K128 Bürgerliche Herrschaft wider das Bürgerliche
Zu den "Buddenbrooks" von Thomas Mann

16. Januar 2016

Ein grundlegendes Motiv des Bürgerlichen besteht darin, wider die überkommenen feudalen und religiösen Fesseln allen Menschen ein freies Verhältnis zur Welt zu ermöglichen, auf dass sie Neues entdecken, erfinden, hören, sehen, produzieren, vermitteln können, zugunsten eines lebendigen Lebens.

Das Motiv des Bürgerlichen wurde von den im Verlauf des 18. und 19. Jahrhunderts an die Macht gekommenen Bürgern nicht nur nicht eingelöst, sondern mehr noch aktiv verdrängt. Als wenn ihnen, mit Kant zu sprechen, der Mut abhanden gekommen wäre, sich ihres Verstandes ohne Leitung eines andern zu bedienen. Welche Faktoren die Nichteinlösung bewirkten, ist schwer zu sagen. Dass die Bürger die Etablierung einer neuen Herrschaft, ihrer Herrschaft über alles stellten, dürfte eine wesentliche Rolle gespielt haben. Ihr Ansinnen, andere Menschen, sich selber, die Sachen und allgemein die Natur ihrer Herrschaft zu unterwerfen, widerspricht jener befreienden Öffnung zum Neuen und Lebendigen fundamental. Wer um der Machtfülle und also des Profits willen und nicht um der Bedürfnisse der Menschen und allgemein des Lebens willen produziert, schafft nicht Raum für Freiheit, sondern versperrt ihn. Paradoxerweise und nur zum schwachen Trost versperren diejenigen, die zur bürgerlichen Herrschaft ganz und gar gelangt sind, diesen Raum auch genauso sich selber. Sie ersticken jenes Motiv geradezu in der auch von sich selber abverlangten Disziplin gegen die Menschen und die Sachen, die sie dann, durchaus neurotisch, verwechseln mit Verantwortung. Es sind die Bürger selber, die das Bürgerliche, zu bestimmen von jenem Motiv her, zugrunde richten. Die logischen Folgen sind Faschismus und Krieg.

Wenn es jemanden gab, der die fatale Entwicklung des Bürgertums mit Bezug auf Deutschland ein Leben lang von ganz nahe verfolgte und schriftstellerisch verarbeitete - von den "Buddenbrooks" über den "Zauberberg" bis zum "Doktor Faustus" (um nur drei seiner epochalen Werke zu nennen) -, dann war es Thomas Mann (1875-1955). Thomas Mann, in einem grossbürgerlichen Haus aufgewachsen und also selber genuin Bürger, war derart nahe dran, dass auch er selber von bürgerlichen Irrungen erfasst und korrumpiert wurde, doch - und hierin liegt die Qualität seines Werks - legte er es schriftstellerisch offen. Er legt eine Beichte von seinesgleichen vor, wobei nie ganz klar wird, wie bewusst der Beichtende sich des Gebeichteten überhaupt war. Das Werk selber jedenfalls ermöglicht ein Bewusstsein.

Der ungarische Schriftsteller Sándor Márai charakterisierte Thomas Mann folgendermassen: "Thomas Mann ist auf eine Weise Deutscher, als wäre es in Afrika: trotzig und treu, gleichzeitig auch ein wenig einstudiert, demonstrativ, beleidigt und hochmütig deutsch. Er hat etwas von Mozart - seine Musik - und von Goethe - seine Rolle -, natürlich auch sehr viel von Thomas Mann, der in Lübeck als Patrizier geboren wurde und jetzt Thomas Mann in Küsnacht bei Zürich ist. Er ringt mit dem, was deutsch an ihm ist, auf Leben und Tod; will das Deutsche in sich zugleich ein wenig am Leben erhalten und ein wenig zu Tode verletzen. (...) Möglich, dass er nicht ganz der ideale Deutsche ist, aber sicher der ehrlichste. (...) Welch ein Konflikt! Ich verneige mich tief vor ihm, und manchmal tut er mir leid, der Arme." (Sándor Márai in: Die vier Jahreszeiten. München/Zürich: Piper 2009, S. 68; zitiert auf wikipedia unter "Thomas Mann" (Zugriff vom 16. Januar 2016)). Statt vom Deutschen hätte Márai treffender vom Bürger gesprochen, ist es der Bürger doch in erster Linie, mit dem Thomas Mann ringt. Ähnliches wäre doch von Marcel Proust zu sagen, der vier Jahre vor Thomas Mann zur - bürgerlichen - Welt kam, und eben auch mit dieser in erster Linie ringt, wie immer auch auf Frankreich bezogen.

