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Die Vernunft als autonom sich setzende verleiht dem Wesen, das diese Vernunft zeigen kann, Würde. Wäre die Vernunft demgegenüber bloss etwas, das nachvollzieht, was ihr von aussen heteronom eingegeben wird, was also ausserhalb bereits ein Äquivalent besitzt und je nachdem, wie gut diesem Äquivalent entsprochen wird, einen mehr oder weniger guten Preis erzielt, dann zeigte sie keine Würde, weil eben ohne Autonomie.
Es ist dieses eine Einsicht der Aufklärung. In seiner berühmten Preisschrift mit dem Titel „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“ (Kant (a)) formuliert Kant es folgendermassen:
"Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschliessung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung." (Kant (a), S. 53 (Hervorhebungen durch Kant)
Der Mut nun, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, wird vom neu dazu Kommenden unter Bedingungen von "integratio" erwartet, unter Bedingungen von Integration als Assimilation genau nicht erwartet, sondern geradezu verhindert. Die neu dazu Kommenden haben sich dem Bestehenden, dem Leitenden usw. zu assimilieren, das heisst ein- und unterzuordnen.
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- Ich kann das vielleicht Ihnen etwas fasslicher ausdrücken, wenn ich sage, dass die Gesellschaft sich integriert nicht durch die Einzelspontaneitäten der einzelnen Individuen von sich aus, so wie es die klassische liberale Theorie noch postuliert hat, sondern dass das, was heute Integration genannt wird, von oben her sich vollzieht, und zwar durch die technologisch gesetzten Methoden der Standardisierung im Arbeitsprozess ebenso wie in den Massenkommunikationen, wie zusätzlich doch auch durch weitgehende Planungen der mächtigsten Gruppen, die da in so ungeheuer einflussreichen Sphären wie denen der Reklame und Propaganda – und ich halte die Unterscheidung von Reklame und Propaganda für pure Ideologie – eben in einer so ausserordentlich drastischen Weise sich durchsetzen. Ich möchte sogar andeuten, dass mir die Möglichkeit gegeben erscheint, dass subkutan, unter der Oberfläche, trotz der von uns zu beobachtenden zunehmenden Integration der Gesellschaft etwas wie Desintegration sich abzeichnet. Das heisst, dass, während diese Gesellschaft in ihren ‚patterns of behaviour‘, in ihren Sitten und Gebräuchen, sich bis zur Ununterscheidbarkeit in den verschiedenen Gruppen einander annähert (…), dabei in Wirklichkeit gerade dadurch, dass die Gesellschaft vermöge des Monopolisierungsprozesses und seiner organisatorischen Reflexionsformen von wenigen, sehr starken Machtgruppen beherrscht wird, die Kämpfe, die Auseinandersetzungen, die in dieser Gesellschaft statthaben, sich mehr und mehr reduzieren auf Kämpfe zwischen den mächtigsten Gruppen, oder – muss man wohl schon beinahe sagen – auf pure Cliquenkämpfe; während die Sphäre des Politischen etwa, die so etwas wie die selbständige, autonome und spontane Willensbildung des Demos voraussetzt, demgegenüber weitgehend ein blosser Schein oder eine blosse Reflexbewegung ist und etwas Substantielles überhaupt nicht mehr darstellt.
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- Man konnte das besonders beobachten, dieses Phänomen einer latenten Desintegration der Gesellschaft, die sich von sich aus gar nicht mehr zusammenfasst, sondern nur gleichsam mit einer eisernen Klammer zusammengehalten wird, unter dem Faschismus, wo ja tatsächlich die sozialen Kämpfe, die weitergingen und die unter Umständen einen äusserst blutigen Charakter angenommen haben, sich von der Basis der realen Interessen der Menschen unendlich weit entfernt haben und schliesslich also herausgelaufen sind darauf, dass verschiedene Cliquen etwa, wie es in Südamerika alltäglich ist, sich gegenseitig die Hälse abgeschnitten haben. Inwieweit nicht auch darin der Faschismus nur sozusagen der Springinsfeld war, der der Gesellschaft auf eine etwas übermütige und gewalttätige Weise das vorgemacht hat, wohin ihr eigener objektiver Geist von sich aus sich zu bewegen scheint, das möchte ich im Augenblick offenlassen. Jedenfalls, um hier ein bisschen aus dem Bereich der Spekulation herauszukommen, obwohl ich nicht einsehe, warum man über diese Fragen nicht soll spekulieren dürfen, wir wissen immerhin, dass im Bereich der individuellen Psychologie, die durch einen immer mehr und bis ins Masslose gesteigerten sozialen Druck gesteigerte Integration einer Desintegration der Person ausserordentlich verwandt ist. Die Phänomene, die man neuerdings als solche kollektiver Schizophrenie zu bezeichnen sich angewöhnt hat, dürften mit diesen Fragen aufs allerengste zusammenhängen. Ich habe vor vielen Jahren einmal davon gesprochen – unter Analogie zu einem Begriff von Marx –, dass im Individuum selbst dessen organische Zusammensetzung anwächst – dieses ‚organisch‘ ist dabei ein lucus a non lucendo.
