K129 Begriff des Klassismus (Teil 1: Erläuterung)
Mit Hilfe des Einführungsbuchs zum Klassismus von Andreas Kemper und Heike Weinbach

30. Januar 2016

Unter Klassismus wäre in einer ersten Annäherung ein Verhalten zu bezeichnen, durch das Menschen aufgrund ihrer sozialen Stellung (ihrer Klassenlage) diskriminiert werden. Gemäss der schweizerischen Bundesverfassung ist Klassismus verfassungswidrig:

Art. 8 Rechtsgleichheit
Abs. 2 Niemand darf diskriminiert werden, namentlich nicht wegen der Herkunft, der Rasse, des Geschlechts, des Alters, der Sprache, der sozialen Stellung, der Lebensform, der religiösen, weltanschaulichen oder politischen Überzeugung oder wegen einer körperlichen, geistigen oder psychischen Behinderung.
(Hervorhebung durch kw)

Andreas Kemper und Heike Weinbach legten 2009 ein Buch vor, das das Phänomen des Klassismus sehr weitreichend behandelt (Nachweis siehe nachstehend). Bei diesem Buch wäre nicht nur von einer guten Einführung, sondern mehr noch von einem eigentlichen Kompendium zum Klassismus zu sprechen. Die das Phänomen kennzeichnenden Sphären werden in einer ebenso informativen wie aufklärenden Weise ausgeleuchtet.

Die Hauptkapitel sind wie folgt betitelt und gegliedert:

1. Einführung: Was bedeutet Klassismus? (S. 11-32)
2. Geschichte und US-amerikanische Theorien des Klassismusbegriffs (S. 33-52)
3. Historische Widerstandskulturen und Klassismus (S. 53-92)
4. Klassismus im Kontext von Psychologie und Psychotherapie (S. 93-110)
5. Umstrittene Felder (S. 111-172) (... in laufenden Antidiskriminierungsdebatten; in den Bereichen der Bildung, Arbeit, Beziehungs- und Familienstrukturen sowie "Bevölkerung"-Demagogie, kw)
6. Ausblick: Verschiebung von Sehweisen (S. 173-176)
(Kemper/Weinbach 2009; Nachweis siehe nachstehend)

Wie üblich in diesen Kommentaren wird die geführte Diskussion wesentlich auf einen Aspekt beschränkt. Es soll hier primär um den Begriff des Klassismus gehen, wie er im Buch von Kemper und Weinbach primär im 1. Kapitel behandelt wird (wobei indirekt natürlich auch die anderen Kapitel zur Begriffsbestimmung beitragen). Im heute vorgelegten Kommentar geht es in erster Linie um die Erläuterung des Begriffs des Klassismus (Teil 1), und im Kommentar in zwei Wochen um eine kritische Diskussion des Begriffs (dann also Teil 2).

Bevor Andreas Kemper und Heike Weinbach auf verschiedene in der Literatur gegebene Definitionen von Klassismus eingehen, umschreiben sie den Begriff in eigenen Worten:

"Klassismus thematisiert die Geschichte und Gegenwart von SklavInnen, DienstbotInnen, Handlungsgehilfen, TagelöhnerInnen, VagabundInnen, HandwerksgesellInnen, BettlerInnen, ArbeiterInnen, Arbeitslosen, Armen, Working Poor, HausarbeiterInnen, Illegalisierten und ähnlichen Klassenzugehörigen und deren Kindern als eine Realität von Verfolgung, Unterdrückung, Diskriminierung, Ausgrenzung und Widerstand. Klassismusanalysen hinterfragen die Stereotypisierungen und Herabsetzungen, die mit dem sozialpolitischen Status einhergehen und dadurch legitimiert werden." (Kemper/Weinbach 2009: S. 11)

Wesentlich am Begriff des Klassismus - was durch das darin enthaltene "Klasse" ausgedrückt wird - ist zunächst, dass das mit dem Klassismus einhergehende diskriminierende Verhalten gegen Zugehörige einer bestimmten Klasse geht, wobei dieses Verhalten - so muss korrigierend gleich angemerkt werden - die diskriminierten Menschen in die Klasse, genauer die dann so bezeichnete "Unterklasse", gerade zwingt.