In welcher Weise es zugeht, wenn das Herrschaft gewordene Bürgerliche sich selber zugrunde richtet, beschreibt Thomas Mann in seinem Roman "Buddenbrooks. Verfall einer Familie" (Nachweis nachstehend).

Dass die von Thomas Mann beschriebene Familie eine dem Verfall geweihte ist, zeigt sich nicht erst an deren tatsächlichem Niedergang, sondern bereits zu Beginn, wo alles zum Besten bestellt scheint, und wo Thomas Mann mit der Geschichte auch einsetzt.

Die Familie Buddenbrook hat soeben - man steht im Jahr 1835 - das neu erworbene geräumige Haus bezogen und weiht es mit einem "Abendbrot" ein, wozu die engsten Freunde, selbstredend alle aus den besten Kreisen der Stadt, geladen sind. Das Essen, das den insgesamt etwa fünfundzwanzig Leuten von Bediensteten gereicht wird, besteht aus diversen Gängen und ist so delikat wie üppig. Auch der ausgiebig getrunkene Wein, bezogen von dem am Tisch ebenfalls präsenten Herrn C. F. Köppen, ist exquisit. Verschiedene Gäste bringen zum richtigen Zeitpunkt einen Toast aus, sei es zu Ehren der Familie, des neu bezogenen Domizils oder des fürstlichen Gastmahls, und Jean Jacques Hoffstede rezitiert sogar ein eigens fabriziertes Gedicht zu Ehren der Familie. Nach dem Essen erklingen im Landschaftszimmer Harmonium und Flöte, während sich im Billardzimmer eine Männergruppe bildet, um sich am Spiel, an Zigarren, an Fetzen politökonomischer Diskussion und an anzüglichen Witzen zu ergötzen. Was für ein schöner Abend!

Kurz vor dem Essen, als die Gäste bereits vom Landschaftszimmer in den Speisesaal hinüber gebeten worden sind, ereignet sich folgendes:

Der jüngere Hausherr hatte, als der allgemeine Aufbruch begann, mit der Hand nach seiner linken Brustseite gegriffen, wo ein Papier knisterte, das gesellschaftliche Lächeln war plötzlich von seinem Gesicht verschwunden, um einem gespannten und besorgten Ausdruck Platz zu machen, und an seinen Schläfen spielten, als ob er die Zähne aufeinander bisse, ein paar Muskeln. Nur zum Schein machte er einige Schritte dem Speisesaale zu, dann aber hielt er sich zurück und suchte mit den Augen seine Mutter, die als eine der letzten, an der Seite Pastor Wunderlichs, die Schwelle überschreiten wollte.
"Pardon, lieber Herr Pastor ... Auf zwei Worte, Mama!" Und während der Pastor ihm munter zunickte, nötigte Konsul Buddenbrook die alte Dame ins Landschaftszimmer zurück und zum Fenster.
(Thomas Mann, Buddenbrooks, S. 18)

Johann (Jean) Buddenbrook erklärt seiner Mutter, dass ein Brief von Gotthold an den Vater gekommen sei, er sich aber noch nicht habe überwinden können, den Brief dem Vater auszuhändigen. Gotthold ist ein aus erster Ehe des alten Buddenbrooks abstammender Sohn und also Halbbruder von Jean. Jean ahnt, dass Gotthold im angekommenen Brief Anspruch auf den vollen Erbteil erhebt, dass also ein Teil des Werts des neu erworbenen Hauses an Gotthold ausbezahlt werden müsste. Jean ist Associé im Kaufmannsgeschäft der Buddenbrooks und wird nach dem Tode seines Vaters das Geschäft allein übernehmen. Das Geld, das Gotthold ausbezahlt werden müsste, ginge dem Geschäft verloren. Aus diesem Grund ist Jean gegen die Auszahlung, möchte es seinem Vater auch so empfehlen, kann die familiäre Bande aber nicht einfach übergehen. So spricht er zuerst mit seiner Mutter und äussert sich ihr gegenüber wie folgt über Gotthold:

"Aber es ist seine Schuld!" rief der Konsul (Jean Buddenbrook, kw) beinahe laut und mässigte dann seine Stimme mit einem Blick nach dem Speisesaal. "Es ist seine Schuld, dies traurige Verhältnis! Urteilen Sie selbst! Warum konnte er nicht vernünftig sein! Warum musste er diese Demoiselle Stüwing heiraten und den... Laden..." Der Konsul lachte ärgerlich und verlegen bei diesem Worte. "Es ist eine Schwäche, Vaters Widerwille gegen den Laden; aber Gotthold hätte diese kleine Eitelkeit respektieren müssen ...
"Ach, Jean, das Beste wäre, Papa gäbe nach!"
"Aber kann ich denn dazu raten?" flüsterte der Konsul mit einer erregten Handbewegung nach der Stirn. "Ich bin persönlich interessiert, und deshalb müsste ich sagen: Vater, bezahle. Aber ich bin auch Associé, ich habe die Interessen der Firma zu vertreten, und wenn Papa nicht glaubt, einem ungehorsamen und rebellischen Sohn gegenüber die Verpflichtung zu haben, dem Betriebskapital die Summe zu entziehen... Es handelt sich um mehr als elftausend Courant-Taler. Das ist gutes Geld... Nein, nein, ich kann nicht zuraten... aber auch nicht abraten. Ich will nichts davon wissen. Nur die Scene mit Papa ist mir désagréable..."
"Abends spät, Jean. Komm nun, man wartet."
(Thomas Mann, Buddenbrooks, S. 19f.)

Der alte Buddenbrook wird nicht nachgeben, wird Gotthold nicht auszahlen, sondern das Geld in der Firma behalten. Nicht dieses jedoch ist der entscheidende - bürgerliche - Punkt, sondern der, dass ein Sohn der Familie deshalb praktisch ausgestossen wird, weil er zum einen eine Frau heiratet, die dem erwarteten Stand nicht entspricht, zum anderen einen "Laden" betreibt, was für sich als unter jeder Kaufmannsehre stehend angesehen wird. Von Liberalität und Offenheit keine Spur, und genau dieser widerbürgerliche Zug, gleichsam der Charakterzug des real existierenden Bürgertums ist es, der dessen Niedergang im Voraus besiegelt, auch denjenigen der Buddenbrooks.

Christian Buddenbrook, der eine Sohn des Konsuls Jean Buddenbrook, der zum Zeitpunkt der Einweihung des Hauses noch ein Schüler ist und mit seinen Geschwistern unten am Tisch sitzt, wird mit dem Kaufmannsgeschäft genauso wenig anfangen können wie offenbar Gotthold es konnte. Doch will die Familie ihn partout ins Kaufmännische zwingen, hält gleichzeitig gar nichts von seinen Interessen für Schauspiel und Theater. Christian wird es nicht wirklich gelingen, die von den Buddenbrooks wie eine Gefängnismauer hochgezogene Familienfassade zu durchdringen. Er wird in den bürgerlichen Kreisen zweifelhafte Anerkennung finden nur als Witzbold, als einer, der in der Lage ist, die diese Fassade bevölkernden Figuren aufs Genauste zu imitieren und zu karikieren. Wie der Schüler Christian vor jenem "Abendbrot" gefragt wird, was er in der Schule gelernt habe, spielt er zum grossen Amusement der Anwesenden den Lehrer Marcellus Stengel nach. Und versucht er als Erwachsener dann doch, die Fassade zu zerreissen - wie einmal im Herrenklub, wo er die Bemerkung fallen lässt, dass alle Kaufleute Gauner seien -, wird er, notabene von seinem Bruder Thomas, der dannzumal als alleiniger Patron der Firma und natürlich als Konsul amtet, sofort abgestraft. Christian Buddenbrook muss die Stadt verlassen. Zugleich entwickelt er schon früh, aufgrund der ihm entzogenen Liebe, ein Art Hypochondrie. Als Christian Buddenbrook schliesslich auch noch eine "Madame" von zweifelhaftem Ruf heiratet, bricht die Familie ganz mit ihm. Er endet in einer psychiatrischen Klinik.

