K146 Humane Kommunikation
Eine Bestimmung nach einem Essay von Leo Löwenthal

17. Dezember 2016

Es ist momentan viel die Rede davon, welch schlechte kommunikative Kultur in den 'sozialen' Medien, in Blogs, in e-mails usw. vorherrsche und dieses auf allen Ebenen der gesellschaftlichen Hierarchie bis in die Kreise von Präsidentschaftsanwärtern und Präsidenten. Ohne damit die Problematik relativieren zu wollen, sondern im genauen Gegenteil, ist anzumerken, dass der Niedergang der Kommunikation respektive das Überhandnehmen einer immer inhumaneren Kommunikation einer langfristigen geschichtlichen Tendenz entspricht, die bereits Mitte des 19. Jahrhunderts von Intellektuellen beklagt wurde. Darauf weist Leo Löwenthal in einem Essay aus dem Jahr 1969 hin (Nachweis im gelben Kasten). Das Phänomen geht historisch also sehr viel tiefer, ist sehr viel grundlegender und damit um einiges besorgniserregender.

Leo Löwenthal beginnt seinen Essay mit den folgenden Sätzen:

Nahezu jedes Gespräch über Kommunikation mündet heute in eine Kontroverse über die Massenmedien. Die Medien sind jedoch selbstverständlich lediglich Instrumente möglicher Kommunikationen - aus der heutigen Technologie entwickelte Werkzeuge, deren rechte Anwendung in Frage steht. Die Technologie lässt uns über die Umwelt in einem Masse verfügen wie nie zuvor. Jedoch trotz Telephon, Radio, Fernsehen (und, so wäre heute beizufügen: Internet, kw), wachsender literarischer Tätigkeit, steigender Auflagenziffern von Büchern, Zeitungen und Zeitschriften sind wir einsamer als je - und sicherlich scheint unser gemeinsames menschliches Verlangen nach Frieden aussichtsloser als jemals vorher. Die Verkümmerung unseres geistigen und moralischen Erbes war nicht nur begleitet vom quantitativen Anwachsen der Massenmedien in der modernen Gesellschaft, sondern wurde auch ihr Ergebnis. Und insofern behaupte ich, dass das Wissen um diese Problematik für die Erhaltung der Würde und Grösse des einzelnen wesentlich ist. (Löwenthal 1965: 368)

Löwenthal geht davon aus, dass die Kommunikation unter wesentlichem Einfluss der Massenmedien (zuerst Zeitungen und dann Film, Radio und Fernsehen) zu Instrumenten sich entwickelt haben, welche die Menschen je länger je weniger zu kritischer Vernunft und Mündigkeit anregen, sondern umgekehrt zu einem immer konformeren und in der Folge empathieloseren und also inhumaneren Verhalten. Selbstredend finden sich auch in den Massenmedien Formen aufklärender und also humaner Kommunikation, doch sind diese Formen im Verhältnis zum Ganzen von derart geringer Zahl, dass sie in der ganzen Zeitungs-, Film-, Fernseh- oder auch Internetflut praktisch untergehen.

Löwenthal stellt sich die Frage, die ihm gemäss bereits Schriftsteller im England des 18. und 19. Jahrhunderts gestellt haben:

Was geschieht eigentlich, wenn das wahre Ich, diese edle Entdeckung idealistischer Philosophie, romantischer Dichtung und des kapitalistischen Geistes, sich mehr und mehr in die Mechanismen der Konformität und das engmaschige Netz der institutionellen und psychologischen Kontrolle verstrickt? (Löwenthal, S. 374)

Dazu ist es entscheidend, die Bedeutung der Kommunikation für das menschliche Leben, genauer für ein humanes menschliches Leben sich klar zu machen.

Entscheidend für eine humane Kommunikation ist gemäss Löwenthal - wie er es unter Bezugnahme auf Platons Dialoge mit Nachdruck vertritt - die Möglichkeit, über unmittelbare Erfahrung miteinander zu kommunizieren, unmittelbar mit sich selbst und dem Selbst des andern (Löwenthal, S. 372), um auf diese Weise - so möchte man fortsetzen - zu Wahrheiten über das Selbst und das Selbst des anderen gemeinsam zu gelangen, diese Wahrheiten als aufgehobene oder auch objektivierte Erfahrungen ins Bewusstsein, ins Gedächtnis zu heben, so sich ein menschlichen Gewissen zu machen. Der Dialog, der auf unmittelbare Erfahrung Bezug nimmt, zeigt - so Löwenthal - das Kennzeichen des offenen Herzens und des freien Geistes als genaues Gegenteil der Vorurteile und Stereotype, mit denen die Massenkommunikation durchsetzt ist und die ihren Niederschlag finden im Lebensstil der geborgten Erfahrung des modernen Menschen. Das Gedächtnis ist Orientierungspunkt für menschliches oder, besser, humanistisches Verhalten im Gegensatz zu der quasi-biologischen Von-der-Hand-in-den-Mund-Existenz, der sich der moderne Mensch selbst überantwortet zu haben scheint. (...) All diese Konzepte - Gedächtnis, Kommunikation, Philosophie - beruhen letztendlich auf gemeinsamer Erfahrung. (Löwenthal, S. 372f.)