Kemper und Weinbach gehen auf den Klassenbegriff ein:

"Im Kontext der Debatten um Klassismus ist (...) ein eigener Klassenbegriff konstruiert worden." (Kemper/Weinbach 2009: S. 13)

Dieser eigene Klassenbegriff wird wie folgt ausgeführt:

"Zum einen wird zwar eine Position der Gruppen, um die es hier vorrangig geht, im Produktionsprozess zum Ausgangspunkt genommen, zugleich geht es aber nie ausschliesslich um diese ökonomische Stellung im Produktionsprozess, sondern immer auch um die Aberkennungsprozesse auf kultureller, institutioneller, politischer und individueller Ebene. Dementsprechend finden wir dort verschiedene Personengruppen (z.B. lateinamerikanische HausarbeiterInnen; Schwarze MinenarbeiterInnen; lesbische Obdachlose; jüdische ALG II-BezieherInnen) mit unterschiedlichen Ausgrenzungserfahrungen wieder, die sich auch überschneiden." (Kemper/Weinbach 2009: S. 13)

Das bedeutet, dass die Klassen von Menschen, die durch Klassismus diskriminiert und dadurch in die "Unterklasse" gezwungen werden, in Klassismusanalysen differenzierter bestimmt werden, das heisst nicht nur - wie in den meisten marxistischen Bestimmungen - gefasst werden als Nicht-Besitzende von Produktionsmitteln respektive Bloss-Besitzende ihrer Arbeitskraft, sondern auch und vor allem hinsichtlich ihrer - was immer darunter jetzt genau zu verstehen ist - Kultur.

"Diese Idee von Klasse beschreibt Menschen, die ökonomisch und kulturell in der Gesellschaft verortet sind bzw. werden und daraus resultierend Diskriminierungs- und Unterdrückungserfahrungen machen." (Kemper/Weinbach 2009: S. 13, Hervorh. durch kw) ... und die dadurch, so wäre beizufügen, erst recht zum Mitglied der "Unterklasse" degradiert werden.

Vor dem Hintergrund, dass die heutige Gesellschaft mehr als Schicht- denn als Klassengesellschaft bezeichnet wird, könnte man darauf kommen, dass Klassismus sich weniger am Klassenbegriff als vielmehr am Schichtbegriff orientieren sollte. Damit ginge nun aber, so Kemper und Weinbach, ein zentraler Gehalt des Klassismus verloren, der durchaus ökonomischer Art ist und sich auf die Ausbeutung bezieht:

"In diesem Zusammenhang ist 'Ausbeutung' ebenfalls ein zentraler Begriff, weil er das Benutzen und Funktionalisieren von Menschen zu thematisieren erlaubt. 'Der Klassenbegriff ... bezeichnet eine Gegensatzbeziehung auf Basis verschiedener Interessen; er impliziert Konflikt, Kampf oder Auseinandersetzung auf verschiedenen Ebenen gesellschaftlicher Realität sowie eine Dimension des Politischen. Die entscheidende Differenz zum Schichtbegriff ist aber wohl 'Ausbeutung' ...' (Frerichs 1997, 30). Mit Ausbeutung sind 'Ausbeutungsbeziehungen aufgrund verschiedener Ressourcenausstattungen' gemeint. Dadurch wird ein System sozialer Ungleichheit produziert, welches sich nicht allein durch die materiell strukturierten Ausbeutungsverhältnisse aufrecht erhalten lässt, sondern mit dem Begriff 'social class' auch so beschrieben werden kann, dass es sich um Gruppen von Menschen handelt, die durch Zuschreibungen von aussen und Selbstzuschreibungen als soziale Gruppe (oder eben Klasse, kw) konstituiert werden." (Kemper/Weinbach 2009: S. 15)

Klassismus in diesem Sinn meint ein kulturell ausdifferenziertes Ausbeutungsverhalten gegenüber einer Gruppe von zur "Unterklasse" diskriminierten Menschen. Wesentlich in den Analysen von Klassismus ist die Erweiterung der in den Blick genommenen Ausbeutungsdimensionen über das Ökonomische hinaus auf das Kulturelle:

