K141 | Entfremdung und Fremdes
24. September 2016 |
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Es gibt Begriffe, die im Gleichen einfach und kritisch erscheinen und deshalb gerne als "Schlagwort", das heisst ohne weiteres Nachfragen eingesetzt werden, mit der Folge, dass sie, die in Wahrheit so kompliziert sind wie die Wirklichkeit selbst, rasch sich abnutzen und nur schwer ernsthaft noch verwendet werden können. Zu diesen Begriffen gehört der Begriff der Entfremdung. Der Begriff der Entfremdung bezeichnet nicht einfach nur ein Negatives: die verhinderte Möglichkeit, mit einer Sache vertraut zu werden, sondern birgt in sich zugleich ein Positives. Damit die Menschen ihrer Naturverfallenheit, die in der Urgeschichte der Menschheit mehrere tausend Jahre lang bestand, zu entrinnen vermochten, mussten sie sich fremd machen von der Natur, das heisst die bislang betriebene Anverwandlung an die Natur (Mimesis) ersetzen durch die Fähigkeit der Distanznahme von der Natur. Insofern von Natur in dreierlei Hinsicht zu sprechen wäre: der Natur im Subjekt selbst, der Natur in den jeweils anderen Menschen und der äusseren Natur, musste es zu einer Distanznahme und Entfremdung von der Natur auch in diesen drei Hinsichten kommen. Die Menschen mussten nicht nur der äusseren Natur und den anderen Menschen gegenüber fremd werden, sondern auch sich selbst gegenüber, was ein Selbstbewusstsein aber erst ermöglichte. Diese entfremdende Distanznahme freilich wurde erkauft - was ein Grundthemen der von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno verfassten "Dialektik der Aufklärung" darstellt - mit der instrumentellen Beherrschung dessen, wovon man sich entfremdete, wobei die Fähigkeit zu dieser Beherrschung dann - positivistisch - als Aufklärung bezeichnet wurde. Naturbeherrschung wurde gesellschaftlich institutionalisiert, was meint, dass die Menschen via ihre gesellschaftlichen Institutionen sich vorzuschreiben begannen, wie mit ihrer eigenen Natur, der Natur der anderen Menschen und der äusseren Natur zu verfahren war. Diese gesellschaftliche Überformung verwandelte das Verhältnis der Menschen zum fremd Gewordenen derart in ein Fixiertes, zum Vornherein Festgelegtes, dass den Menschen ein offenes Verhältnis zum Fremden gar nicht mehr möglich war. Diese Festgelegtheit wird von Karl Marx mit Bezug auf die kapitalistischen Naturverwertungsbedingungen als Entfremdung bezeichnet. Georg Lukàcs prägt im Anschluss an Marx den Begriff der "zweiten Natur", womit er die ganzen gesellschaftlichen Konventionen meint, denen die Menschen analog verfallen sind wie urgeschichtlich der ersten Natur. Die zweite Natur entfremdet in dem Sinn, dass die Fremdheit der ersten gar nicht als solche erfahren werden kann. An dieser Stelle drängt regelmässig der reaktionäre Gedanke sich vor, dass in "richtigen" gesellschaftlichen Verhältnissen die Entfremdung von der ersten Natur gar nicht sein müsste, die Menschen sich unmittelbar der "Seinsvergessenheit", wie Martin Heidegger sie nannte, entheben, das Heil im Bodenverbundenen und Rassistischen suchen könnten. Damit wird - was Adorno Heidegger im Detail nachweist - die notwendige Fremdheit zwischen hier den denkenden Menschen und dort der fremden Natur zu bestreiten versucht, wird versucht, die notwendige Vermittlung zwischen beidem mit einem Gewaltsstreich angenommener Unmittelbarkeit für unnötig zu erklären. Das "hier" und das "dort" können aber nur versöhnt werden, wenn sie gegenseitig als fremd sich anerkennen. Eine solche Anerkennung des Fremden als ein die Versöhnung der Menschen mit der Natur genau nicht Verhinderndes sondern im Gegenteil Ermöglichendes scheint den meisten "Entfremdungs"-Theorien nun aber versperrt. Entweder wird die Annahme einer unbeherrschten Triebstruktur prinzipiell verworfen (Ich-Psychologie in der Folge von Erich Fromm; vgl. dazu Kommentar K57) oder es wird von einer einfachen entsublimierenden Integration ausgegangen (Herbert Marcuse). Für die ganze sog. zweite Generation der kritischen Theorie rund um Jürgen Habermas ist alleine die Annahme einer fremden Natur aussen und innen angesichts der angenommenen gesellschaftlich ausdifferenzierten Rationalitätsstrukturen völlig unverständlich, pure Metaphysik. Adorno allein hält zum Fremden: Nur Fremdheit ist das Gegengift gegen Entfremdung.1 Wäre das Fremde nicht länger verfemt, so wäre Entfremdung kaum mehr.2 _______________ 1) In: Adorno, Theodor W.: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben (1944 - 1947). Fr.a.M.: Suhrkamp 1988: S. 118. |
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