K120 | Die Frage der Genese des gegenüber jeder Ethik verselbständigten Kapitalismus Zu Max Webers "Die protestantische Ethik und der 'Geist' des Kapitalismus" 29. August 2015 |
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Die von Max Weber unter dem Titel "Die protestantische Ethik und der 'Geist' des Kapitalismus" 1904/05 in einer ersten Fassung (veröffentlicht in einer Folge von fünf Aufsätzen) und 1920 in einer zweiten Fassung integral und überarbeitet vorgelegte Studie (vgl. Nachweis im ersten Kasten) gilt einerseits als klassisch, wurde und wird andererseits immer wieder radikal in Frage gestellt. So weist beispielsweise Heinz Steinert in seiner 2010 vorgelegten Studie über die "Protestantischen Ethik" (vgl. Nachweis im zweiten Kasten) auf grundlegende Unstimmigkeiten in der Arbeit Webers hin. Diese Unstimmigkeiten sollen gemäss Steinert die Unhaltbarkeit der "Weber-These" (Steinert) belegen. Auf eine solche Unstimmigkeit sei hier zunächst eingegangen. |
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Im ersten Abschnitt der "Protestantischen Ethik" verweist Weber auf eine Statistik für Baden, in denen für 1891 die Prozentanteile aufgeführt sind, denen gemäss Protestanten, Katholiken und Juden sich auf die verschiedenen Schulstufen verteilen (von "höheren Bürgerschulen" bis zu den "Gymnasien"). Diese Prozentanteile vergleicht er mit den Bevölkerungsanteilen nach Konfession für Baden und weist dazu darauf hin, dass bei den Protestanten die Abschlüsse an den höheren Schulen überdurchschnittlich und bei den Katholiken unterdurchschnittlich sind (vgl. Weber (1904/05): S. 12). Weber nimmt den Unterschied als "Erklärung der geringeren Anteilnahme der Katholiken am kapitalistischen Erwerb" (ebda, S. 13). Im zweiten Kapitel stellt Weber dann allerdings fest, dass "natürlich" nicht behauptet werden soll, "dass für den heutigen Kapitalismus die subjektive Aneignung dieser ethischen Maxime (gemeint ist die nach Weber auf den Protestantismus zurück verweisende ethische Maxime der Berufspflicht, kw) durch seine einzelnen Träger, etwa die Unternehmer oder die Arbeiter der modernen kapitalistischen Betriebe, Bedingung der Fortexistenz sei. Die heutige kapitalistische Wirtschaftsordnung ist ein ungeheurer Kosmos, in den der einzelne hineingeboren wird und der für ihn, wenigstens als einzelnen, als faktisch unabänderliches Gehäuse, in dem er zu leben hat, gegeben ist." (Weber (1904/05): S. 27f., Hervorhebungen durch Weber) Noch stärker drückt Weber diese Auffassung gegen Schluss seines Textes aus: "Indem die Askese (gemeint ist die innerweltliche Askese bestimmter protestantischer Richtungen, kw) die Welt umzubauen und in der Welt sich auszuwirken unternahm, gewannen die äusseren Güter dieser Welt zunehmende und schliesslich unentrinnbare Macht über den Menschen, wie niemals zuvor in der Geschichte. Heute ist ihr Geist (gemeint ist hier der Geist der Askese, kw) - ob endgültig, wer weiss es? - aus diesem Gehäuse entwichen. Der siegreiche Kapitalismus jedenfalls bedarf, seit er auf mechanischer Grundlage ruht, dieser Stütze nicht mehr." (Weber (1904/05): S. 176f.) Dadurch dass - so die Implikation Webers - die kapitalistische Wirtschaftsordnung quasi mechanisch jedes Leben bestimmt, sich dieser Ordnung Katholiken genauso wie Protestanten oder andere Gruppierungen zu fügen haben, spielen dabei die religiös-ethischen Maximen gar keine Rolle mehr, was es dann aber auch - entgegen dem angesprochenen, im ersten Abschnitt unternommenen statistischen Vergleich - verunmöglicht, bei den einen eine höhere Anteilnahme am kapitalistischen Erwerb zu prognostizieren als bei den anderen. Aufgrund dieser zweiten Stellen wäre vielmehr zu prognostizieren, dass für die Gegenwart keine Unterschiede mehr zwischen Protestanten und Katholiken zu finden sind. Der von Weber zu Beginn gemachte Hinweis auf die Statistiken Badens als Beleg für eine "geringere Anteilnahme der Katoliken am kapitalistischen Erwerb" (vgl. Zitat oben) wird unstimmig. |
