K164 Zur Bedeutung (kritischer) Begriffsarbeit

16. Dezember 2017

Nicht zuletzt dank ihrer Befähigung zur Begriffsbildung dürfte es den Menschen urgeschichtlich gelungen sein, sich aus tierischer Naturverfallenheit heraus zu arbeiten, ein Selbstbewusstsein zu entwickeln, zu Subjekten zu werden. Es gelang ihnen - wenigstens vordergründig - sich zu Herren über die Naturkräfte aufzuschwingen, doch manövrierten sie sich damit zugleich wieder in eine problematische, ja gar ausweglos erscheinende Lage (Aporie). Diese Aporie ist das Grundthema der von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno verfassten "Dialektik der Aufklärung" (Nachweis unten im gelben Kasten). Die Naturbeherrschung selber entpuppte für die naturbeherrschenden Menschen sich zu einem deren Existenz gefährdenden Problem.

Zum ersten bedeutet die von den Menschen vermittels ihrer Begriffe vollzogene Naturbeherrschung, dass die Naturdinge nur noch in einer der Naturbeherrschung dienlichen Weise wahrgenommen oder eben begriffen werden. Mit solchem "Begreifen" geht die Unterdrückung von Momenten der Natur einher, welche selber für die Lebendigkeit der Menschen von grösster Bedeutung sind. Zum zweiten bedeutet die von den Menschen vermittels ihrer Begriffe vollzogene Naturbeherrschung dadurch, dass diese Beherrschung durch gesellschaftliche Organisation vollzogen wird, immer auch die Beherrschung von Menschen über Menschen. Mit diesem "Beherrschen" gehen Kämpfe um Naturressourcen, Kriege untereinander, Genozide usw. einher. Zum dritten bedeutet die von den Menschen vermittels ihre Begriffe vollzogene Naturbeherrschung, dass sie, um die Naturbeherrschung vollziehen zu können, auch sich selber - und sie sind selber wesentlich ja auch Natur -, beherrschen und unterdrücken müssen. Infolge dieser "Selbstunterdrückung" verlieren sie den Bezug zum eigenen Lebendigen und versteinern noch im Leben.

Der von Horkheimer und Adorno extrapolierte logische Gang der Menschheitsgeschichte besagt aus diesen Überlegungen heraus, dass die Menschheit infolge ihrer Naturbeherrschung, solange sie auf diese nicht kritisch reflektiert, sich selber dem eigenen Untergang zuführt.

Seit je hat Aufklärung im umfassendsten Sinn fortschreitenden Denkens das Ziel verfolgt, von den Menschen die Furcht zu nehmen und sie als Herren einzusetzen. Aber die vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen triumphalen Unheils.
(Horkheimer/Adorno (1944/1947), S. 9; Nachweis links)

Man könnte es auch so ausdrücken, dass die vermittels Aufklärung betriebene Naturbeherrschung selber gar nicht gelungen ist und auch gar nicht gelingen kann, weil die Menschen dabei ja immer sich selber zu Handlangern der von ihnen produzierten Instrumenten der Naturbeherrschung machen müssen, wodurch sie dann aber - durch den Zwang, die Natur beherrschen zu müssen - negativ der Natur dann doch - auf welch technisch ausgefeiltem Niveau auch immer - verfallen bleiben. Die Menschen müssen die Natur beherrschen und im müssen zeigt sich, dass eben diese Beherrschung weiterhin - negativ - in Naturabhängigkeit respektive in einer technisch überaus sublimierten Naturverfallenheit besteht.

Könnte die Menschheit die Natur demgegenüber auch als ein Fremdes, als ein Eigenständiges, als ein Begriffsloses begreifen, dann wäre eben diese Natur nicht beherrscht, sondern es stünde so etwas wie Versöhnung mit der Natur - auch mit der Natur der anderen Menschen und mit der eigenen Natur - in Aussicht. Darin besteht die in der "Dialektik der Aufklärung" aufbewahrte Utopie.

Die Aporie, der wir uns bei unserer Arbeit gegenüber fanden, erwies sich somit als der erste Gegenstand, den wir zu untersuchen hatten: die Selbstzerstörung der Aufklärung. Wir hegen keinen Zweifel - und darin liegt unsere petitio principii -, dass die Freiheit in der Gesellschaft vom aufklärenden Denken unabtrennbar ist. Jedoch glauben wir, genauso deutlich erkannt zu haben, dass der Begriff eben dieses Denkens, nicht weniger als die konkreten historischen Formen, die Institutionen der Gesellschaft, in die es verflochten ist, schon den Keim zu jenem Rückschritt enthalten, der heute überall sich ereignet. Nimmt Aufklärung die Reflexion auf dieses rückläufige Moment nicht in sich auf, so besiegelt sie ihr eigenes Schicksal.
(Horkheimer/Adorno (1944/1947), S. 3)

Es stellt sich die Frage, ob und wenn ja wie eine Reflexion auf das rückläufige Moment von Aufklärung und damit eine Versöhnung der Menschheit mit der Natur begrifflich möglich ist, wo doch die Begriffe selber und ganz besonders die aufgeklärtesten oder fortschrittlichsten Begriffe der Naturbeherrschung dienen.

