K145 | Inwiefern ein Fremder? Zum Roman "Der Fremde" von Albert Camus 26. November 2016 |
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Wie immer, wenn in den Kommentaren auf einen Roman Bezug genommen wird, ist zu betonen, dass es sich um keine Buchbesprechung handelt. Es interessieren lediglich einige wenige kritisch-theoretisch Aspekte. Mit Bezug auf Camus' L'Etranger kann vielleicht sogar allgemein gesagt werden, dass er sich nicht besprechen, sondern nur lesen lässt. Die von Albert Camus gezeichnete Figur, der junge Mann namens Meursault, geht zuverlässig einem Job in einem Unternehmen am Hafen von Algier nach, isst regelmässig bei Céleste, mit dem er sich gut versteht, hat gute Kontakte zu den Nachbarn im Haus, kennt viele Menschen im Quartier und viele kennen ihn. Inwiefern dann aber ist er ein Fremder? |
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Mersault erscheint als Fremder dadurch, dass er allem, was mit Funktionalitäten zu tun hat, gleichgültig gegenüber steht. Diese sind ihm schlicht und einfach egal, zunächst ganz unmittelbar. Wie sein Chef ihn fragt, ob er nach Paris wechseln und die neu zu eröffnende Filiale des Unternehmens leiten möchte, bejaht Meursault, schiebt aber gleich nach, dass es ihm egal sei. Auf die darauf folgende Frage, ob ihn eine Veränderung im Leben nicht reize, antwortet Meursault, dass man sein Leben nie ändere, das eine so gut wie das andere sei und dass ihm das Leben in Algier keineswegs missfalle. Hierauf macht der Chef ein unzufriedenes Gesicht und wirft Meursault vor, immer ausweichend zu antworten, keinen Ehrgeiz zu haben, und dieses wäre im Geschäftsleben katastrophal. Wie Meursault von Marie, seiner Freundin, gefragt wird, ob er sie heiraten will, antwortet er, dass es ihm egal sei, sie es aber tun könnten, wenn sie es wolle. Auf die darauf folgende Frage von Marie, ob er sie liebe, antwortet er, dass das nichts heissen wolle, er sie aber zweifellos nicht liebe. Weshalb er sie dann heiraten wolle, fragt Marie, worauf er entgegnet, dass dieses völlig belanglos sei, sie durchaus heiraten könnten, wenn sie es wünsche, im Übrigen sie es ja sei, die frage, er lediglich ja sagen würde. Wie sie daraufhin zu bedenken gibt, dass die Ehe eine ernste Sache sei, verneint er. |
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Albert Camus
Der Fremde Roman (Original: L'Etranger erstmals erschienen: 1942) In neuer Übersetzung von Uli Aumüller Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch 2009 |
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Mit Funktionalitäten wie beruflicher Veränderung oder Eheschliessung werden bestimmte Gefühle verbunden, die zu verspüren man von den Menschen im Allgemeinen erwartet. Meursault verspürt diese Gefühle nicht. Liebe erscheint ihm wie ein aufgeblasenes Wort, erst recht Ehe. Wie seine Mutter stirbt, die zuletzt in einem Altersheim weit entfernt von Algier lebte, zeigt er keine besonderen Regungen, weint nicht an ihrem Sarg, will sie nicht noch einmal sehen, raucht während der Andacht neben dem Sarg, unterhält sich mit dem Pfleger, schläft während der nächtlichen Andacht ein. Meursault weiss, dass er und seine Mutter, als diese noch bei ihm in der Wohnung in Algier lebte, sich nichts mehr zu sagen hatten, und er weiss auch, dass es der Mutter im Altersheim besser gefiel als zuhause, auch wenn sie nach dem Umzug zuerst noch weinte. Die Beziehung zu seiner Mutter, die schon zuhause nicht mehr richtig bestand, war nach dem Wegzug ins Altersheim endgültig keine mehr. Es ist und war so, und warum sollte er - so Meursault - bei der Beerdigung sich und der Welt etwas anderes vormachen. Natürlich wird Meursault selbst genau so wie die anderen auf Funktionalitäten reduziert, doch sind eben diese Funktionalitäten es auch, die das Leben in seinen Augen derart absurd machen. So wenig er sich den Funktionalitäten entziehen kann und will, so wenig will er sich identifizieren damit. Er weiss, dass in ihnen das Wesentliche des Lebens nicht begründet liegt, macht sich demzufolge nichts draus und mag nicht mitspielen, wenn er im angeblich rechten Moment, je nachdem, konventionell Freude oder Trauer ausdrücken soll. Und dieses, dass er nicht mitspielt, macht ihn zum Fremden. Umso genauer beobachtet er - wie von aussen - auch und gerade das Funktionale, auch sein Funktionales, sich selbst als funktionalen Menschen, spricht (schreibt) über sich, führt letzten Endes gar Selbstgespräche. Einmal sitzt im Restaurant eine Frau gegenüber von Meursault, die alles roboterhaft erledigt, roboterhaft gleich alles aufs Mal bestellt, roboterhaft isst, roboterhaft in einer Zeitschrift mit grosser Sorgfalt fast alle Rundfunksendungen ankreuzt, roboterhaft das Restaurant wieder verlässt. Meursault beobachtet das - wie er es nennt - absonderliche Verhalten der Frau überrascht, folgt ihr auf der Strasse, da er sonst gerade nichts zu tun hat, gar ein Weilchen noch. Auf diese Weise reflektiert er auf den funktional gemachten Menschen, indirekt auch auf sich. Socherart Selbstbesinnung verbindet den Existentialismus von Albert Camus mit kritischer Theorie. Es hat auch zu tun mit der Reihentechnik, worin man auf Ausschmückendes und Anekdotisches verzichtet, wofern es zum Krebsgang der reihe nicht wesentlich dazu gehört. Beim Zusehen der funktionalen Welt und der funktionalen Menschen springen von selbst die Anteile heraus, die nicht der Funktionalität, sondern dem Individuum als Besonderem und der Welt als Besonderer zu verdanken sind. Meursault findet so auch im insgesamt Falschen - noch in der Todeszelle - so etwas wie individuelles Glück, ganz ähnlich übrigens wie bei Imre Kertész, der darauf insistierte, dass ein KZ wie Auschwitz nicht einfach die Hölle darstelle, sondern die Inhaftierten darin lebten und ihre Schritte machten, sich auch mal langweilten oder in einzelnen Momenten sogar Glücksmomente empfanden. Freilich kann und soll es über das ganze Falsche nicht hinwegtäuschen. |
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