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Max Weber
Die protestantische Ethik und der 'Geist' des Kapitalismus (1904/1905). Textausgabe auf der Grundlage der ersten Fassung von 1904/05 mit einem Verzeichnis der wichtigsten Zusätze und Veränderungen aus der zweiten Fassung von 1920. München: FinanzBuch Verlag 2006. |
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Wenn man die von Weber unterstellte "Wahlverwandtschaft" zwischen "protestantischer Ethik" und "Geist des Kapitalismus" für die Gegenwart nicht prüfen kann, da der Geist des Kapitalismus gegenüber der "Ethik" sich bereits verselbständigte und alle Menschen - egal welcher konfessioneller Ethik - einnimmt, dann besteht die Alternative darin zu prüfen, wie es mit den Zusammenhängen in jener Zeit bestellt war, als der "Geist des Kapitalismus" noch nicht verselbständigt, die "protestantische Ethik" in Form des "Geistes" der innerweltlichen Askese dessen Gehäuse noch erfüllte und stützte. Gemäss Weber wirkte die "protestantische Ethik" vermittels bestimmter Richtungen (Calvinismus; Pietismus; Methodismus; Richtungen der täuferischen Bewegung) im 16. und 17. Jahrhundert am stärksten in Richtung "Geist des Kapitalismus", woraus dann zu schliessen wäre, dass für jene Zeit und für die den betreffenden Protestantismus vertretenden Menschen eine überdurchschnittliche Anteilnahme am kapitalistischen Erwerb nachgewiesen werden können sollte. Überraschenderweise ist es nun aber so, dass Weber auch diese alternative Möglichkeit zur empirischen Überprüfung des Zusammenhangs von "protestantischer Ethik" und "Geist des Kapitalismus" theoretisch als gar nicht gangbar erachtet. Weber erwartet gar nicht, dass bei den damaligen ihm gemäss bedeutsamen Vertretern der protestantischen Ethik "die Erweckung dessen, was wir hier 'kapitalistischen Geist' nennen" (Weber (1904/05): S. 65) als Ziel überhaupt vorzufinden ist (vgl. ebda). "Das Seelenheil und dies allein ist der Angelpunkt ihres Lebens und Wirkens. Ihre ethischen Ziele und die praktischen Wirkungen ihrer Lehre sind alle hier verankert und Konsequenzen rein religiöser Motive. Und wir werden deshalb darauf gefasst sein müssen, dass die Kulturwirkungen der Reformation zum guten Teil - vielleicht sogar für unsere speziellen Gesichtspunkte überwiegend - unvorhergesehene und geradezu ungewollte Konsequenzen der Arbeit der Reformatoren waren, oft weit abliegend oder geradezu im Gegensatz stehend zu Allem, was ihnen selbst vorschwebte." (Weber (1904/05): S. 65f., Hervorhebungen durch Weber) Wenn Max Weber die protestantische Ethik als zumindest mitentscheidend, wenn nicht gar ursächlich erachtet für die Hervorbringung des "Geistes des Kapitalismus", dann also - und hier beginnt die Denkarbeit erst eigentlich - nur in dem Sinn, dass die "Ethik" den "Geist" unbeabsichtigt oder gar contre coeur mithervorbrachte. Die die "protestantische Ethik" Vertretenden waren demnach, so wäre Weber zu deuten, einzig darauf fixiert, aus ihrer innerweltlich-asketischen Lebensweise abzulesen, dass sie gottgefällig und also auserwählt sind, ihnen dabei die mit dem Kapitalismus sich verbindenden Ziele wie insbesondere die Erarbeitung von Mehrwert für den Betrieb und eine