K151 Aufklärung als ein gattungsgeschichtliches Grundproblem
Anmerkungen unter Bezugnahme auf die "Dialektik der Aufklärung"

18. März 2017

leichte Korrektur zu Beginn, 19. Juni 2018

Üblicherweise wird die Aufklärung auf die "neuzeitliche" Ära ab etwa 1500 bezogen, dieses mit Kulmination im 18. Jahrhundert, das ja auch als das Jahrhundert der Aufklärung bezeichnet wird.

Die von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno verfasste "Dialektik der Aufklärung" (Nachweis siehe Kasten) bezieht die Aufklärung auf einen sehr viel weiteren Zeitraum:

In der Tat erstrecken die Linien von Vernunft, Liberalität, Bürgerlichkeit sich unvergleichlich viel weiter, als die historische Vorstellung annimmt, die den Begriff des Bürgers erst vom Ende der mittelalterlichen Feudalität her datiert. (Horkheimer/Adorno, S. 51)

Auf der einen Seite lesen die Aufklärungsbefürworter die Aufklärung als einen Prozess, der erst in der Neuzeit einsetzte und wogegen die Glaubensüberzeugungen früherer Epochen als reiner Aberglaube abgetan werden. Auf der anderen Seite existiert für die Aufklärungsgegner überhaupt keine Aufklärung, sondern es wird alles auf einen bestimmten, zumeist mythologischen „Ursprung“ zurückgeführt, insbesondere auf chthonischen Mythologien, also in Mythologien, die die Auseinandersetzung der Menschen mit den Erdgöttern thematisieren.

Horkheimer und Adorno halten beiden Seiten entgegen (vgl. dazu Horkheimer/Adorno, S. 51f.), dass schon das mit den ersten menschlichen Hochkulturen sich entwickelnde mythologische Denken selber, das die Aufklärungsgegner gegen die Aufklärung stark zu machen versuchen, erste Schritte der Aufklärung darstellten und weiter sogar, dass darin bereits die ganzen die Aufklärung kennzeichnenden Antinomien ablesbar wären, die hinwiederum die Aufklärungsbefürworter nicht wahrhaben wollen.

Im mythologischen Weltalter wurde gemäss Horkheimer und Adorno der Prozess der Aufklärung überhaupt erst ins Spiel gesetzt:

Die Mythologie selbst hat den endlosen Prozess der Aufklärung ins Spiel gesetzt, in dem mit unausweichlicher Notwendigkeit immer wieder jede bestimmte theoretische Ansicht der vernichtenden Kritik verfällt, nur ein Glaube zu sein, bis selbst noch die Begriffe des Geistes, der Wahrheit, ja der Aufklärung zum animistischen Zauber geworden sind. (Horkheimer/Adorno, S. 17)

Für ihre Bezugnahme auf das mythologische Weltalter beziehen Horkheimer und Adorno sich zentral auf die von Homer erzählten Mythen, dabei zentral auf die Odyssee. Dabei ist von besonderer Bedeutung, dass Homer selber für seine Erzählung der Mythen tradierte Volksgesänge verschriftlicht hatte, Volksgesänge, in denen die Kämpfe der Menschen gegen die Naturgewalten besungen wurden. Damit ist hervorgehoben, dass die Mythen nicht einfach einen Aberglauben reproduzieren - Mythos meint wesentlich auch Aberglaube -, sondern sie zugleich eine Konfrontation der Menschen mit der Natur bezeugen, die wirklich sich vollzogen hatte und mit der die Menschen aus ihrer Naturverfallenheit sich zu befreien anschickten, dabei von der Natur sich zu entfremden und so etwas wie eine Subjektivität, ein Subjekt-Objekt-Verhältnis entwickeln begannen (vgl. dazu auch Kommentar K141 zu "Entfremdung und Fremdes").

Mana, der bewegende Geist, ist keine Projektion, sondern das Echo der realen Übermacht der Natur in den schwachen Seelen der Wilden. (Horkheimer/Adorno, S. 21)

Mit der Mythologie wurde die Aufklärung ins Spiel gesetzt, d.h. die vorherige Form der Angleichung der Menschen an die Natur (Mimesis) aufgegeben zugunsten eines naturbeherrschenden Verhaltens.

Dieses naturherrschende Verhalten will nun allerdings von allem Anfang an - und das zeigen Horkheimer und Adorno bereits an den "Siegen" des Odysseus gegen die Naturmächte auf - nicht recht gelingen. Um an den Sirenen vorbei zu kommen, muss Odysseus sich an den Mast seines Schiffes binden lassen und seine rudernden Gefährten müssen sich die Ohren mit Wachs verstopfen. Die so gelingende Vorbeifahrt oder eben Naturbeherrschung ist mit derartigen Versagungen auf Seiten der vermeintlich die Natur Beherrschenden verknüpft, und zwar immer aufs Neue verknüpft, dass es dann gar so sich darstellt, dass die die Natur Beherrschenden weiterhin im Bann des zu Beherrschenden verbleiben, insofern eben, dass sie sich überall dort, wo unbeherrschte Natur erscheint, unheimlich selbst und gegenseitig disziplinieren müssen.