Zur Bekräftigung dessen, dass die humane Kommunikation wesentlich auf gemeinsamer Erfahrung beruht und sie diese gemeinsame Erfahrung als solche überhaupt erst zum Ausdruck kommen lässt, zitiert Löwenthal den Philosophen John Dewey:

Gesellschaft besteht nicht nur durch Übertragung, durch Kommunikation. Es gibt mehr als nur eine verbale Beziehung zwischen den Worten 'common, community' und 'communication'. Menschen leben in einer Gemeinschaft kraft ihrer Gemeinsamkeiten; und Kommunikation ist der Weg, durch den sie Gemeinsamkeiten gemeinsam erlangen. Kommunikationsteilnehmer zu sein bedeutet, eine breite Erfahrung zu besitzen. Indem jemand Denken und Fühlen mit anderen teilt, ändert er seine eigenen Anschauungen, und niemand kann sich dieser Kraft der Kommunikation entziehen. Ausser bei Gemeinplätzen und Phrasen hat man sich im Mitteilen eigener Erfahrung des Partners anzupassen. Jede Kommunikation ist wie eine Kunst. (John Dewey, zitiert von Löwenthal, S. 380)

Das gilt freilich nur für jene Kommunikation, die auch wirklich eine solche ist. Bei der oberflächlichen oder auch der rein instrumentalen Kommunikation wird ja auch von Kommunikation gesprochen, doch wäre sie - nach der Terminologie von Dewey - gar keine. Es wird heute vielleicht - man denke insbesondere ans Handy - mehr denn je kommuniziert, doch wird dadurch genau - hält man sich an Deweys Terminologie - wirkliche Kommunikation, die in der Tat mit Kunst zu tun hat, vermieden. Diese Doppeldeutigkeit wäre im Bewusstsein zu halten mit Hilfe des paradox erscheinenden Satzes: Heutzutage dient Kommunikation wesentlich der Verhinderung von Kommunikation.

Löwenthal verweist auf den Lyriker T.S. Eliot und dessen "Versuch, die Anwendung des Wortes zu lernen" (Eliot). Dabei bringt Eliot zum Ausdruck, dass jeder Versuch, Worte zur Anwendung zu bringen, einen ganz neuen Start bedeutet und zugleich eine andere Form des Scheiterns darstellt, weil es wesentlich immer auch darum geht, das Bessere an den Worten zu finden für Dinge, die man nicht mehr länger zu sagen habe, oder für Arten, in der man nicht mehr länger disponiert sei, es zu sagen. In diesem Sinn sei Kommunikation immer ein neuer Anfang, ein Angriff auf das Unartikulierte. Was in dieser generalisierten Autobiographie des Dichters zum Vorschein kommt, ist die unendliche Sorge des Menschen, die er seiner ureigensten Begabung schuldet. Es ist wichtig, dass wir versuchen, das Unartikulierte zu erobern - diesen erheblichen Teil des Selbst, in dem (so scheint es oft) das Selbst erst wirklich sichtbar ist und das durch die beiläufigen, mechanischen und einschläfernden Vereinfachungen der 'Massenkommunikation' geleugnet wird. Es ist die 'geistige' Dimension des Lebens, das Geheimnis vom Wesen des Seins, das wir implizit verraten durch dieses scheussliche Entleeren des Vokabulars und des Instrumentes unseres Denkens und Fühlens in den Massenunternehmen der Massenkommunikation (denen wir uns alle in irgendeiner Art zuzurechnen haben). (Löwenthal, S. 378) Diese Überlegung hat eine grosse Nähe zu der von Adorno in der "Theorie der Halbbildung" formulierte Einsicht, dass Bildung immer wieder auch des zwischenzeitlichen Schritts zu Naivität und Unbildung bedürfe, um eben das Unartikulierte, das Begriffslose oder auch das Nichtidentische sprachlich und begrifflich, und zwar eben gegen das vermittels Bildung Identifizierte, erreichen zu können.

