K139 Wenn Handschlag und Augenkontakt stilisiert werden

27. August 2016

In seiner 1964 gehaltenen Vorlesung über "Philosophische Elemente einer Theorie der Gesellschaft" (Nachweis siehe unten im Kasten) erläutert Adorno den Studierenden die Fabel vom "Löwenvertrag":

Ich möchte Sie, um Ihnen dieses verhältnismässig sehr Drastische, woran ich hier denke, zu erläutern, verweisen auf eine Redensart, eine Floskel, die manchen von Ihnen vielleicht vertraut ist. Das ist nämlich der Ausdruck 'Löwenvertrag'. Das ist also ein Ausdruck, offenbar aus irgendeiner Fabel genommen (...), wenn also der Löwe mit einer Maus einen Vertrag abschliesst, dann wird im allgemeinen die Maus von vornherein dem ungeheur mächtigen Löwen gegenüber im Nachteil sein und ihm das garantieren müssen, was er will, und ausserdem sind seine Mittel zur Sanktion, seine Mittel also den Vertrag durchzusetzen, natürlich unvergleichlich viel stärker, als die der Maus es sind. (...)

Was ich also dabei mit dem Tausch meine, das ist, dass der Tausch der Arbeitskraft gegen den Lohn, den jeder Arbeiter zu vollziehen hat, zwar formell ein freies Vertragsverhältnis ist bei völliger Gleichberechtigung der Kontrahenten, dass aber in Wirklichkeit natürlich der Arbeiter, der, wenn er den Vertrag nicht eingeht, zu hungern hat und nichts zu leben hat, in einem ganz andern Mass durch die objektive Lage, in der er sich befindet, dazu gezwungen ist, jenen Vertrag zu unterschreiben, als der Unternehmer, der im allgemeinen warten kann - als Gesamtklasse gesehen jedenfalls -, bis der Arbeiter also, wie man so sagt, zur Vernunft kommt und auf diese Bedingungen eingeht. Wenn Sie das, was ich Ihnen damit verdeutliche, eine Sekunde lang nun nicht so individuell verstehen, wie ich es eben gesagt habe, sondern wenn Sie extrapolieren auf das gesamtgesellschaftliche Verhältnis, so besagt das nichts weiter, als dass der entscheidende Tauschakt, nämlich der Tauschakt der lebendigen Arbeit gegen den Lohn, in Wirklichkeit bereits das Klassenverhältnis voraussetzt; und durch dieses Klassenverhältnis entscheidend so modifiziert und so gemodelt ist, dass der Schein der Freiheit aller Kontrahenten, der durch das juristische Vertragsverhältnis des Lohnvertrages bewirkt wird, eben tatsächlich nichts anderes ist als ein solcher Schein. Das ist natürlich eine der Marxischen Theorie gegenüber vollkommen herätische Ansicht, weil Marx ja geglaubt hat, gerade umgekehrt die Herrschaft aus dem Tauschverhältnis ableiten zu dürfen. (Adorno (1964), S. 96f.)
Der Tauschakt Arbeitskraft gegen Lohn erscheint frei, ist es aufgrund der unterschiedlichen Ausgangspositionen der beiden Seiten aber nicht. In der Regel hat die seine Arbeitskraft anbietende Seite wenige bis keine Alternativen zur Besiegelung des Vertrags, während die die Arbeitskraft einkaufende Seite fast alle Optionen besitzt: Sie kann zuwarten, unter vielen sich Bewerbenden auswählen, unter Umständen auch ganz verzichten auf die Anstellung einer weiteren Person.

Man stelle heutzutage sich die Situation vor, wo einer langzeitarbeitslosen Person - was schon so freilich nur ganz selten vorkommt - eine Arbeitsstelle wirklich angeboten wird, und die betreffende Person sich die Freiheit herausnimmt, dieses Angebot auszuschlagen. Was für ein Skandal! Diese Person, die ja lediglich von ihrer Vertragsfreiheit Gebrauch macht, wird vom zuständigen Sozialamt - und sogar mit bundesgerichtlicher Stützung - sofort auf die Strasse geworfen. Lediglich formell haben beide Seiten die Freiheit, den Vertrag abzuschliessen oder nicht abzuschliessen (Vertragsfreiheit), in Wirklichkeit gibt es diese Freiheit nur auf der einen Seite.