- (Einschub von kw zur Erläuterung: Ein lucus a non lucendo meint im Grunde ein Begriff, mit dem eine irrtümliche Wortherleitung verknüpft wird, wie offenbar lucus (Wald, Hain) einmal von lucere (leuchten, hell sein) abgeleitet wurde, obwohl das eine mit dem anderen nichts zu tun hat. Adorno möchte hier wohl sagen, dass das ‚organisch‘ im Menschen wie die Menschen im Ganzen als etwas Funktionales (oder auch Organisiertes) aufgefasst werden, es sich bei dieser Herleitung im Grunde um eine irrtümliche handelt. Wir Menschen sind nicht blosse Organe, werden durch Integration aber immer mehr dazu gemacht.)
- Ich habe damit nichts anderes sagen wollen, dass die Menschen sich selbst in immer zunehmendem Mass Instrumente, Mittel ihrer Selbsterhaltung werden auf Kosten des Sektors, wenn Sie mir die quantitative Redeweise verzeihen, auf Kosten der Teile ihrer Person, zu deren Gunsten eigentlich jene Instrumente, zu denen sie sich machen, arbeiten sollten. Mit anderen Worten also: Die zunehmende Rationalisierung der Menschen selber, durch die sich die Menschen in ihre eigenen Produktionsmittel verwandeln und immer realitätsgerechter werden, tritt in Gegensatz zu ihrem eigenen Realitätsprinzip, weil nichts mehr eigentlich übrig ist, wofür diese Mittel dann eigentlich arbeiten würden. Sie werden dann in den Menschen Selbstzweck, sie werden damit irrational, sie sind gar nicht mehr für etwas, sondern das, was für etwas sein sollte, wird zu einem ‚Ansich‘, und damit nähert diese Rationalität sich der Irrationalität und schliesslich sogar etwas wie einem Wahnsystem immer mehr sich an.
- Man steht hier in diesem Problem vor folgender Alternative: Glaubt man der Gesellschaft ihre Integration, so, wie sie es ihrem objektiven Geist nach von uns verlangt, und so, wie es die herrschende Ideologie in unzähligen Bereichen des Lebens und fast die gesamte öffentliche Meinung hindurch von uns verlangt, mit anderen Worten also, fasst man sie in umfangslogischen, möglichst bruchlos mit ineinander aufgehenden Begriffen zusammen, so verfällt man dabei einem Schein. Das heisst, das System, das man sich dann als Theoretiker von der Gesellschaft bildet, verdeckt dann eben durch die Einstimmigkeit, die Glätte, die Identität und Widerspruchslosigkeit, die es annimmt, das Fortbestehen der Antagonismen, und das, meine Damen und Herren, diese verdeckende Funktion des Systems, die ist eigentlich das, was ich gegen die herkömmliche systematische Gestalt der Theoriebildung in der Soziologie eigentlich einzuwenden habe; und das bedingt zugleich die Schwierigkeit, eine Theorie der Gesellschaft zu formulieren, die gleichzeitig das Wesen trifft, aber jenes schlecht, falsch systematischen Charakters sich entäussert, von dem ich hoffe, Ihnen wenigstens eine Vorstellung zu geben. Die Antagonismen bestehen fort, zwar nicht unmittelbar sichtbar als Gegensätze der Lebenshaltung oder als Gegensätze furchtbarer Armut und üppigen Reichtums, aber sie bestehen fort in Gestalt eines bis ins Extrem angewachsenen Antagonismus der gesellschaftlichen Macht und der gesellschaftlichen Ohnmacht, und – das ist nun das dialektische Salz, das ist der Punkt, weshalb ich Ihnen vorhin angekündigt habe, ich wollte versuchen, das Problem der sogenannten Integration nicht einfach zu differenzieren, sondern zu dialektisieren – dieser Gegensatz von Macht und Ohnmacht setzt sich heute gerade vermöge der zusetzenden Integration der Gesellschaft durch. (Theodor W. Adorno (1964), S. 108ff.)