"Wenn von Klassismus gesprochen wird, liegt die Annahme zugrunde, dass mit dem ökonomischen Status in der Gesellschaft unterschiedliche ausserökonomische Anerkennungsformen und Wertschätzungen einhergehen. Dementsprechend wird Klassismus definiert als: 'Das institutionelle, kulturelle und individuelle Repertoire an Praxen und Vorstellungen, durch die Menschen aufgrund ihres unterschiedlichen ökonomischen Status' ein unterschiedlicher Wert zugeschrieben wird; dies im Kontext eines ökonomischen Systems, durch das massive Ungleichheit bis hin zu Armut produziert wird' (Adams 1997)." (Kemper/Weinbach 2009: S. 15)

Kemper und Weinbach erläutern die Erweiterung zum Kulturellen mittels der folgend zitierten Definition:

"Klassismus ist die systematische Unterdrückung der armen Menschen und der Lohnabhängigen durch diejenigen, die Zugang zur Kontrolle der für alle zum Leben notwenigen Ressourcen haben. Klassismus wird ebenso aufrechterhalten durch ein Glaubenssystem, indem Menschen aufgrund ihres ökonomischen Status', ihrer Kinderzahl, ihres Jobs, ihres Bildungsniveaus hierarchisiert werden. Klassismus sagt, dass Menschen aus einer höheren Schicht klüger sind und sich besser artikulieren können als Menschen aus der Arbeiterklasse oder arme Menschen. Es ist eine Art und Weise, Menschen klein zu halten - damit ist gemeint, dass Menschen aus der höheren Klasse und reiche Menschen definieren, was 'normal' oder 'akzeptiert' ist. Viele von uns haben diese Standards als die Norm akzeptiert, und viele von uns haben den Mythos geschluckt, dass die meisten im Land zur Mittelklasse gehören. (Handbook of Nonviolent Action)" (Kemper/Weinbach 2009: S.16f.)

Zum kulturellen Moment des Klassismus gehört, dass in ihm bestimmte Normen gegen die Gruppe der zur "Unterklasse" diskriminierten Menschen durchgesetzt, ihnen übergestülpt werden, was die vonstatten gehende Diskriminierung rechtfertigen soll:

"So sind der Nichtzugang zu Arbeit, die niedrige Entlohnung, unwürdige Arbeitsbedingungen und lange Arbeitszeiten Formen der Diskriminierung. Diese werden aber von den besitzenden und politisch herrschenden Klassen für richtig befunden (und normativ als richtig durchgesetzt, kw). Denn es wird unterstellt, dass diejenigen, die diese Arbeiten verrichten, ihre Chancen, es anders zu machen und sich eine andere Arbeit zu suchen, nicht nutzen oder genutzt haben, weil sie, so die kulturellen stereotypen Konstruktionen, 'zu faul', 'zu dumm', 'zu bequem', 'zu ungebildet', 'zu unqualifiziert' (Barone, o.J., 12ff.) etc. seien, sie letztlich durch die unterstellte Kultivierung und Inszenierung dieser Eigenschaften selbst die Schuld für ihre Situation trügen." (Kemper/Weinbach 2009: S. 17f.)

Klassismus stellt so gesehen ein auf ökonomischer Ausbeutung basierendes normatives Hegemonialverhalten dar. Das Perfide daran besteht darin, dass es wirklich hegemonial ausgerichtet ist, weshalb zu ihm wesentlich auch die Erwartung gehört, dass die durchgesetzten normativen Vorstellungen auch von den zur "Unterklasse" diskriminierten Menschen übernommen respektive internalisiert werden. ArbeiterInnenkinder wollen den hegemonial durchgesetzten Mittelschichtsnormen genügen, vermögen es infolge des gegen sie gewendeten Klassismus mehrheitlich nicht und entwickeln diesbezügliche Defizit- und Schuldgefühle, was dem Klassismus hinwiederum zur Rechtfertigung dient ("Ihr anderen, die es nicht geschaafft habt, seid selber schuld."). "Barone beschreibt die Verinnerlichungsprozesse von Abwertungen als Missbrauch (...)." (Kemper/Weinbach 2009: S. 22)