Wenn man sich nun überlegt, dass die mächtige Seite daran interessiert ist, möglichen Protest von Seiten des Schwächeren an den im Voraus unfairen Grundbedingungenden im Keim zu ersticken, wird sie alles dafür tun, den Tauschakt wie generell das Verhältnis zu den Mäusen möglichst so aussehen zu lassen, als ginge es dabei um ein Verhältnis von gleich zu gleich. Dazu erklärt sie - so der zentrale Gedanke dieses Kommentars - bestimmte Handlungen wie beispielsweise den Handschlag oder den Augenkontakt zu einer geradezu "sittlichen" Handlung, die sie zum Synonym für die Einhaltung von Werten wie eben der Vertragsfreiheit oder allgemein gar der sog. westlichen Werte (Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit) erklärt. Es werde beim Handschlag oder beim Augenkontakt bekräftigt, dass es um nichts mehr als ein Verhältnis von "Mensch zu Mensch" gehe, mit beidseits derselben Geste und demselben angeblich vertrauensvollen gegenseitigen Blick in die Augen. Und wenn der Arbeitsvertrag auf diese Weise besiegelt worden sei, sei er - so die Unterstellung - auch frei zustande gekommen. Mit diesem Umkehrschluss, der die angebliche Verwirklichung der sog. westlichen Werte von der zum "Sittlichen" hochstilisierten Geste ableitet, soll aber eben - so die hier formulierte Kritik - darüber hinweg getäuscht werden, dass diese Werte genau nicht verwirklicht sind und auch nicht verwirklicht werden wollen. Es soll verschleiert werden, dass man es mit Löwen hier (mit multinationalen Konzernen und Holdings; mächtigen Verbänden, riesigen staatlichen Verwaltungen usw.) und Mäusen dort (das heisst Arbeit Suchenden, die ohne jede Rückendeckung dastehen) zu tun hat, also gerade nicht mit Gleichen, nicht mit frei den Handschlag Ausführenden und schon gar nicht mit brüderlich Solidarischen. Dieses alles nun, was in Wirklichkeit nicht sein darf, soll vermittels die Stilisierung von Handschlag und Augenkontakt vorgetäuscht sein, und die schwächere Partei wird auch dazu gezwungen, in den bitteren Apfel dieses angeblich "Sittlichen" zu beissen, muss mit dem Handschlag seine Unterwerfung als frei getätigte erscheinen lassen. Und wehe, die Maus verweigert dem Löwen den Handschlag und mit ihm den Schleier, den jener durch diesen über das Machtverhältnis ziehen will. In einem solchen Fall wird der Löwe sofort die Muskeln spielen lassen und damit wider den zu erweckenden Schein bestätigen, wie unfrei und ungleich das Verhältnis in Wirklichkeit ist (vgl. die in Kommentar K133 zum Riesco-Kurs für Flüchtlinge beschriebene Szene, wo ein Kursteilnehmer dem Kursleiter den Handschlag verweigerte, daraufhin - natürlich - aus dem Kurs geschmissen wurde).

