zwischen innen und aussen, klafft ein Abgrund, den das Subjekt, auf eigene Gefahr, überbrücken muss. Um das Ding zu spiegeln, wie es ist, muss das Subjekt ihm mehr zurückgeben, als es von ihm erhält. Das Subjekt schafft die Welt ausser ihm noch einmal aus den Spuren, die sie in seinen Sinnen zurücklässt: die Einheit des Dinges in seinen mannigfaltigen Eigenschaften und Zuständen; und es konstituiert damit rückwirkend das Ich, indem es nicht bloss den äusseren sondern auch den von diesen allmählich sich sondernden inneren Eindrücken synthetische Einheit zu verleihen lernt. Das identische Ich ist das späteste konstante Projektionsprodukt. (Horkheimer/Adorno 1944: S. 198)

Wesentlich der Satz: Das Subjekt schafft die Welt ausser ihm noch einmal, sodass in ihm die Welt nochmals entsteht, neu entsteht, vielleicht sogar - und das geht über das von Horkheimer und Adorno Gesagte hinaus - überhaupt erst entsteht. Vielleicht hat die Natur die menschlichen Subjekte überhaupt geschaffen, damit sie selber - im emphatischen Sinn - gesehen wird, dadurch erst wirklich ist. Hier dann käme eine ganz andere Verantwortlichkeit der Menschen der Natur und allgemein der Welt gegenüber in den Blick, eine auch weit über die ökologische hinausgehende. Die Menschen wären Produzenten in einem ganz anderen Sinn. Dieses klingt in den hier von Adorno und Horkheimer zitierten Passagen aber bestenfalls nur an.

In nichts anderem als in der Zartheit und dem Reichtum der äusseren Wahrnehmungswelt besteht die innere Tiefe des Subjekts. Wenn die Verschränkung unterbrochen wird, erstarrt das Ich. Geht es, positivistisch, im Registrieren von Gegebenem auf, ohne selbst zu geben, so schrumpft es zum Punkt, und wenn es, idealistisch, die Welt aus dem grundlosen Ursprung seiner selbst entwirft, erschöpft es sich in sturer Wiederholung. Beide Male gibt es den Geist auf. Nur in der Vermittlung, in der das nichtige Sinnesdatum den Gedanken zur ganzen Produktivität bringt, deren er fähig ist, und andererseits der Gedanke vorbehaltlos dem übermächtigen Eindruck sich hingibt, wird die kranke Einsamkeit überwunden, in der die ganze Natur befangen ist. Nicht in der vom Gedanken unangekränkelten Gewissheit, nicht in der vorbegrifflichen Einheit von Wahrnehmung und Gegenstand, sondern in ihrem reflektierten Gegensatz zeigt die Möglichkeit von Versöhnung sich an. Die Unterscheidung geschieht im Subjekt, das die Aussenwelt im eigenen Bewusstsein hat und doch als anderes erkennt. Daher vollzieht sich jenes Reflektieren, das Leben der Vernunft, als bewusste Projektion. (Horkheimer/Adorno 1944: S. 198)

Wesentlich hierbei: im Subjekt, das die Aussenwelt im eigenen Bewusstsein hat und doch als anderes erkennt. Das Subjekt geht hier dann nicht fälschlich davon aus, die Aussenwelt als eigenes und damit gleichsam als Besitztum zu erkennen, sondern als anderes, das der Vermittlung, mithin der bewussten Projektion bedarf. Dabei muss das Subjekt, wie es im ersten Zitat hiess, dem Ding mehr zurückgeben, als es von ihm erhält. Und um mehr zurück zu erhalten, dazu hätte - um das erwähnte Seitenthema fort zu führen - die Natur den Menschen auch genau geschaffen.

Wahrnehmung ist nur möglich, insofern das Ding schon als bestimmtes, etwa als Fall einer Gattung wahrgenommen wird. Sie ist vermittelte Unmittelbarkeit, Gedanke in der verführerischen Kraft der Sinnlichkeit. Subjektives wird von ihr blind in die scheinbare Selbstgegebenheit des Objekts verlegt. Einzig die ihrer selbst bewusste Arbeit des Gedankens kann sich diesem Halluzinatorischen wieder entziehen, dem Leibniz'schen und Hegelschen Idealismus zufolge die Philosophie. Indem der Gedanke im Gang der Erkenntnis die in der Wahrnehmung unmittelbar gesetzten und daher zwingenden Begriffsmomente als begriffliche identifiziert, nimmt er sie stufenweise ins Subjekt zurück und entkleidet sie der anschaulichen Gewalt. In solchem Gange erweist sich jede frühere Stufe, auch die der Wissenschaft, gegenüber der Philosophie noch gleichsam als Wahrnehmung, als ein mit unerkannten intellektuellen Elementen durchsetztes, entfremdetes Phänomen; dabei zu verharren ohne Negation, gehört der Pathologie der Erkenntnis zu. Der naiv Verabsolutierende, und sei er noch so universal tätig, ist ein Leidender, er unterliegt der verblendenden Macht falscher Unmittelbarkeit. (Horkheimer/Adorno 1944: S. 203)