Die ganzen normativen Vorstellungen, mit denen der Klassismus die ausgebeutete Klasse von Menschen abwertet, zur "Unterklasse" erst richtig macht und damit gleich ein weiteres Mal diskriminiert, werden untermauert von monströsen Ideologien, welche die mit den Abwertungen gesetzten Unterschiede als naturgegeben respektive kulturgegeben festschreibt. "Unter Naturalisierung ist zu verstehen, dass gesellschaftliche Probleme, die durch soziale Aushandlungsprozesse gelöst werden müssten, ins Reich der Natur verbannt werden und damit als unverhandelbar gelten." (Kemper/Weinbach 2009: S. 24) In der Kulturalisierung werden "die zu verhandelnden Widersprüche nicht in die 'Natur' verbannt, sondern in die 'Kulturen', die quasi naturgegeben, auf jeden Fall aber nur sehr langsam wandelbar sind" (Kemper/Weinbach 2009: S. 25). Im Klassismus wird dann etwa simpel festgestellt - hier wäre erst von wirklicher Dummheit zu sprechen -, dass Intelligenz natürlich vererbt werde, was dann heisse, dass in der dann so bezeichneten "Neuen Unterklasse" oder "Neuen Unterschicht" - die Ausdrücke werden im Klassismus geradezu als Synonyme für "Unkultiviertheit" oder für "ungesunde Kultur" verwendet - die unterstellte Dummheit von Generation zu Generation weiter vererbt werde und deshalb bestehen bleibe. Es wird in der Folge mehr oder weniger unverblümt von den gemäss dieser Ideologie Argumentierenden auch gefordert, dass die zur "Unterklasse" diskriminierten Menschen weniger Kinder haben sollten. Kemper und Weinbach zitieren die Aussage eines Bundestagsabgeordneten der FDP aus dem Jahr 2004: "In Deutschland bekommen die falschen die Kinder." (zitiert von Kemper/Weinbach 2009: S. 156)

Die Normen, die vom Klassismus durchgesetzt werden und dazu dienen, die ökonomische Ausbeutung der zur "Unterklasse" diskriminierten Menschen zu rechtfertigen, werden ihrerseits somit gestützt von monströsen Ideologien. Im ersten Moment wundert man sich, dass diese Ideologien wie eben etwa die der Vererbung der Intelligenz geglaubt werden. Menschen, die keine Alternative zu der von ihnen mitgetragenen Ausbeutung sehen, dürften jedoch rasch jedem noch so obskuren Glauben folgen, solange er der Rechtfertigung ihres eigenen unmenschlichen Tuns dienlich ist.

Aber der Glaube hat unmittelbare Folgen, etwa im Schulbetrieb: "So hat zum Beispiel die Unterstellung, ArbeiterInnen oder Arbeitslose oder Arme seien 'dumm' zur Konsequenz, dass LehrerInnen SchülerInnen aus diesen Familien anders behandeln und ihnen nicht den Besuch einer höheren Schule zutrauen. Oder in einer politischen Gruppe wird gesagt, die Person mit dem akademischen Abschluss solle die Rede halten, weil sie eher ernst genommen würde. Es handelt sich bei der Herstellung von Klassismus also um einen komplexen, teils bewussten, teils unbewussten Prozess der Herstellung von hierarchischen Bewertungssystemen, abgeleitet aus der Klassenzugehörigkeit oder manchmal auch aus der vermuteten (zum Beispiel aufgrund von Kleidung, Sprache) Klassenzuschreibung." (Kemper/Weinbach 2009: S.19)

Der Klassismus diskriminiert die gesellschaftlich am meisten ausgebeuteten Menschen als die "unten", bestimmt demgegenüber die die Ausbeutung Mittragenden und mehr oder weniger davon Profitierenden als die "oben". Kemper und Weinbach weisen darauf hin, dass diese willkürliche Scheidung in "oben" und "unten" im Klassenbegriff der Aufklärung nicht enthalten ist:

"Ursprünglich stammt der Begriff 'Klasse' aus der Aufklärung. Er wurde zunächst als Bezeichnung für die Einteilung naturwissenschaftlicher Phänomene benutzt, beispielsweise in Linnés 'Classes Plantarum' (Die Klassen der Pflanzen). Der horizontale Begriff 'Klasse' löste den vertikalen Begriff 'Stand' der Feudalgesellschaft ab. Das Ständedenken war eng verknüpft mit der kirchlichen Gebäudearchitektur, in der die 'höheren' und 'niedrigen' Stände bis auf zentimetergrosse Unterschiede symbolisch abgebildet wurden. Wer in der gesellschaftlichen Hierarchie 'höher stand', bekam auch einen höheren Stand in der Kirche zugewiesen. Es gab Kirchengebäude, die über einen Rost im Altarraum verfügten, in dem die Predigt stattfand. Darunter stand das 'niedere Volk', um von dort an den Segnungen der Kirche teilzuhaben: Oben war Gott näher, oben war der Himmel, unten die Hölle (Herrnstadt 1965, S. 11ff.). Zwar ist auch der Klassenbegriff nicht gegen eine 'Oben-Unten'-Hierarchie gefeit, was schon an der Redeweise 'obere Klassen / untere Klassen' deutlich wird. Aber im Klassenbegriff selbst ist im Gegensatz zum Begriff Stand diese Hierarchie nicht angelegt. Und erst Recht verhält sich der Klassenbegriff neutraler zu einer wertenden Dichotomie als der Schichtenbegriff. Wenn der Klassenbegriff in Oben-Unten-Dichotomien benutzt wird (...), dann bezieht er sich eher auf das Schichtmodell, wie es von Theodor Geiger 1932 entwickelt wurde." (Kemper/Weinbach 2009: S. 26f.) Mit Bezug auf den Klassenbegriff des 19. Jahrhunderts stellen die AutorInnen fest, "dass in der Hegelschen Dialektik und folglich im Marxismus die Front nicht zwischen 'Oben' und 'Unten' verläuft, sondern zwischen Bourgeoisie und Proletariat, die als Gegner auf einer Ebene kämpfend gedacht werden und deren Widerspruch in der Diktatur des Proletariats aufgehoben werden soll. Es gibt also nur eine 'Aufhebung' im geschichtlichen Verlauf, aber kein gleichzeitiges 'Oben' und 'Unten'. Die Klassen stehen im Widerspruch nebeneinander." (Kemper/Weinbach 2009: S. 28)

Das bedeutet für den Klassismus dann aber, dass in ihm, als hegemonial ein 'Oben' und ein 'Unten' wertend festschreibend, ein verkehrter Bezug auf den in Wirklichkeit horizontalen Klassenbegriff bestimmend ist. Es scheint, als wenn im Klassismus die sozialen Schichten mittels eines reaktionär aufgefassten Klassenbegriffs in vertikal angeordnete Klassen verfestigt oder gar eingefroren werden wollen, was dem als Neofeudalisierung oder Refeudalisierung bezeichneten Prozess entsprechen würde. Auf den im Klassismus willkürlich-verkehrten Bezug auf den Klassenbegriff gehen Kemper und Weinbach nicht näher ein.

Worauf die beiden AutorInnen aber hinweisen, ist die Problematik etwa der Ungleichheitsforschung, wonach diese die für den Klassismus typischen Diskriminierungen von Menschen zu denen "unten", zur "Unterschicht", "Unterklasse" usw. allein mit den verwendeten Begriffen unbewusst reproduziert (vgl. Kemper/Weinbach 2009: S. 27). Klassismus ist etwas in der Sprache allgemein Verfestigtes, sodass die Gefahr gross ist, dass er allein schon durch das Sprechen über Ungleichheiten und Diskriminierungen reproduziert wird. Kemper und Weinbach zitieren dazu eine Aussage von Anja Meulenbelt. Meulenbelt machte 1988 mit einem Buch unter dem Titel: "Scheidelinien. Über Sexismus, Rassismus und Klassismus" (Reinbek bei Hamburg 1988) als erste im deutschsprachigen Raum auf den Begriff des Klassismus aufmerksam. Sie schreibt:

"Wie sehr Unterdrückung und Sprachgebrauch miteinander verwoben sind, zeigt sich schon, wenn man versucht, auf eine nicht 'klassistische' Art zu schreiben. Wenn man die bestehende Ungleichheit nicht dadurch verfestigen will, indem man abwertende Begriffe den Menschen gegenüber benutzt, die aufgrund ihrer Klasse unterdrückt werden. Die Klassenverhältnisse spiegeln sich in ihrer Sprache wider. (Meulenbelt 1988, 63)" (zitiert in: Kemper/Weinbach 2009: S.29) Klassismus steckt auch nicht nur in der Sprache, sondern in der Kultur, den Institutionen im Allgemeinen: "Klassismus spiegelt sich in Gesetzen, in Architekturen, Hausordnungen, Vorschriften, Zulassungen, Gehaltsgruppen, No-Go-Areas, in der Stadt- und Verkehrspolitik, im Umweltschutz, in der Familien- und Bildungspolitik, in der Gesundheitspolitik, im Militär, der Nachrichten- und der Unterhaltungsindustrie wider. Es gibt keinen gesellschaftlichen Bereich, keine Institution, die nicht auch klassistisch geprägt ist und Erzählungen über die Geschichte des Klassismus in sich birgt." (Kemper/Weinbach 2009: S.30)