Die Antwort lautet: Die Begriffe brauchen nicht notwendig der Naturbeherrschung zu dienen, sondern können auch der Kritik dienlich gemacht und gegen das in den Begriffen selbst enthaltene Naturbeherrschende kritisch gewendet werden. Solches gelingt in (kritischer) Begriffsarbeit.

Freilich werden die Begriffe alltäglicherweise und zwar eben im Dienst der Naturbeherrschung gesellschaftlich zugerichtet, sodass die hier hervorgehobene (kritische) Begriffsarbeit gesellschaftlich kaum zugelassen, sondern vielmehr blockiert wird. Dazu existieren unzählige Mittel.

An vielen Fachhochschulen wird als eine Vorschrift für Bachelorarbeiten gelehrt, dass die zentralen Begriffe, bevor sie in die Analyse eingehen, definiert werden müssen. Die Studierenden stellen ihren Bachelorabeiten dann brav irgendwelche Nominaldefinitionen der verwendeten Begriffe wie Arbeit, Integration, Bildung usw. voraus und dispensieren sich damit fälschlicherweise davon, die Begriffe denkend zu erarbeiten, dieses mit der Folge, dass sie zu den wesentlichen Fragen gar nicht vorstossen.

Oder dann wird den Kindern der Spruch um die Ohren gehauen: Du sollst nicht mit den Worten spielen, sondern ihren Sinn erfassen, während Kinder doch genau erst im Spiel mit den Worten dazu gelangen, ihren wesentlichen Sinn zu erfassen. In der Kindheit wären Wortspiele, im Erwachsenenarbeit Begriffsarbeiten vonnöten.

Weiter gibt es die schlechten Wörterbücher - wie zum Beispiel das Wörterbuch der Sozialpolitik -, wo man glaubt, auf einer halben Seite einen Begriff entfalten zu können, ohne wirkliche Begriffsarbeit leisten zu müssen. Die guten Wörterbücher sind nur dort wahrscheinlich, wo zu einzelnen Begriffen umfassende Aufsätze verfasst werden, Wörterbücher auch, die irgendwie nie fertig werden. Zum Begriff der Aufklärung beispielsweise könnte der erste Teil der "Dialektik der Aufklärung", der ja auch den Titel Begriff der Aufklärung trägt (vgl. Horkheimer/Adorno (1944/1947), S. 9-49), ein solcher Aufsatz darstellen.

Die Stillstellung der Begriffsarbeit heute erfolgt am weitreichendsten vermutlich in der Werbung. Die Sache, die darin angepriesen wird, ist zum vornherein zugerichtet als eine Ware, deren ganzen Produktionszyklus inklusive reingesteckter Arbeit ausgeblendet ist (man kann sich keinen Begriff davon machen), und zusätzlich noch als eine Ware, die vorweg definitorisch festgelegt ist als etwas, das per se ein Bedürfnis befriedige (ohne dass noch gesehen werden kann, dass durch dieses Vorschreiben von Bedürfnissen die eigenen, lebendigen Bedürfnisse der Menschen genau verdrängt werden). Werbung hat etwas von einem schön Tiefgefrorenen, das den Begriff definitorisch vorschreibt, ohne dass noch ein eigener begrifflich-denkerischer Bezug zur Sache möglich ist. Dadurch, dass dieses Tiefgefrorene den Menschen tagtäglich und in enormen Dosen injiziert wird, werden sie in ihrer Begriffsarbeit blockiert und damit recht eigentlich begriffslos gemacht.

In der (kritischen) Begriffsarbeit hat es darum zu gehen, die mit den vorherrschenden Begriffsverwendungen einhergehenden Blockaden zu durchbrechen und so den Blick auf die Sache frei zu machen. Die Sachen und insbesondere die von den vorherrschenden Begriffsverwendungen zum Verstummen gebrachten Momente der Sachen sollen sprechen können, was sie erst infolge der Kritik des vorherrschenden Begriffs - zum Beispiel der als Naturbeherrschung begriffenen Aufklärung - überhaupt erst können. Durch die Kritik macht der Begriff, der jetzt plötzlich zu der Sache hin sich zu öffnen vermag, eine Veränderung durch.