diesbezügliche Anpassung gleichgültig waren, wenn sie diesen Zielen nicht gar ablehnend gegenüber standen. Die Protestanten bemühten sich um ein innerweltlich-asketisches Leben in Vollstreckung des Willens Gottes, nicht in Vollstreckung des Willens des Kapitals. Damit nun aber darf gemäss Weber auch bei den für ihn massgeblichen Vertretern der "protestantischen Ethik" aus dem 16. und 17. Jahrhundert gar kein Zusammenhang mit einem kapitalistischen Erwerbsstreben erwartet werden, eher im Gegenteil. Max Weber erkennt auf der einen Seite, dass der Kapitalismus als etwas gegenüber den Menschen Verselbständigtes sich herausbildete, ist sich auf der anderen Seite gleichzeitig sicher, dass die reformatorischen Bewegungen, die just zu Zeiten des frühneuzeitlichen Kapitalismus entstanden, diese Verselbständigung zumindest mitermöglichten. Wie kann aber eine Ethik wie die protestantische eine Wirtschaftsform beflügeln kann, die von jeder Ethik losgelöst zu sein scheint? Mit dieser in der Tat schwierigen Frage kämpft Weber in seinem Text und viele der Unstimmigkeiten, in die er sich verwickelt, und die von Steinert zu Recht angemahnt werden, sind ihr geschuldet. Ganz unabhängig davon nun aber, ob man der Reformation bei der Hervorbildung des Kapitalismus eine Bedeutung zumisst oder nicht, ist schon allein der Hinweis Webers auf den Kapitalismus als etwas gegenüber den Menschen und deren Ethik Indifferentes oder Verselbständigtes bedeutsam, und zwar noch heute bedeutsam. Wenn aus Webers "Protestantischer Ethik" immer wieder zitiert wird, dann wohl in erster Linie deshalb, weil er auf den wunden Punkt des Kapitalismus hinwies, wie gesagt ganz unabhängig davon, wie er dessen Genese erklärte und als solchen beurteilte. "Nur wie 'ein dünner Mantel, den man jeder Zeit abwerfen könnte', sollte nach Baxters Ansicht die Sorge um die äusseren Güter um die Schultern seiner Heiligen liegen. Aber aus dem Mantel liess das Verhängnis ein stahlhartes Gehäuse werden. Indem die Askese die Welt umzubauen und in der Welt sich auszuwirken unternahm, gewannen die äusseren Güter dieser Welt zunehmende und schliesslich unentrinnbare Macht über den Menschen, wie niemals zuvor in der Geschichte. (...) Der siegreiche Kapitalismus jedenfalls bedarf, seit er auf mechanischer Grundlage ruht, dieser Stütze (jener protestantischen Askese, kw) nicht mehr. Auch die rosige Stimmung ihrer lachenden Erbin: der Aufklärung, scheint endgültig im Verbleichen und als ein Gespenst ehemals religiöser Glaubensinhalte geht der Gedanke der 'Berufspflicht' in unserem Leben um. (...) Niemand weiss noch, wer künftig in jenem Hause wohnen wird, und ob am Ende dieser ungeheuren Entwicklung ganz neue Propheten oder eine mächtige Wiedergeburt alter Gedanken und Ideale stehen werden, oder aber - wenn keins von beiden - 'chinesische' Versteinerung, durch eine Art von krampfhaftem Sich-wichtig-nehmen verbrämt. Dann allerdings könnte für die 'letzten Menschen' dieser Kulturentwicklung das Wort zur Wahrheit werden: 'Fachmenschen ohne Geist, Genussmenschen ohne Herz, dies Nichts bildet sich ein, eine nie vorher erreichte Stufe des Menschentums erstiegen zu haben.' " (Weber (1904/05): S. 176ff., Hervorhebung durch Weber) Eine der Grundschwächen von Steinerts Widerlegungsversuch von Max Webers "Protestantischer Ethik" besteht darin, dass er, Steinert, auf die Höhe von Webers Frage gar nicht gelangen will, sogar bestreitet, dass Weber eine Frage überhaupt habe (vgl. insbesondere das dritte Kapitel von Teil I: " 'Asketischer Protestantismus' ist die Antwort, aber was war die Frage?" (Steinert 2010: S. 94ff.)). In der Folge bekämpft Steinert Webers Text weit unter Niveau, führt einen beckmesserischen Kleinkrieg gegen die Unstimmigkeiten bei Weber, ohne zu bemerken, dass diese Unstimmigkeiten die logische Folge des Versuchs Webers sind, einer überaus schwierigen Frage - die die Genese des verselbständigten Kapitalismus betreffende Frage eben - zu beantworten. |
