K131 | Erfahrung Der alte Mann und das Meer von Ernest Hemingway 27. Februar 2016 |
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Ernest Hemingway (1899 - 1961) veröffentlichte seine Novelle The Old Man and the Sea im Jahr 1952 (Nachweis nachstehend). Dafür erhielt er 1953 den Pulitzer-Preis. 1954 wurde Hemingway mit dem Nobelpreis für Literatur geehrt. Das Verhältnis von Naturbeherrschung und Erfahrung ist ein komplexes. Zum einen ermöglichen die naturbeherrschenden Techniken (man denke im gegebenen Zusammenhang an die Schiffahrt oder das Handwerk des Fischens) Erfahrungen (mit dem Meer und seinen Bewohnern, mit fernen Ländern), zum andern verunmöglichen naturbeherrschende Techniken Erfahrungen dann, wenn die Techniken eine den Alltag dominierende Routine bilden und gar zum blossen mühseligen Mittel zur Bestreitung des Lebensunterhalts werden. Gegen diese, dementsprechend als erfahrungswidrig zu bezeichnende Naturbeherrschung wäre, zugunsten von Erfahrung, praktisch reflexiv anzugehen, wobei dadurch Denken und Reflexion selber - entgegen dem identifizierend Routinemässigen - notwendig durcheinander geraten. Darauf weist Ernest Hemingway - so die hier auszuführende Annahme - mit seinem alten Mann und dem Meer hin. |
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Der alte Mann hofft auf einen besonderen Fisch, doch es beisst auf seinen Fahrten über Wochen keiner an. Immer mehr erscheint er wie ein sein Metier nicht mehr beherrschender alter Mann, fast schon, wie wenn er kein Fischer mehr wäre. Die anderen Fischer belächeln ihn. Was aber ist ein Fischer? Der alte Mann rudert trotz seiner Erfolglosigkeit jeden Morgen hinaus, auch nach vierundachtzig erfolglosen Tagen. Er legte die Riemenschlaufen über die Dollen, stemmte sich gegen den Widerstand der Ruderblätter im Wasser und begann im Dunkeln aus dem Hafen zu rudern. Andere Boote von den anderen Stränden fuhren mit ihm hinaus, und der alte Mann hörte das Eintauchen und Ziehen ihrer Ruder, sah sie aber nicht, da der Mond jetzt hinter den Hügeln stand. (A)ls es anfing hell zu werden, sah er, dass er schon weiter draussen war, als er gehofft hatte. (Hemingway, S. 39) |
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Ernest Hemingway
(engl.: 1952) Der alte Mann und das Meer. Aus dem Englischen von Werner Schmitz. |
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Die gesuchte Konfrontation mit dem Meer, der Erfahrung, dem möglichen Glück wird vom alten Mann so gut wie möglich vorbereitet: Er sah ins Wasser und beobachtete die Leinen, die senkrecht in der dunklen Tiefe verschwanden. Niemand hielt sie so gerade wie er, sodass in jeder Schicht im Dunkel des Stroms ein Köder genau dort lauerte, wo er ihn für die Fische, die dort schwammen, haben wollte. Andere liessen sie mit der Strömung treiben, und manchmal hingen sie auf sechzig Faden, während der Fischer dachte, sie wären auf hundert. Auch die Fische haben ihre Launen und ihr mehr oder weniger grösseres Zutrauen, Erfahrung auch, vielleicht sogar Erfahrung mit im Wasser stehenden Ködern. Der alte Mann gelangt dank eines nach Fischen jagenden Vogels in die Nähe eines Schwarms von Thunfischen, fängt auch einen, hofft jetzt umso mehr auf einen grösseren Fisch. In dem Augenblick sah er einen der aus dem Wasser ragenden grünen Stöcke mit einem Ruck untertauchen. Der alte Mann spricht sofort mit dem anbeissenden Fisch, überlegt sich, was dieser tut, wie gross er ist, was er ist, ohne ihn zu sehen, alles anhand der Leine, des Drucks der Leine. Und wie der Fisch in die Tiefe schwimmt, lässt er die Leine laufen. Vielleicht wäre gutes Handwerk zu umschreiben mit dem Gespür für den Gegenstand, der Fähigkeit, mit ihm vermittels die Praxis (des Handwerks) zu sprechen, selber dabei aber beweglich zu bleiben, offen für Neues. Es wird ein langer und harter Zweikampf zwischen dem alten Mann und dem Fisch, wozu hier nun aber gehört, was ihn von instrumenteller Naturbeherrschung unterscheidet, dass der alte Mann in den Fisch sich einfühlt. Dann bekam er allmählich Mitleid mit dem grossen Fisch, den er am Haken hatte. Er ist wunderbar und seltsam und weiss wie alt, dachte er. Nie hatte ich einen so starken Fisch und einen, der sich so seltsam benommen hat. Vielleicht ist er zu klug zum Springen. Mit einem Sprung oder einem wilden