Der Salon war einmal der Ort von Kommunikation im Sinn der mit Löwenthal zitierten Dewey und Eliot, in diesem tieferen Sinn politisch. Heute darf er nur noch dem Kaffeekränzchen dienen und heisst ja auch schon lange nicht mehr Salon (oder bestenfalls noch als Reminiszenz). Und man höre sich einmal um, worüber auch in den sog. besseren Cafés im Allgemeinen gesprochen wird: small talk wirklich ganz klein, zumeist über die (ganz und gar subjektive) Frage, wie man sich im als gut verkannten Schlechten am besten und am konformsten durchsetzen könne. Gleichzeitig wird man dann, wenn man mit Gesprächspartnern ernsthaft Fragen des Objektiven erörtert, von den Nebentischchen her rasch einmal scheel angesehen. Wer in den Gesprächen nicht ständig persönlich sich einreiht in den Mainstream, in die angeblich immer neusten Mode-, Musik-, Film-, Sport-, Ferien-, Ausflugs-, Automarken- und Politticket-Trends, diese auf jeden Fall also - so oder anders - bestätigt, gilt bereits als verdächtig. Manchmal denkt man sich, dass der Schritt, wie er in der Türkei und vielen anderen Ländern schon vollzogen ist, nämlich zur Möglichkeit, dass plötzlich irgendein Geheimpolizist eintritt und einen wegen seiner kritischen Worte verhaftet, gar nicht mehr derart weit weg ist: Jemand muss Josef K. verhaftet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet. (Franz Kafka, Der Prozess)

Die Entwicklung der Kommunikation in der modernen Welt hat Kommunikation schlicht unmöglich gemacht, und ihr Erscheinungsbild hat bereits die privaten und intimen Gesprächssphären in verderblicher Weise durchdrungen. Konversation ist 'Zeitvertreib'. (Löwenthal 1965: 371) Und wenn sie als mehr erscheint als Zeitvertreib, dann gerät sie unter Verdacht. Aber weil sie nur noch Zeitvertreib sein darf, die Menschen gar nicht mehr ernsthaft es schaffen, mit Kommunikation gemeinsame Erfahrungen zu gewinnen, bleiben die Menschen, umso mehr sie ständig quasseln, einsam. David Riesman erklärt das Einsame von The Loneley Crowd (so der Titel seiner 1950 erschienenen Untersuchung; deutsch: 'Die einsame Masse') wesentlich damit, dass die Menschen immer aussengeleiteter und damit immer weniger in der Lage sind, von innen heraus vermittels wirklicher Kommunikation zu Gemeinsamem zu finden.

Meist ist Kommunikation ihres menschlichen Bezugs fast völlig entkleidet, eines Bezuges, der schon durch das Wort selbst geboten ist; denn wirkliche Kommunikation hat Gemeinschaft als Teil innerster Erfahrungen zur Folge. Die Entmenschlichung der Kommunikation ist Folge ihrer Inanspruchnahme durch die Medien der modernen Kultur, der Zeitungen vor allem, und weiter durch Radio und Fernsehen. Dass diese Entmenschlichung in einer Gesellschaft so perfektioniert sein sollte, die an die Unveräusserlichkeit der Autonomie des einzelnen glaubt, ist eine der groteskesten Ironien der Geschichte. Innerhalb der Massenmedien wird der einzelne von seiner Menschlichkeit heimtückisch abgesondert. Massenkommunikation baut auf der ideologischen Sanktion der Autonomie des einzelnen auf, um gleichzeitig die Individualität zugunsten der Massenkultur auszubeuten. (Löwenthal, S. 369) Heute fühlen die Menschen sich bereits autonom, wenn sie das Fernsehprogramm selbst wählen oder sich frei durchs Internet klicken dürfen, ohne zu bemerken, wie sehr sie durch das gewählte Programm einem Heteronomen oder eben - mit Riesman - Aussengeleiteten sich überantworten und der Möglichkeit sich berauben, zu Unartikuliertem in sich selbst vorzustossen, sich in der Welt zu bestimmen. Stattdessen "lenkt man sich ab", "zerstreut sich", gibt die eigene Individualität dazu her, eben diese zu zersplittern.