Aus genau diesem Gedanken heraus hatte Adorno gut zwanzig Jahre nach der "Dialektik der Aufklärung" seine "Negative Dialektik" entwickelt. Das Denken ist, wenn es als solches sich entfaltet, ein ständiges Negieren des in die Sache hinein verlegten Subjektiven, wobei dieses Hineinverlegen des Subjektiven in die Sache, was Projektion ja genau ist, zum Denken notwendig dazu gehört, dieses gewissermassen sein Antrieb ist, in etwa so, wie, nach einem in den 'Minima Moralia' von Adorno formulierten Aphorismus, wonach der Splitter im Auge das beste Vergrösserungsglas sei. Ohne das, was negiert wird, den Splitter eben, geht es nicht, doch bleibt der Gedanke bei diesem nicht stehen.

Nun wird man einwenden, dass das Urteil, das man von einer Sache sich bildet, immer aufs Neue mit jenem gleichsam subjektiven Fehler behaftet bleibe, man die Wahrheit dann also gar nie erreiche. Tatsächlich ist es so, dass das Projektive und das mit ihm verbundene Risiko, den Gegenstand zu verpassen, immer bestehen bleibt, man also nie sicher sein kann. Der wesentliche Unterschied besteht nun allerdings nicht in der Frage, ob das Urteil vermeintlich oder wirklich wahr sei, sondern in der Frage, ob das Urteil der bestehenden Schwierigkeit bewusst sich ist, das heisst als etwas Verrückbares sich versteht, oder ob es der bestehenden Schwierigkeit nicht bewusst sich ist, für unverrückbar sich hält.

Die Kritik an dem sich als absolut und also unverrückbar aufspielenden Wahrheitsanspruch will nun allerdings auch nicht etwa einem Relativismus das Wort reden. Weder als absolut noch als relativ soll der Gedanke sich aufspielen, sondern stattdessen "einfach" konsequent ihm folgen, gerade nicht, sei es aus relativistischem Selbstgenügen oder aus absolutistischem Recht-haben-Wollen, ihn abbrechen. Man treibt die ihrer selbst bewusste Arbeit des Gedankens so weit möglich.

Jedes Urteil, auch das negative, ist versichernd. Wie sehr auch ein Urteil zur Selbstkorrektur seine eigene Isoliertheit und Relativität hervorkehren möge, es muss den eigenen wenn auch noch so vorsichtig formulierten Inhalt, das Behauptete, als nicht bloss isoliert und relativ behaupten. Darin besteht sein Wesen als Urteil, in der Klausel (dass es doch bloss isoliert und relativ sei, kw) verschanzt sich bloss der Anspruch. Die Wahrheit hat keine Grade wie die Wahrscheinlichkeit. Der negierende Schritt über das einzelne Urteil hinaus, der seine Wahrheit rettet, ist möglich nur, sofern es sich selbst für wahr nahm und sozusagen paranoisch war. Das wirklich Verrückte liegt erst im Unverrückbaren, in der Unfähigkeit des Gedankens zu solcher Negativität, in welcher entgegen dem verfestigten Urteil das Denken recht eigentlich besteht. Die paranoische Überkonsequenz, die schlechte Unendlichkeit des immergleichen Urteils, ist ein Mangel an Konsequenz des Denkens; anstatt das Scheitern des absoluten Anspruchs gedanklich zu vollziehen und dadurch sein Urteil weiter zu bestimmen, verbeisst der Paranoiker sich in dem Anspruch, der es scheitern liess. Anstatt weiter zu gehen, indem es in die Sache eindringt, tritt das ganze Denken in den hoffnungslosen Dienst des partikularen Urteils. Dessen Unwiderstehlichkeit ist dasselbe wie seine ungebrochene Positivität und die Schwäche des Paranoikers die des Gedankens selbst. (Horkheimer/Adorno 1944: S. 203f.)

Zum Schluss nochmals ein Sprung ins Seitenthema: Die Intension der Natur, mit den Menschen erstmals sie Sehende erhalten zu haben, scheint realhistorisch derart ins Gegenteil sich verkehrt zu haben, dass sie stattdessen Menschen erhielt, die bloss partikular-instrumentell mit ihr verfahren, was meint, dass sie von den Menschen nicht mehr und nicht weniger wirklich gesehen wird, wie sie bereits von den Tieren und Pflanzen gesehen wird.