Dabei unterhielt der ach so tugendhafte Thomas Buddenbrook selber in jungen Jahren ein Verhältnis zu einem in einem Blumenladen beschäftigten Mädchen (was von Thomas Mann überaus geschickt in die Geschichte hineinkomponiert ist - auch als Leser übersieht man es fast). Aber bei Thomas Buddenbrook ist es - natürlich - etwas ganz anderes, nicht zu Vergleichendes. Er heiratete das Ladenmädchen ja auch nicht, sondern nahm später eine Frau von seinem Stand, die er freilich so wenig liebte wie sie ihn.

Vielleicht wird gegen diese ganze hier versuchte Deutung jetzt eingewendet, dass das Ansehen der Familie doch genau davon abhänge, in welche andere Familie deren Mitglieder einheiraten und ganz allgemein, wie sie sich öffentlich verhalten, und es gehe nicht zuletzt um die Kreditwürdigkeit des Familienbetriebs. Tatsächlich wird dieses Motiv von Thomas Mann auch durchgehend hervorgehoben, doch ist eben es als ein in der Realität durchgezogen herrschaftliches das Grundproblem, dem eingangs formulierten Motiv des Bürgerlichen genau feind, lebensfeindlich. Darin bestätigt sich auch, dass es mit der Autonomie der Familie nicht weit her ist, diese sich den Zwängen bürgerlicher Herrschaft selber völlig ausgeliefert sieht, sie freiere, ihre Herrschaftsansprüche in Frage stellende Lebensweisen wie unter Zwang eben ausschliessen muss. Innerhalb des heutigen praktisch allgemein gewordenen Kleinbürgertums funktioniert die Familie im Grunde analog, weniger bezogen auf bestimmte Klasseninteressen als vielmehr bezogen auf die Zwänge der alles beherrschenden Ökonomie. Die Kinder sollen, von den Eltern in aller Regel mit Nachdruck dazu angehalten, sich - natürlich - für jene Arbeitsstellen zur Verfügung stellen, die "von der Wirtschaft" nachgefragt werden. Und wehe, ein Jugendlicher tanzt aus der Reihe, wird nicht erwartungsgemäss "unabhängig", "selbstverantwortlich", oder wie immer die heute gängigen ideologischen Floskeln für eine erfolgreiche Subalternität und also Unfreiheit umschrieben werden.

Der älteste in der Reihe der Kaufmannsfamilie Buddenbrook, Johann Buddenbrook, hatte den Vorteil, mit dem Getreidehandel beginnen und ihn aufbauen zu können, dieses in einer Zeit - um 1800 herum -, wo noch praktisch keine Monopole oder Oligopole bildenden Konzerne existierten. Seine Nachfolger wurden demgegenüber an dem gemessen, was der Stammvater aufgebaut hatte, mussten unter erschwerten ökonomischen Bedingungen bereits bestehende Fussstapfen ausfüllen, wobei sie oder mindestens die zu Nachfolgern Erkorenen es so auch genau wollten. Sie stellten das Vorgegebene - nicht minder traditionsbehaftet wie das Feudale es war - zu keinem Zeitpunkt in Frage, sondern versuchten, die Familienchronik eindimensional fortzuschreiben: Fortführung der bestehenden Familienherrschaft zu jedem Preis. Letzteren hatten die jeweils abtrünnigen Familienmitglieder zu bezahlen, zu schweigen von der gleichzeitig hungernden breiten Bevölkerung. Es wird Jean Buddenbrook, der zweite Stammhalter sein, der an einem Abend des Jahres 1848 vor das Rathaus tritt, um die revolutionär gestimmte Menge auf deren kindlichen Gehorsam zurück zu stutzen und nach Hause zu schicken. Seine Aktion, von der vor Angst zitternden Bürgerschaft innerhalb des Rathauses mit Applaus bedacht, war Symptom des eigentlichen Problems, der abwesenden kritischen und insbesondere selbstkritischen Reflexionskraft des Bürgertums. Dabei wurde viel, wenn nicht alles verspielt.