Das geht so weit, dass Odysseus dort, wo er bei anderen Menschen die Kräfte der naturverfallenen Vorwelt am Werke vermutet - wie bei den in seinem Hause seine Frau Penelope bedrängenden Freier oder den nachts zu den Freiern schleichenden Mägden -, er gegen diese in einer Weise vorzugehen sich gezwungen sieht, die an Brutalität der verdammten vorweltlichen Brutalität nicht nur in nichts nachsteht, sondern diese sogar übertrifft (vgl. dazu insbesondere den Schluss von "Exkurs I Odysseus oder Mythos und Aufklärung": Horkheimer/Adorno, S. 86f.) So unterstellten sehr viel später auch die Nazis der jüdischen Bevölkerung die schlimmsten Greueltaten, um an eben dieser Bevölkerung genau diese Greueltaten begehen zu können.

Das ist gemeint, wenn Horkheimer und Adorno davon sprechen, dass die Aufklärung sich selbst zerstöre. Im geschichtlichen Prozess wird auf jeder neu errungenen Stufe die vorherige Stufe als Aberglaube denunziert, um dann eben erst recht gegen alles dem Ähnliche wüten zu können:

Rein natürliche Existenz, animalische und vegetative, bildete der Zivilisation die absolute Gefahr. Mimetische, mythische, metaphysische Verhaltensweisen galten nacheinander als überwundene Weltalter, auf die hinabzusinken mit dem Schrecken behaftet war, dass das Selbst in jene blosse Natur zurückverwandelt werde, der es sich mit unsäglicher Anstrengung entfremdet hatte, und die ihm eben darum unsägliches Grauen einflösste. (Horkheimer/Adorno, S. 37)

Dem mimetischen also folgte - gemäss der Auffassung von Horkheimer und Adorno - das die Aufklärung zuerst ins Werk setzende mythische, darauf das metaphysische und darauf - so wäre zu ergänzen - das neuzeitlich positivistische oder auch logistische Weltalter. In diesem geschichtlichen Prozess wurde die als Aufklärung betriebene Naturbeherrschung eine gesellschaftlich auf jeder neuen Stufe immer befestigtere, eine nun aber eben, die, da sie von Naturverfallenheit nur zum Schein befreit, nicht gelingt. Sie bewahrt, wie es schon an Odysseus sichtbar wird, den Rückfall in die Barbarei, die Selbstzerstörung der Vernunft logisch in sich.

Wie die Mythen schon Aufklärung vollziehen, verstrickt Aufklärung mit jedem ihrer Schritte tiefer sich in Mythologie." (Horkheimer/Adorno, S. 18)

Aufklärung ist die radikal gewordene, mythische Angst. Die reine Immanenz des Positivismus, ihr letztes Produkt, ist nichts anderes als ein gleichsam universales Tabu. Es darf überhaupt nichts mehr draussen sein, weil die blosse Vorstellung des Draussen die eigentliche Quelle der Angst ist. (Horkheimer/Adorno, S. 22)

Die gattungsgeschichtliche Problematik der Aufklärung will weder von den Aufklärungsbefürwortern, welche eindimensional ans Naturbeherrschende sich klammern, noch von den Aufklärungsgegnern, welche den in der Aufklärung selbst steckenden Rückfall bewirtschaften, eingesehen sein. Entscheidend wäre aber, sie einzusehen:

Die Aporie, der wir uns bei unserer Arbeit gegenüber fanden, erwies sich somit als der erste Gegenstand, den wir zu untersuchen hatten: die Selbstzerstörung der Aufklärung. Wir hegen keinen Zweifel - und darin liegt unsere petitio principii -, dass die Freiheit in der Gesellschaft vom aufklärenden Denken unabtrennbar ist. Jedoch glauben wir, genauso deutlich erkannt zu haben, dass der Begriff eben dieses Denkens, nicht weniger als die konkreten historischen Formen, die Institutionen der Gesellschaft, in die es verflochten ist, schon den Keim zu jenem Rückschritt enthalten, der heute überall sich ereignet. Nimmt Aufklärung die Reflexion auf dieses rückläufige Moment nicht in sich auf, so besiegelt sie ihr eigenes Schicksal. (Horkheimer/Adorno, S. 3)

Auf dem Weg von der Mythologie zur Logistik hat Denken das Element der Reflexion auf sich verloren, und die Maschinerie verstümmelt die Menschen heute, selbst wenn sie sie ernährt. (Horkheimer/Adorno, S. 44)