In den Ausführungen von Adorno spiegelt sich die mit Saner erwähnte Doppeldeutigkeit des Integrationsbegriffs wider. Würde sich die Gesellschaft „durch die Einzelspontaneitäten der einzelnen Menschen von sich aus“ integrieren, könnte von Integration im oben erläuterten Sinn des lateinischen „integratio“ gesprochen werden. Dann würde Integration auf der Mündigkeit der Menschen basieren. Das ist nun aber eben, worauf Adorno dezidiert hinweist, nicht der Fall, sondern das, was heute als Integration bezeichnet werde, vollziehe sich „von oben her“. Das meint nichts anderes als das, was von Saner als Assimilation bezeichnet wird: Integration als Assimilation oder auch gesellschaftlicher Sozialdisziplinierung der Menschen.
Dieser Prozess der Integration als Assimilation nun – und hier ist Adorno sehr viel radikaler als Saner, der es so nie sagen würde – steht der Spontaneität und der Mündigkeit und damit der Würde der Menschen in einer grundlegenden Weise entgegen. Die Menschen können sich genau nicht von sich aus entfalten, sondern haben sich ins Vorgegebene einzupassen. Es sei erwähnt, dass diese Anpassung heute und im Zug der digitalen Revolution sehr viel flexibler von statten geht als noch in den 1960er Jahren (Stichwort: Flexibilisierung des Fordismus). Durch die Flexibilisierung erscheint der Assimilationsdruck kleiner, dürfte in Wahrheit aber, und zwar nicht zuletzt dank des ideologischen Gegenscheins der Flexibilisierung und der Übertragung der Verantwortung an den Einzelnen, noch erheblich grösser geworden sein.
Wenn Adorno nun feststellt, dass die zunehmende gesellschaftliche Integration, zu verstehen als Assimilation, mit so „etwas wie Desintegration“ einhergeht, dann meint er damit, dass die Menschen mit ihren Einzelspontaneitäten im Integrierten oder Assimilierenden gar nicht mehr gefragt sind, die Gesellschaft auf „integratio“ gar nicht mehr abzielt, sich in diesem Sinn desintegriert. Die Menschen sind dann – was von Adorno im zweiten Abschnitt erläutert wird – nur noch funktional oder eben „organisch“ für das Vorgegebene da, gleichsam ständig daran, dieses zu „organisieren“, nur noch als „Organ“ zu wirken. „Ich habe damit nichts anderes sagen wollen, dass die Menschen sich selbst in immer zunehmendem Mass Instrumente, Mittel ihrer Selbsterhaltung werden auf Kosten des Sektors, wenn Sie mir die quantitative Redeweise verzeihen, auf Kosten der Teile ihrer Person, zu deren Gunsten eigentlich jene Instrumente, zu denen sie sich machen, arbeiten sollten.“ (Adorno im oben Zitierten) Und der „Sektor“, auf dessen Kosten die zunehmende Instrumentalisierung und Assimilierung der Menschen geht, ist ihre Spontaneität oder – um es mit Kant zu sagen – ihre ihnen Würde verleihende Fähigkeit, sich des Verstandes ohne Leitung eines andern zu bedienen: Mündigkeit. Auch hier wird dadurch eben, dass den Menschen immer mehr die Aufgabe übertragen wird, so genannt selbstverantwortlich sich der Leitung zu unterwerfen und zu assimilieren – es wurde dafür der Begriff des „Arbeitskraftunternehmers“ geprägt (vgl. dazu auch Kommentare K37 und K38) –, der ideologische Schein erweckt, die Menschen wären autonom geworden, was aber eben nur Schein ist. Die Menschen sollen „selbstverantwortlich“ dem Vorgegebenen sich einpassen und wenn sie es nicht schaffen, dann wird es als ihre individuelle Schuld ausgelegt.
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