Ausbruch könnte er mich vernichten. Aber vielleicht war er schon oft am Haken und weiss, dass er seinen Kampf so führen muss. Er kann nicht wissen, dass er es nur mit einem einzigen Mann zu tun hat und dass es ein alter Mann ist. Aber was für ein grosser Fisch er ist, und was er auf dem Markt bringen wird, falls sein Fleisch gut ist. Er hat den Köder genommen wie ein Männchen, und er zieht wie ein Männchen, und an seinem Kampf ist nichts Panisches. Ich möchte wissen, ob er irgendwelche Pläne hat oder ob er genauso verzweifelt ist wie ich? Der alte Mann versucht den Fisch zu verstehen und von ihm aus zu denken, sicher auch, um seine Chancen abzuwägen, im Gleichen jedoch, um mit ihm, noch bevor er ihn tötet, sich zu versöhnen. Die Verzweiflung des alten Mannes rührt daher, dass er spürt, dass der Fisch alles von ihm abfordern wird, seine Mittel kaum hinreichen werden, er ihn aber auch nicht ziehen lassen kann. Schon gar nicht in der gegebenen Konstellation, wo er während fünfundachtzig Tagen nichts fing. Einmal landet ein kleiner Vogel auf dem Boot des alten Mannes: 'Ruh dich schön aus, kleiner Vogel', sagte er. 'Dann leg los und nutz deine Chance wie jeder Mensch, Vogel oder Fisch.' Die Menschen brauchen die anderen Lebewesen nicht nur, um sich von ihnen zu ernähren oder um sie sich nutzbar zu machen oder um in ihnen sich zu spiegeln, sondern mehr noch, um an deren Würde zu erkennen, was Würde ist, dass Würde dem je Besonderen, nicht dem Allgemeinen entspringt. Der grosse Fisch, der das Boot des alten Mannes durch den Tag und durch die Nacht zieht, zeigt sich in seiner Besonderheit. Sie zu sehen, oder im gegebenen Fall zunächst auch nur zu erspüren, und zwar eben als solche besondere, meint Erfahrung. Dementsprechend ist Erfahrung immer nur als neue. Natürlich setzt sie das Wissen voraus, welche Fische zur gegebenen Jahreszeit in welcher Tiefe jagen, wie gross sie wann sind, wie sie im Allgemeinen aussehen usw. Dieses allgemeine Wissen, auch Erfahrung geheissen, ist eine Voraussetzung für das Erspüren des Besonderen, muss dabei aber, zugunsten des Erfahrenen, zurückweichen, in einem bestimmten Sinn gar negiert werden. Der Fisch ist nicht bloss ein Marlin, so wenig der alte Mann bloss ein Fischer ist. Dieses Negieren von (alter) Erfahrung zugunsten von (neuer) Erfahrung erfolgt spontan. Nehmen die Arbeiter auf den riesigen Fischkuttern, welche die Fische industriell fangen, töten und verarbeiten, die Würde der einzelnen Fische noch wahr? Wohl kaum. Aber auch ein einzelner Fischer in der Lage des alten Mannes hätte routiniert reagieren und die Leine kappen, auf die Erfahrung verzichten können. Er erinnerte sich, wie er einmal einen von einem Marlin-Paar an den Haken bekommen hatte. Das Männchen liess das Weibchen zuerst fressen, und als das Weibchen am Haken war, lieferte es einen wilden, panischen, verzweifelten Kampf, der es bald erschöpfte, und die ganze Zeit blieb das Männchen bei ihm und kreiste über der Leine mit ihm an der Oberfläche. Er blieb so nahe, dass der alte Mann fürchtete, er werde die Leine mit seiner Schwanzflosse durchtrennen, die so scharf war wie eine Sense und von ähnlicher Form und Grösse. Als der alte Mann sie längsseits gezogen und erschlagen hatte, wobei er den Schwertschnabel mit der rauen Kante niederhielt und mit dem Knüppel auf ihren Kopf einschlug, bis ihre Farbe einen Ton annahm fast wie der Hintergrund eines Spiegels, und als er sie dann mit Hilfe des Jungen (der damals dabei war, jetzt nicht, kw) an Bord gezogen hatte, war das Männchen neben dem Boot geblieben. Und als der alte Mann die Leinen klarmachte und die Harpune vorbereitete, sprang das Männchen neben dem Boot hoch in die Luft, um zu sehen, wo das Weibchen war, und spreizte dann die lavendelfarbenen Flügel, seine Brustflossen, und tauchte ab, und all seine breiten lavendelfarbenen Streifen waren zu sehen. Er war schön, erinnerte sich der alte Mann, und er war geblieben. Der alte Mann spricht zu dem auf dem Boot ausruhenden Vogel: 'Bleib in meinem Haus, wenn Du willst, Vogel', sagte er. 'Leider kann ich nicht das Segel hissen und dich mit der leichten Brise, die jetzt aufkommt, an Land bringen. Denn ich bin mit einem Freund hier draussen.' Der Fisch scheint es zu spüren, wenn der alte Mann unaufmerksam wird. Es wird sehr sehr hart für den alten Mann. 