Bereits unter Jean Buddenbrook, dem zweiten Patron, war der Familienbetrieb von einem beschwerlichen Geschäftsgang belastet. Mit zunehmendem Alter begann Jean sich davon mittels Flucht ins Religiöse abzulenken, dieses im Einklang mit seiner Frau. Es wurde viel gebetet, das Haus stand offen für durchreisende Kirchenleute, mittwöchentlich wurde im Haus ein "Jerusalemsabend" abgehalten, dieses alles zum unterdrückten Ärger der Kinder. Ora et labora! Es wäre, frei nach Freud und dessen Schrift zur "Zukunft einer Illusion", von einer Schiefheilung vermittels religiöser Bindungen zu sprechen gewesen. Von bürgerlicher Aufklärung, wie sie der erste Johann Buddenbrook ansatzweise noch vertrat, war bereits nicht mehr viel. Das heutige Kleinbürgertum hält keine religiösen Andachten mehr ab, sondern tauscht stattdessen Familienfotos über "whatsapp", betrügt hiermit genauso sich darüber, was wirklich los ist.

Thomas Buddenbrook, der dritte Patron, fand weder einen Ausweg in der Religion noch in der Philosophie noch bei seiner Frau.

Wie bis zur Unkenntlichkeit verändert sein Gesicht sich ausnahm, wenn er sich allein befand! Die Muskeln des Mundes und der Wangen, sonst diszipliniert und zum Gehorsam gezwungen, im Dienste einer unaufhörlichen Willensanstrengung, spannten sich ab, erschlafften; wie eine Maske fiel die längst nur noch künstlich festgehaltene Miene der Wachheit, Umsicht, Liebenswürdigkeit und Energie von diesem Gesichte ab, um es in dem Zustande einer gequälten Müdigkeit zurückzulassen; die Augen mit trübem und stumpfem Ausdruck auf einen Gegenstand gerichtet, ohne ihn zu umfassen, röteten sich, begannen zu tränen - und, ohne Mut zu dem Versuche, auch sich selbst noch zu täuschen, vermochte er von allen Gedanken, die schwer, wirr und ruhelos seinen Kopf erfüllten, nur den einen, verzweifelten festzuhalten, dass Thomas Buddenbrook mit zweiundvierzig Jahren ein ermatteter Mann war.
(Thomas Mann, Buddenbrooks, S. 466)

In ihm (Thomas Buddenbrook, kw) war es leer, und er sah keinen anregenden Plan und keine fesselnde Arbeit, der er sich mit Freude und Befriedigung hätte hingeben können. Sein Tätigkeitstrieb aber, die Unfähigkeit seines Kopfes, zu ruhen, seine Aktivität, die stets etwas gründlich Anderes gewesen war, als die natürlich und durable Arbeitslust seiner Väter: etwas Künstliches nämlich, ein Drang seiner Nerven, ein Betäubungsmittel im Grunde, so gut wie die kleinen, scharfen russischen Cigaretten, die er beständig dazu rauchte... sie hatte ihn nicht verlassen, er war ihrer weniger Herr, als jemals, sie hatte überhand genommen und wurde zur Marter, indem sie sich an eine Menge von Nichtigkeiten verzettelte. Er war gehetzt von fünfhundert nichtswürdigen Bagatellen, die zum grossen Teil nur die Instandhaltung seines Hauses und seiner Toilette betrafen, die er aus Überdruss verschob, die sein Kopf nicht bei einander zu halten vermochte, und mit denen er nicht in Ordnung kam, weil er unverhältnismässig viel Nachdenken und Zeit daran verschwendete.
Das, was man in der Stadt seine "Eitelkeit" nannte, hatte in einer Weise zugenommen, deren er selbst längst begonnen hatte sich zu schämen, ohne dass er imstande gewesen wäre, sich der Gewohnheiten zu entschlagen, die sich in dieser Beziehung entwickelt hatten. Von dem Augenblick an, da er nach einer nicht unruhig aber in dumpfem und unerquicklichem Schlafe verbrachten Nacht im Schlafrock zu Herrn Wenzel, dem alten Barbier, ins Ankleidezimmer trat - es war 9 Uhr, und er hatte sich früher viel zeitiger erhoben - verbrauchte er volle anderthalb Stunden bei seinem Anzuge, bis er sich fertig und entschlossen fühlte, den Tag zu beginnen, indem er sich zum Tee ins erste Stockwerk hinunterbegab. Seine Toilette war so umständlich und dabei in der Reihenfolge ihrer Einzelheiten, von der kalten Douche im Badezimmer bis zum Schluss, wenn das letzte Stäubchen vom Rocke entfernt war und die Bartenden zum letzten Male durch die Brennschere glitten, so fest und unabänderlich geregelt, dass die beständig wiederholte Abhaspelung dieser zahllosen kleinen Handgriffe und Arbeiten ihn jeden Augenblick zur Verzweiflung brachte. Dennoch hätte er es nicht vermocht, das Kabinett mit dem Bewusstsein zu verlassen, irgend etwas davon unterlassen oder nur flüchtig erledigt zu haben, aus Furcht, dieses Gefühl von Frische, Ruhe und Intaktheit verlustig zu gehen, das doch nach einer einzigen Stunde wieder verloren war und notdürftig erneuert werden musste.
Er sparte in allen Dingen, soweit das, ohne sich dem Gerede auszusetzen, tunlich war, - nur nicht in Betreff seiner Garderobe, die er durchaus bei dem elegantesten Schneider von Hamburg anfertigen liess, und für deren Erhaltung und Ergänzung er keine Kosten scheute. Eine Tür, die in ein anderes Zimmer zu führen schien, verschloss die geräumige Nische, die in eine Wand des Ankleide-Kabinetts eingemauert war, und in der an langen Reihen von Haken, über gebogene Holzleisten gespannt, die Jacketts, Smokings, Gehröcke, Fräcke für alle Jahreszeiten und in allen Gradabstufungen der gesellschaftlichen Feierlichkeit hingen, während auf mehreren Stühlen die Beinkleider, sorgfältig in die Falten gelegt, aufgestapelt waren. In der Kommode aber, mit dem gewaltigen Spiegelaufsatz, dessen Platte mit Kämmen, Bürsten und Präparaten für die Pflege des Haupthaares und Bartes bedeckt war, lagerte der Vorrat von verschiedenartiger Leibwäsche, die beständig gewechselt, gewaschen, verbraucht und ergänzt wurde...
(Thomas Mann, Buddenbrooks, S. 612ff.)