Die Menschen nun aber, die durch den Klassismus zur "unkultivierten Unterklasse" diskriminert werden, machen durch explizite oder auch implizite Widerstandsaktionen immer wieder darauf aufmerksam, dass dem, was ihnen unterstellt wird, genau nicht ist, sie durchaus über Kultur, und zwar gar über eine eigene, durchaus kultivierte Kultur verfügen. Erst durch solche, von Kemper und Weinbach als antiklassistisch bezeichneten Widerstandsaktionen kann der Klassismus, der überall immer nur latent, dafür aber umso grundlegender sich durchsetzt, manifest gemacht werden. Man könnte die Geschichte vom Hausbesitzer Meier nacherzählen, der im Gespräch mit einem ihm lieb gewordenen Mieter sich lautstark über die Flüchtlinge ennerviert, worauf der Mieter traurig zu bedenken gibt: "Aber Herr Meier, ich bin doch auch Flüchtling."

Kemper und Weinbach berichten von manifesten Widerstandsaktionen, in deren Rahmen der Begriff des Klassismus kritisch überhaupt erst geprägt wurde: "Die Geschichte des Klassismusbegriffs ist eng mit US-amerikanischen sozialen Bewegungen verknüpft. Bereits in den 1970er Jahren wurde in den jeweiligen Bewegungen, in der Frauenbewegung, in der antirassistischen Black Power Bewegung, in der Lesbenbewegung über die Mehrdimensionalität von Diskriminierungsstrukturen nachgedacht. Damit wurde der Grundstein für die seit den 1990er Jahren einsetzende Intersektionalitätsforschung (Untersuchungen zur Überschneidung und zum Zusammenhang unterschiedlicher Diskriminierungsformen) zunächst in den Debatten über Sexismus und Klassismus sowie Rassismus und Klassismus in den USA gelegt. (...) Die ersten Aufzeichnungen des Begriffs 'Klassismus' finden sich 1974 in Texten der Lesben-Gruppe 'The Furies', in der ArbeiterInnentöchter mit Nachdruck ihre Diskriminierung aufgrund ihrer sozialen Herkunft thematisierten." (Kemper/Weinbach 2009: S. 33) Der Begriff des Klassismus wurde damit also im Zuge der sozialen Bewegungen der 1960er und 1970er Jahre, parallel und zusammen mit Begriffen wie Rassismus, Sexismus oder auch Heterosexismus entwickelt. Selbstverständlich bestanden alle mit diesen Begriffen bezeichneten Diskriminierungs- und Unterdrückungsformen schon für Jahrhunderte vor den Begriffsbildungen. Es ist gerade eine Stärke des Buchs der beiden AutorInnen, dass sie Widerstandsbewegungen gegen den Klassismus in der Geschichte und also für eine Zeit nachspüren, in der noch niemand von Klassismus sprach, zuerst natürlich in den historischen ArbeiterInnenkulturen (vgl. Kemper/Weinbach 2009: Kap. 3)