'Fisch', sagte er leise, 'ich bleibe bei dir, bis ich tot bin.' Er beginnt auch zu seinem leidenden Körper zu sprechen, seinem Rücken und insbesondere seinen beiden Händen. Sie sollen für ihn die Arbeit tun und in den entscheidenden Momenten richtig reagieren und stark sein. Nicht nur an den Fisch, sondern auch an seinen Körper verliert sich der alte Mann, der in gewisser Weise deren Objekt wird, das Bewusstsein von sich als Denkendem nahezu verliert. Und doch ist das Bewusstsein voll da, aber ganz offen, für die - wenn es abstrakt überhaupt sich sagen lässt - Spontaneität. Der alte Mann spricht zu seiner verkrampften Hand: 'Also', sagte er. 'Du kannst die Schnur jetzt loslassen, Hand, ich mache mit der anderen weiter, bis du mit diesem Unsinn aufhörst.' Er stellte den linken Fuss auf die schwere Leine, die er bis jetzt mit der linken Hand gehalten hatte, und lehnte sich gegen den Zug in seinem Rücken nach hinten. Der alte Mann ist ganz in der Sache, denkt sich - es ist ein Denken über seine eigenen Grenzen hinaus - von ihr aus, für ein erfahrendes Handwerk. Ginge es ihm um blosse Herrschaft, hätte er sich längst schon einem jener Fischkutter angeschlossen. Versöhnung mit der Natur schliesst Naturbeherrschung nicht aus, nimmt diese aber - so weit es eben geht - zurück. Es hat mit der Anerkennung der Würde des anderen zu tun, mit Herstellung von Brüderlichkeit. Die wird sich noch entkrampfen, dachte er. Bestimmt entkrampft sie sich, um meiner rechten Hand zu helfen. Hier sind drei Dinge, die Brüder sind: der Fisch und meine beiden Hände. Sie muss sich entkrampfen. Es ist ihrer nicht würdig, verkrampft zu sein. Der Fisch war wieder langsamer geworden und bewegte sich mit der gewohnten Geschwindigkeit. Am zweiten Tag springt der Fisch zum ersten Mal und der alte Mann sieht, wie riesig und schön er ist, zwei Fuss länger als das Boot. Zum Anbruch des dritten Tags ist der Fisch derart müde geworden, dass er das Boot nicht mehr zu ziehen vermag. Er beginnt zu kreisen. Darauf hat der alte Mann gewartet. Jetzt muss er die Leine einholen, den Fisch näher und näher an sein Boot heranziehen. 'Jetzt ist er auf seiner Runde ganz aussen', sagte er. Ich muss ihn mit aller Kraft halten, dachte er. Die Anstrengung wird den Kreis jedes Mal ein wenig kleiner machen. In einer Stunde sehe ich ihn vielleicht. Jetzt muss ich ihn zermürben, und dann muss ich ihn töten. Der alte Mann zieht den Fisch mit letzter Kraft näher und näher an sein Boot. Wieder überkam ihn Benommenheit, aber er hielt den grossen Fisch weiter, so fest er konnte. Ich habe ihn bewegt, dachte er. Vielleicht bekomme ich ihn diesmal herum. Zieht, Hände, dachte er. Haltet durch, Beine. Bleib klar, Kopf. Bleib klar. Du hast mich noch nie im Stich gelassen. Diesmal drehe ich ihn um. Auch wo man ohne eigentlichen physischen Schmerz an die Sachen sich verliert - wie Friedrich Hölderlin in seiner Lyrik (vgl. Kommentar K45) -, können das Denken und der Sinn, zugunsten der Erfahrung, derart durcheinander geraten, dass der Sinn zum Wahn neigt. Das Analoge scheint im erfahrenden Handwerk möglich. Beim Handwerk dürfte - wenn man so will - die Preisgabe der Physis stärker beteiligt sein, stärker mit dem geistigen Kontrollverlust korrelieren. Allerdings darf mit Bezug auf Friedrich Hölderlin nicht ignoriert werden, dass er enorme Fussmärsche absolvierte und immer sehr viel zu Fuss ging. Jedes Mal, bevor der alte Mann den Versuch startet, den Fisch längsseits zu holen, denkt er, dass dieses jetzt der allerletzte Versuch ist, er zu mehr keine Kraft mehr hat, um es nach dem erneuten Scheitern dann doch wieder, wiederum ein allerletztes Mal, zu versuchen. Sein vielleicht wirklich allerletzter Versuch gelingt. Der alte Mann warf die Leine hin und stellte einen Fuss darauf, hob die Harpune so hoch er konnte und rammte sie dem Fisch mit aller Kraft und noch mit zusätzlicher Kraft, die er gerade gesammelt hatte, in die Seite unmittelbar hinter der grossen Brustflosse, die sich bis zur Brust des Mannes in die Luft erhob. Er fühlte das Eisen eindringen und lehnte sich darauf und trieb es tiefer hinein und drückte mit seinem Gewicht nach. Der Fisch ist tot und der alte Mann auch nahezu, die Novelle Ernest Hemingways aber noch nicht zu Ende. |
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