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Die von Max Weber gestellte Frage nach der Genese des gegenüber jeder Ethik verselbständigten Kapitalismus freilich war und ist eine zentrale Frage auch für die kritische Theorie, wie anders sie von dieser auch angegangen und beantwortet wurde und wird. Weil Steinert Weber aber nicht einmal die Frage zugestehen will, gelangt er auch nicht dazu, die Behandlung der Frage durch Weber mit der Behandlung der Frage durch die kritische Theorie zu konfrontieren. Marx, gegen den das Werk von Weber und insbesondere die "protestantische Ethik" wesentlich ja gerichtet war, wird von Steinert einige Male zwar erwähnt, aber auf die Kontroverse zwischen den beiden Richtungen (wenn man so will: idealistischer Positivismus vs. dialektischer Materialismus), und zwar in Beantwortung derselben Frage, geht Steinert nicht ein. Zur Beurteilung von Webers Werk durch Adorno findet bei Steinert sich lediglich der solitäre, nicht weiter ausgeführte Satz: "Es wurde bisher wenig beachtet, dass Adorno damals Weber in Vorlesungen ausführlich - und kritisch - würdigte." (Steinert 2010, S. 270) Wenn die Ausführungen Adornos zu Weber beachtenswert sind, warum geht Steinert auf sie nicht ein? An einer anderen Stelle heisst es: "Heute lässt sich über dieses Thema (gemeint ist das Thema des "okzidentalen Rationalismus") nicht ohne die Dialektik der Aufklärung nachdenken, in der die Katastrophen dieses Rationalismus im 20. Jahrhundert - und die gehen über "Disziplin" und "Bürokratisierung" ein wenig hinaus - verarbeitet werden." (Steinert 2010, S. 278, kursiv durch Steinert). Hier spielt Steinert offenbar nicht auf die Dialektik der Aufklärung als historischen Prozess an, sondern auf das Werk von Horkheimer und Adorno mit dem entsprechenden Titel. Warum zitiert Steinert das Werk nicht und warum konfrontiert er es nicht mit der "Protestantischen Ethik"? Auch wenn Horkheimer und Adorno Max Webers "Protestantische Ethik" in der "Dialektik der Aufklärung" (1944/1947) nicht zitieren, ist dessen Einfluss, wie kritisch die beiden Philosophen dem Weberschen Werk auch immer gegenüber gestanden haben, in diverser Hinsicht unverkennbar. Die Rede von der Verselbständigung des Systems gegenüber den Menschen durch diese hindurch oder das, was Adorno als die "verwaltete Welt" bezeichnete, geht wesentlich auf Weber zurück, wie anders das Phänomen von Horkeimer und Adorno auch immer erklärt wurde. In der "Dialektik der Aufklärung" steht im ersten Aufsatz zum "Begriff der Aufklärung" der folgende Satz: "Den im Protestantismus unternommenen Versuch des Glaubens, das ihm transzendente Prinzip der Wahrheit, ohne das er nicht bestehen kann, wie in der Vorzeit unmittelbar im Wort selbst zu finden und diesem die symbolische Gewalt zurückzugeben, hat er mit dem Gehorsam aufs Wort, und zwar nicht aufs heilige, bezahlt." (Horkheimer, Max; Adorno, Theodor W. (1944/1947): Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Mit einem Nachwort von Jürgen Habermas. Fr.a.M.: S. Fischer (1969) 1986: S. 26) Ist das nicht bereits der Ansatz zu einer dialektischen Antwort auf den von Max Weber gesuchten Zusammenhang? Hätte Steinert die kritische Theorie in seine Untersuchung der Weberschen "Protestantischen