Für den neu geprägten Begriff des Klassismus war die besagte Mehrdimensionalität von Diskriminierungsstrukturen, worin der Klassismus dann eine Dimension bildet, von zentraler Bedeutung. Kemper und Weinbach heben den Begriff des Klassismus auch diesbezüglich von dem bei vielen Marxisten im Zentrum stehenden Klassengegensatz oder Klassenwiderspruch ab. So werde der Klassismus, da intersektional aufgefasst, "weder isoliert wahrgenommen, noch dieser Diskriminierungsform jemals ein Vorrang zugesprochen. Diese Sichtweise unterscheidet sich von einigen marxistischen Theorietraditionen, die den Klassenwiderspruch als Hauptwiderspruch darstellen." (Kemper/Weinbach 2009: S. 35) Zudem wird der Klassismus - wie schon angesprochen, aber im Zusammenhang mit der Multidimensionalität nochmals hervorzuheben - nicht wie der Klassengegensatz auf die Frage von Ökonomie und ökonomischer Stellung reduziert, als wären die ArbeiterInnen bloss "streikende Maschinen im System Kapitalismus" (ebda, S. 54), sondern es werden ihre vielfältigen kulturellen Interessen und Lebensformen, die in aller Regel eben mitunterdrückt sind, gleichgewichtig miteinbezogen. In diesem Sinn wird von einer "ArbeiterInnenkultur" gesprochen, die sich historisch aus "pluralen Bausteinen" (ebda, S. 54) speise, und gerade nicht bloss - wie etwa in Engels' "Lage der arbeitenden Klasse in England" - als "extrem depravierte Klasse" ohne jegliche Kultur vorgestellt werde (vgl. ebda, S. 63). Wesentlich im Antiklassismus wie zugleich im Antirassismus und Antisexismus ist dementsprechend die Anerkennung der unterdrückten Kultur als solche (etwa die Kultur der Armen oder der Obdachlosen), ohne das materielle Elend deshalb beschönigen zu wollen (vgl. ebda, S. 64). "Wo Menschen als Gleiche anerkannt und erkannt werden, und nicht (wie im Klassismus, kw) fremd und anders gemacht werden (...), wird auch die Legitimation für Ausgrenzung geschwächt." (Kemper/Weinbach 2009: S. 64)

Die Verbindung zwischen den unterschiedlichen Ausgrenzungsmechanismen wird am markantesten, so Kemper und Weinbach, vom neuen "Social-Justice-Projekt" transparent gemacht, einem Projekt für das die Philosophie von Iris Marion Young von überragender Bedeutung ist (ebda: S. 48f.). "Das hierfür unmittelbar relevante Buch von Iris Marion Young trägt den Titel: 'Justice and the Politics of Difference'." (Kemper/Weinbach 2009: S. 48) Und weiter: "(F)ür Young (fällt) der Begriff der Gerechtigkeit in eins mit dem Begriff des Politischen, insofern Politik alle öffentlichen, institutionellen Bereiche umfasse, alle Ebenen der Entscheidungsproduktion, des öffentlichen Handelns, der sozialen Praktiken und Verhaltensweisen sowie der kulturellen Praxen. Politik in diesem Sinne bezieht sich auf Staat und Regierungen, kann aber ebenso auf jede Art von Institution bezogen werden (...). Social Justice eröffnet ein breites Spektrum für das Ineinander- und Zusammendenken unterschiedlicher Unterdrückungs- und Diskriminierungsformen als strukturelle Machtverhältnisse. Begriffe wie Rassismus, Sexismus, Heterosexismus, Antisemitismus, Behindertenfeindlichkeit (Ableism), Klassismus, Diskriminierungen aufgrund von Alter (Ageism, Adultism) u.a. dienen der Beschreibung und Thematisierung von struktureller Ausgrenzung, mit denen Menschen konfrontiert sind." (Kemper/Weinbach 2009: S. 49)

Mit den durch den Klassismus hegemonial gesetzten Normen wird das von diesen Normen Abweichende unterdrückt und zur "Unkultur" oder zur "Unterklasse" zählend diskriminiert (z.B. differierende Hautfarbe, differierende sprachliche Diktion, differierende sexuelle Orientierung, differierender religiöser Hintergrund, differierende soziale Schicht usw.). Die Widerstandskulturen setzen sich dem dadurch entgegen, dass sie im Gleichen sowohl die Unterdrückung und Diskriminierung des Differenten sichtbar machen als auch aufzeigen, dass das Differente einem genauso zur Kultur gehörigen Moment entspricht. Das bedeutet begrifflich, dass in Kritik des Klassismus immer sozusagen beide Kulturen gleichzeitig im Blick behalten werden sollten, die vorherrschend klassistische Kultur einerseits und die unterdrückte Kultur andererseits. Kemper und Weinbach weisen darauf unter Bezugnahme auf die Cultural Studies hin: "Denn dort, wo mit dem Kulturbegriff der Blick auf unterschiedliche Wertesysteme in der Gesellschaft gerichtet wird, können auch die damit verbundenen Auf- und Abwertungssysteme sowie die hegemonialen Kulturstrukturen und ihre Hintergründe untersucht werden, ohne erneut in Ab- und Aufwertungssysteme zu verfallen." (Kemper/Weinbach 2009: S. 65)