Selbstverständlich macht es Sinn, dort, wo es gegenseitig so verstanden wird, sich gegenseitig aus Höflichkeit die Hand zu reichen oder den Augenkontakt herzustellen, doch soll es dann auch nur eine solche Bezeugung vorstellen und nicht als Garant irgendeines Sittlichen an sich aufgefasst werden. Schulkinder begrüssen einander in der Schule praktisch nie mit Handschlag (auch am ersten Schultag nach den Sommerferien nicht), sondern nehmen sofort mit irgendeinem Satz oder einer Geste den Kontakt auf, und auch erst, wenn sie es gegenseitig für nötig halten. Das ist weiss Gott weder unsittlich noch signalisiert es den Verstoss gegen irgendwelche Werte. Jugendliche haben oft eigene, manchmal sogar geheime Begrüssungszeichen. Von Samuel Beckett wurde irgendwo berichtet (Irrtum vorbehalten), dass wenn er Unterricht gab (was er offenbar tat), er dabei nicht den Studierenden zugewendet, sondern zum Fenster hinaus schauend referierte. Das mag wie eine Unhöflichkeit erscheinen, doch dürfte Beckett den Studierenden sein Verhalten erklärt haben. Vermutlich konnte er auf diese Weise sehr viel besser sich konzentrieren, dadurch ein besseres Referat halten und auch freier (!) zu den Studierenden sprechen. In bestimmten Situationen, wo es um bestimmte Inhalte geht, kann vermiedener Augenkontakt den Kontakt auch befreien und dadurch verbessern.

Umgekehrt ist es möglich, dass Handschlag und Augenkontakt dazu benützt werden, Autorität unvermittelt durchzusetzen. Es gibt Lehrer, die beim Abschied die Hand von zu tadelnden Schülern extra schmerzhaft drücken. Hier ist die Höflichkeit anzeigende Geste unmittelbar in deren Gegenteil verwandelt.

Im folgenden Zitat aus der "Dialektik der Aufklärung" (Nachweis siehe unten im Kasten) wird ein bestimmter Blickkontakt gar als Mittel zur Überwältigung des je andern erklärt. Das Zitat ist etwas länger, um auch den gesellschaftlichen Kontext, in dem eine bestimmte Geste ja auch gedeiht, zur Darstellung zu bringen:

Die Geschlossenheit des Immergleichen wird zum Surrogat von Allmacht. Es ist, als hätte die Schlange, die den ersten Menschen sagte: ihr werdet sein wie Gott, im Paranoiker ihr Versprechen eingelöst. Er schafft alle nach seinem Bilde. Keines Lebendigen scheint er zu bedürfen und fordert doch, dass alle ihm dienen sollen. Sein Wille durchdringt das All, nichts darf der Beziehung zu ihm entbehren. Seine Systeme sind lückenlos. Als Astrologe stattet er die Sterne mit Kräften aus, die das Verderben des Sorglosen herbeiführen, sei es im vorklinischen Stadium des fremden, sei es im klinischen des eigenen Ichs. Als Philosoph macht er die Weltgeschichte zur Vollstreckerin unausweichlicher Katastrophen und Untergänge. Als vollendet Wahnsinniger oder absolut Rationaler vernichtet er den Gezeichneten durch individuellen Terrorakt oder durch die wohlüberlegte Strategie der Ausrottung. Wie Frauen den ungerührten paranoiden Mann anbeten, sinken die Völker vor dem totalitären Faschismus in die Knie. In den Hingegebenen selber spricht das Paranoische auf den Paranoiker als den Unhold an, die Angst vor dem Gewissen aufs Gewissenlose, dem sie dankbar sind. Sie folgen dem, der an ihnen vorbeisieht, der sie nicht als Subjekte nimmt, sondern dem Betrieb der vielen Zwecke überlässt. Mit aller Welt haben jene Frauen die Besetzung grosser und kleiner Machtpositionen zu ihrer Religion gemacht und sich selbst zu den bösen Dingen, zu denen die Gesellschaft sie stempelt. So muss der Blick, der sie an Freiheit mahnt, sie als der des allzu naiven Verführers treffen. Ihre Welt ist verkehrt. Zugleich aber wissen sie wie die alten Götter, die den Blick ihrer Gläubigen scheuten, dass hinter dem Schleier Totes wohnt.