Das instrumentalistische Konzept der Sprache (wie es in der Massenkommunikation häufig praktiziert wird, leider jedoch in der Welt der Gelehrten ebenso) begreift Sprache als Werkzeug, und insoweit muss sie sich ebenso perfektionistisch darstellen wie jedes andere technische Produkt. Das Ideal ist Geschwindigkeit im Lesen und Schreiben, die Lernmaschine, der Computer. Aber diese Ideale sind - in theologischen Begriffen gesprochen - Ideale des Teufels, weil Sprache als Ausdruck des Individuums als Geschöpf immer Zeuge seiner gegenwärtigen Unvollkommenheit sein muss. Sterblich wie wir sind, muss unsere Sprache unsere Grenzen ebenso reflektieren wie die immer gegenwärtigen Aufgaben, Möglichkeiten und Fähigkeiten, die uns gegeben sind. Diese Funktion aber ist genau das, was in den Produkten der Massenkultur verraten oder zumindest verleugnet wird. Wenn ein Film zu Ende oder der 'Readers Digest' gelesen, oder Jazz-Musik gehört ist, bleibt nichts mehr zu sagen, zu hören oder zu sehen: Die kreative Ausdruckskraft ist verstummt. Die genormten Kommunikationsmechanismen haben als ihr logisches und psychologisches Ziel das Einschalten des Projektors, des Radios oder des Fernsehgerätes oder die stumme Schlussgrimasse des Sängers. Die wahre Bedeutung der Kommunikation jedoch, die noch aufrechterhalten wird von Literaten und hier besonders von Dichtern, beruht auf produktiver Vorstellungskraft, auf Zweifel und auf Schweigen. Das heutige Kommunikationsverständnis des Menschen wird von Künstlern am Leben gehalten, die den Zusammenbruch der Kommunikation zum Objekt ihrer Kommunikation machen: James Joyce z.B., wenn er die archaischen Geheimnisse des Wortes und der Syntax erkundet, oder die Dramatiker des absurden Theaters, wenn sie den radikalen Abgrund, der Wort und Bedeutung trennt, darstellen. (Löwenthal, S. 375f.) Während man von authentischer Kunst kommunikativ lernen kann, verstopfen die meisten Produkte der Massenkommunikation die menschlichen Sinne, machen einsam.

Je instrumenteller die Sprache daherkommt vermittels der Massenkommunikation, umso mehr erwarten die Menschen auch eine solche, und umso entrüsteter zeigen sie sich, wenn beispielsweise ein Text ihrem Geist eine grössere Anstrengung abverlangt. Nichts wird mehr langsam gelesen oder sogar zweimal. (John Stuart Mill 1836, zitiert nach Löwenthal, S. 379) Oder Nietzsche gegen die Instrumentalität der Sprache: Man ist nicht umsonst Philologe gewesen, man ist es vielleicht noch, das will sagen: ein Lehrer des langsamen Lesens: - endlich schreibt man auch langsam. (...) Philologie nämlich ist jene ehrwürdige Kunst, welche von ihrem Verehrer vor allem eins heischt, beiseite gehn, sich Zeit lassen, still werden, langsam werden - als eine Goldschmiedekunst und Kennerschaft des Wortes, die lauter feine vorsichtige Arbeit abzutun hat und nichts erreicht, wenn sie es nicht lento erreicht. Gerade damit aber ist sie heute nötiger als je, gerade dadurch zieht sie und bezaubert sie uns am stärksten, mitten in einem Zeitalter der 'Arbeit', will sagen: der Hast, der unanständigen und schwitzenden Eilfertigkeit, das mit allem 'gleich fertig' werden will, auch mit jedem alten und neuen Buche: - sie selbst wird nicht so leicht irgend womit fertig, sie lehrt gut lesen, das heisst langsam, tief-, rück- und vorsichtig, mit Hintergedanken, mit offen gelassenen Türen, mit zarten Fingern und Augen lesen ... (Friedrich Nietzsche, zitiert nach Löwenthal, S. 379) Was Mill und Nietzsche hier anmahnen, würde wesentlich gegen die Folgen des instrumentalistischen Konzepts der Sprache helfen, nämlich gegen die Empfindungslosigkeit und Taubheit der Menschen für die wahre Bedeutung der Worte (vgl. Löwenthal, S. 380), gegen das allgegenwärtige Auftauchen einer eindimensionalen, eindeutigen und klar umrissenen Sprache der Effizienz und des vorgeordneten, derivativen Denkens, das (wie Plato ausführt) keinen Raum lässt für das Einzigartige und Empfindsame, für produktive Phantasie und abweichende Ansichten (Löwenthal, S. 377).