Ein grundlegendes Moment des vom Bürgertum betriebenen Widerbürgerlichen besteht im nicht beachteten oder verloren gegangenen Bezug zur Substanz, mit der Folge eines bloss äusserlichen oder eben künstlichen Reproduzierens von Nichtigkeiten, Form ohne Inhalt. Charakteristisch für Thomas Buddenbrook war dessen "Fähigkeit", seine Neurose mit dem Repräsentativen gleichsam zu speisen - an gewissen Tagen wechselte er die Kleider fünf Mal -, sodass sein Verfall den städtischen Kreisen nur wenig auffiel, höchstens zu einem Spott über seine Eitelkeit Anlass gab. Ein Konkurrent gab zum Besten, dass Thomas Buddenbrook an der Börse eigentlich nur noch dekorativ wirke. Immerhin war Thomas Buddenbrook vom Konsul zum Senator aufgestiegen. Es stellt sich freilich die Frage, die Sigmund Freud am Ende seiner Schrift "Das Unbehagen in der Kultur" stellte, nämlich, ob nicht eine ganze Kultur neurotisch werden könne. Die bürgerliche Kultur als eine verkrampft leer laufende, in Wirklichkeit ausgebrannte Maschinerie, fern von jeder lebendigen Substanz? Und alle Bürger bestätigen sich vermittels angepasst-repräsentativer Neurosen ein normales, natürlich überaus gewichtiges Funktionieren. Nicht von bürgerlicher Dekadenz sondern von bürgerlicher Neurose also wäre zu sprechen. Für das heutige Spätbürgerliche ist Analoges, auf welch andere zur Norm erhobene Marotten auch immer bezogen - man denke allein an den ganzen kulturindustriellen Prunkschrott -, zu diagnostizieren.

Es konnte an dieser Stelle - wie die Regel in den hier formulierten Kommentaren - nur darum gehen, auf einen Aspekt der behandelten Sache, hier der "Buddenbrooks", näher einzugehen, und dieses erst noch nur äusserst fragmentarisch. Liest man die "Buddenbrooks" aber unter dem hervorgehobenen Aspekt, dem Aspekt des das Bürgerliche vernichtenden Bürgertums, wird die Lektüre schlagartig unglaublich spannend, umso mehr, als die Problematik aktuell, universal kleinbürgerlich geworden und auf andere Gegenstände bezogen, anhält.