Im nicht paranoischen, im vertrauenden Blick werden sie jenes Geistes eingedenk, der in ihnen erstorben ist, weil sie draussen bloss die kalten Mittel ihrer Selbsterhaltung sehen. Solche Berührung weckt in ihnen Scham und Wut. Der Irre jedoch erreicht sie nicht, selbst wenn er wie der Führer ihnen ins Antlitz blickt. Er entflammt sie bloss. Der sprichwörtliche Blick ins Auge bewahrt nicht wie der freie die Individualität. Er fixiert. Er verhält die anderen zur einseitigen Treue, indem er sie in die fensterlosen Monadenwälle ihrer eigenen Person weist. Er weckt nicht das Gewissen, sondern zieht vorweg zur Verantwortung. Der durchdringende und der vorbeisehende Blick, der hypnotische und der nichtachtende, sind vom gleichen Schlage, in beiden wird das Subjekt ausgelöscht. Weil solchen Blicken die Reflexion fehlt, werden die Reflexionslosen davon elektrisiert. Sie werden verraten: die Frauen weggeworfen, die Nation ausgebrannt. (Horkheimer / Adorno (1944/1947), S. 200f.)

Der freie, vertrauende Blick kann ersetzt sein durch den, "der vorweg zur Verantwortung zieht", das heisst der unterwirft, ohne es freilich so zu bekunden. Um diese Ersetzung geht es denjenigen, die Augenkontakt oder Handschlag zu einem fraglosen sittlichen Instrument hoch zu stilisieren versuchen. Es sind dieselben, die einem mit ihrem Blick fixieren (fehlende Reflexion) oder nur immer an einem vorbei sehen.

Wenn heute dann ein Riesengeschrei veranstaltet wird, wenn irgendwo irgendein muslimischer Junge sich weigert, der Lehrerin die Hand zu reichen, oder wenn irgendwo und irgendwann eine in eine Burka verhüllte Frau durch die Strasse gehen könnte - oder um den von SP-Regierungsrat Mario Fehr jüngst hervorgehobenen Zusatz sinngemäss zu zitieren: "womöglich sogar durch die Bahnhofstrasse!" (die Bahnhofstrasse in Zürich ist - dies nebenbei - eines der Zentren des Kapitalismus) -, dann geht es dabei nicht etwa um die Frage des Islam, die dann ja wirklich zu diskutieren wäre, aber nicht diskutiert sein will, sondern um die Ablenkung von eigenen Defiziten. Wie der Dieb, der, um von sich abzulenken, schreit: "Haltet den Dieb!", versuchen die Hardliner aller grösseren Parteien davon abzulenken, dass die sog. westlichen Werte bei sich selbst gar nicht verwirklicht sind, indem sie schreien: "Schaut mal diese schlimmen Leute dort, wie sie die westlichen Werte und insbesondere die Frauenrechte mit Füssen treten!" Sie lenken davon ab, dass sie selbst entweder Löwe oder - was weit öfters der Fall ist - Maus sein müssen, dieses gar eben auch und nicht zuletzt als "gleichberechtigte" Frau. Während die Gleichberechtigung zwischen Frau und Mann tatsächlich zugenommen haben dürfte, nahmen im Gleichen und infolge einer immer konzentrierter und umfassender gewordenen Ökonomie die Rechte der Menschen insgesamt massiv ab. Die Menschen sind also vielleicht gleichberechtigter, dafür umso durchgehender und durchdringender zu blossen Zahnrädchen im blinden ökonomischen Getriebe, sei als Löwe/Löwin oder als Maus, degradiert. Und weil dieses eben nicht eingestanden, sondern so getan sein will, als wären "hierzulande" Werte wie Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit verwirklicht, obwohl es gar nicht der Fall ist, verhalten sich deren angebliche Verwalter rasch reaktionär, derart reaktionär dann gar, dass auch die Gleichberechtigung ernsthaft wieder in Frage gestellt wird. Zwanghaft wird auf die im Alltag praktisch nie anzutreffende voll verschleierte Frau verwiesen, um auf diese Weise das unbewusst verspürte Defizit fehlender Freiheit, fehlender Gleichheit und fehlender Brüderlichkeit zu verschleiern. Zugleich werden Handschlag und Augenkontakt zum Sittlichen schlechthin stilisiert, wird die Hand umso kräftiger geschüttelt, wird mit den Augen entweder nur noch fixiert oder an den sog. Nichtswürdigen nur noch vorbei gesehen. Die Reaktion bildet sich am Verweis auf angeblich oder tatsächlich Reaktionäres.