Ethik" einbezogen, hätte er die Unstimmigkeiten, die er Weber nachweist, nicht nur aufzeigen, sondern, in Würdigung der Fragestellung Webers, als Folge der überaus schwierigen, mit den Mitteln Webers wohl gar nicht beantwortbaren Fragestellung erklären können. Steinert zieht einer solchen Kritik, die dadurch erst zu einer immanenten geworden wäre, eine, wie er es deklariert, "historisierende" Erklärung der Weberschen Unstimmigkeiten vor. Diese allerdings wird von Steinert nur sehr bruchstückhaft expliziert und die Bruchstücke überzeugen wenig. Steinert unterschlägt ob seiner pedantischen Nachweise der Unstimmigkeiten bei den anderen die Stimmigkeit bei sich. |
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Heinz Steinert
Max Webers unwiderlegbare Fehlkonstruktionen. Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. Frankfurt/New York: Campus Verlag 2010. |
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Theodor W. Adorno nahm in einer Vorlesung, die er 1964 unter dem Titel "Philosophische Elemente einer Theorie der Gesellschaft" hielt (vgl. Nachweis nachstehend), immer wieder Bezug auf das Werk Max Webers. Die Bezugnahmen Adornos erfolgten damals sicher auch deshalb, weil Max Webers Geburtstag 1964 sich zum hundertsten Mal jährte (Max Weber (1864 - 1920)). |
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Adorno zur nicht vorhandenen, aber drängenden Dialektik bei Max Weber: Es ist selbstverständlich, dass ein solches Denken wie das von Weber einem Begriff wie dem der Dialektik, der ja nun tief in der philosophischen Spekulation verwurzelt ist und von der philosophischen und zwar der kritisch-philosophischen Reflexion gar nicht getrennt werden kann, ungemein unfreundlich gegenübersteht. Und diese Unfreundlichkeit ist ja in Webers Wissenschaftsgesinnung zum Ausdruck gekommen, in seiner polemischen Stellung zu der materialistischen Dialektik, einer Position, die, wie wahrscheinlich die meisten von Ihnen wissen, das eigentliche Motiv dafür ist, warum Weber eine so ungeheure Zeit und Arbeit an die Aufarbeitung der Religionssoziologie gewandt hat, und warum er dabei selbst in die entlegensten exotischen Materialen sich gestürzt hat, nämlich eben um dadurch ein Kernstück der marxistischen Dialektik, die Lehre von der Abhängigkeit des sogenannten geistigen Überbaus vom ökonomischen Unterbau, zu erschüttern. Es ist nun eine sehr bemerkenswerte Tatsache, dass, wenn anders ich Weber einigermassen kenne, obwohl man einem positiven Gebrauch des Wortes Dialektik in seinem Oeuvre nicht ein einziges Mal begegnet, die dialektischen Momente in seinem eigenen Oeuvre sich ausserordentlich stark geltend machen. (...) Ich nenne von solchen dialektischen Momenten nur zwei: nämlich erstens die Tendenz sogenannter 'charismatischer Herrschaft' - also solcher Herrschaftsformen, die auf der wirklichen oder angeblichen übernatürlichen, begnadeten Berufung eines Führers beruhen, etwa die politische Herrschaft, wie sie Mohammed in Arabien ausgeübt hat - auf die Dauer in traditionelle überzugehen, also sich zu vererben und damit auch feste, fixierte, objektivierte, vergegenständlichte Herrschaftsformen und schliesslich sogar eine Bürokratie aus sich hervorzubringen. Sie müssen, um das recht zu verstehen, wissen, dass die Methode von Weber darin besteht, dass er solche Idealtypen, wie also die charismatische Herrschaft, die traditionelle Herrschaft, die rationale Herrschaft, aufstellt, durch sehr exakte, einigermassen juristische Definitionen voneinander abgrenzt, und nun seinem Programm nach lediglich zusehen will, ob irgendwelche je zu untersuchenden sozialen Phänomene dem einen oder anderen dieser Typen entsprechen - wie nahe oder wie weit sie von ihm sind, wie sehr sie von ihm abweichen -, ohne dass seiner eigenen Lehre zufolge diesen Typen irgendein Eigenrecht zukommen soll oder gar eine Eigenbewegung. Aber er wird eben doch, indem er solche Phänomene, wie die zur Illustration des charismatischen Typus von Herrschaft herangezogenen, auch in ihrer Entwicklung ins Auge fasst, dazu gedrängt, nicht nur sie bis zu einem gewissen Grad als etwas Eigengesetzliches zu sehen, das in sich selber Tendenzen der Bewegung hat - die Einsicht in solche immanenten Bewegungstendenzen eines Phänomens, auch eine solche Einsicht ist ja an sich schon bereits ein Stück Theorie, denn eine solche Bewegungstendenz ist ja kein dingfest zu machendes Faktum -, sondern darüber hinaus ist er sogar gedrängt zu konzedieren, dass solche Phänomene wesentlich und in einer ganz bestimmten Art sich verändern und damit ihr Idealtypus selbst. Es wird also gewissermassen eine geschichtliche Struktur hergestellt zwischen dem Typus charismatischer Herrschaft und zwischen dem Typus traditioneller Herrschaft und dadurch eben doch so etwas wie eine übergreifende Struktur der gesellschaftlichen Bewegung selbst gelehrt, und zwar darüber hinaus eine solche Struktur in Gestalt einer Bewegung in Gegensätzlichkeiten, also es wird hier einfach vom Material her so etwas wie die Einsicht in dialektische Zwänge oder Tendenzen konzediert, wie sie mit dem Ansatz der Weberschen Soziologie unvereinbar ist. Oder ein ähnliches dialektisches Phänomen bei ihm ist das, dass die rationale Bürokratie, die ja der rationalen, durchsichtigen und wesentlich demokratischen Form der Herrschaft zugehören soll, wie ich Ihnen vorhin bereits als die Kernthese Webers andeutete, sich verfestigt und notwendig in antidemokratische und irrationale Herrschaft übergehe. Nebenbei bemerkt: Eine theoretische Einsicht, durch die der angeblich so atheoretische Weber die Entwicklung jedenfalls grosser Sektoren der Gesellschaft unmittelbar nach seiner Zeit ja sehr genau prognostiziert hat. Es gehört heute zu den merkwürdigsten Dingen, dass, wenn man etwa die Invektiven von Weber gegen den Leninschen Bolschewismus aus den letzten Jahren seines Lebens liest, sich dabei zeigt, dass er, und zwar rein aus dem Begriff der rational bürokratischen Herrschaft heraus, mit einer ungeheuren Präzision genau jene Erstarrungsphänomene, jene Verfestigung der Bürokratie gegenüber dem Volk, für das sie zu agieren vorgibt, prophezeit hat, die dann in der späteren Geschichte des bolschewistischen Russland in so furchtbarer Weise sich erfüllt hat, wie es uns allen gegenwärtig ist. Es steckt hier bei Weber so etwas wie ein letztes Erbe der alten zyklischen Theorien von der Gesellschaft, etwas von dieser bürgerlichen Urüberzeugung, dass die Demokratie dort, wo sie ihren Begriff am reinsten erfüllt, mit einer Art dämonischer Notwendigkeit wieder in Herrschaft, und zwar in blinde Herrschaft zurückschlagen müsse. (Adorno (1964): S. 19ff.) |
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Theodor W. Adorno
Philosophische Elemente einer Theorie der Gesellschaft. Herausgegeben von Tobias ten Brink und Marc Phillip Nogueira. |
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Weber spürte vom Verhängnis der Aufklärung, war an ihrer Dialektik näher dran, als er selber mit seiner konservativen Gesinnung es sich eingestehen konnte, näher auch als viele seiner heutigen Kritiker von links, die, ohne es zu merken, da sie nicht einmal dessen Frage anerkennen, ihn längst schon rechts überholt haben. | |||||