Der Begriff, den man gern als Merkmalseinheit des darunter Befassten definiert, war vielmehr seit Beginn das Produkt dialektischen Denkens, worin jedes stets nur ist, was es ist, indem es zu dem wird, was es nicht ist. (Horkheimer/Adorno (1944/1947), S. 21)

Diese Aussage verweist zurück auf die von Hegel entwickelte Dialektik zwischen Begriff und Sache oder die von Hegel demonstrierte Begriffsarbeit. Adorno hat sie mit seiner "Negativen Dialektik" erweitert, insbesondere um die gesellschaftskritische Dimension. Ein zentrales Moment der Begriffsarbeit heute besteht dementsprechend darin, die gesellschaftliche Blockiertheit der Begriffe kritisch in den Begriff hinein zu nehmen und auf diese Weise zu negieren. Dabei ist die Blockiertheit im Begriff - nun aber als ein Negiertes - weiterhin enthalten (bei Adorno kommt es im Unterschied zu Hegel gerade nicht zu einer - schlussendlich doch wieder alles beherrschenden - Synthese), doch ist Begriff jetzt eben wesentlich Kritik oder Negierung, eben beispielsweise Kritik der Aufklärung als Naturbeherrschung. Infolge der Kritik stellen die unterdrückten Momente an der Sache von selber sich frei gegenüber dem Begriff, können begriffslos bleiben.

In der "Dialektik der Aufklärung" leisten Max Horkheimer und Theodor W. Adorno genau die hier als bedeutsam hervorgehobene (kritische) Begriffsarbeit, eben etwa mit Bezug auf den Begriff der Aufklärung. Dabei machen sie im Grunde nichts anderes, als auf den durch die Menschheitsgeschichte hindurch vorherrschenden Begriff der Aufklärung, sich verstehend als Naturbeherrschung, kritisch zu reflektieren.

Wenn man den Menschen von klein auf aufzeigen würde, wie sie durch denkerische Begriffsarbeit zur lebendigen Sache vorstossen können, wenn man sie überhaupt ganz einfach nur denken liesse statt sie mittels vorgeschriebener Definitionen zu blockieren, wäre viel gewonnen.

In einem sehr instruktiven Streitgespräch zwischen Arnold Gehlen und Theodor W. Adorno weist Adorno darauf hin, dass das Denken oder der Geist sich wesentlich im Medium der Kritik bewege. Hier der Wortwechsel.

Theodor W. Adorno:
Auf der anderen Seite bewegt aber der Geist sich überhaupt wesentlich im Medium der Kritik. Es würde mir nicht schwer fallen nachzuweisen, dass die ganze Geschichte der Philosophie eine Geschichte von Kritik ist. (...)

Arnold Gehlen:
Herr Adorno, wenn Sie sagen - ich möchte das auch im Interesse unserer Zuschauer pointiert haben -, wenn Sie sagen, der Geist lebt im Medium der Kritik; ich würde sagen, eine Seite des Geistes, die andere lebt im Medium der Erkenntnis, die dritte lebt im Medium der Anschauung, nicht wahr ...

Theodor W. Adorno:
Ja, aber das eine ist vom anderen nicht zu trennen.

Arnold Gehlen:
Doch, Ihre These bedeutet nämlich, dass derjenige, der nicht kritisiert, keinen Geist hat, und das ist genau diese Sache, nicht wahr, die ich also nicht durchgehen lassen möchte.

Theodor W. Adorno:
Also, ich kann mir einen Geist, der in sich nicht das kritische Element enthält, schlechterdings nicht vorstellen, so wenig ich mir einen vorstellen kann, der nicht auch ein primäres Verhältnis zu der Sache und zu den anderen Menschen hat.

(Nachweis links im Kasten)

Zwar geht Adorno im Gespräch nicht so weit zu sagen - und damit die Schlussfolgerung von Gehlen aufnehmend -, dass jemand, der nicht kritisiere, auch nicht denke (und in der Tat gibt es ja auch schlechte und undurchdachte Kritik, was in einem erweiterten Begriff als Kritik allerdings zu negieren wäre), doch bekommt man wirklich sehr oft das Gefühl, dass die Menschen nicht mehr denken, das heisst sie die hier als bedeutsam hervorgehobene Begriffsarbeit nicht mehr leisten wollen, weil sie eben jenen gesellschaftlichen Begriffsblockaden anheim gefallen sind. In der Folge verlieren sie den lebendigen Bezug zu den Sachen, zu den anderen Menschen und zu sich selber, dieses mit allen Konsequenzen und Gefahren des Reaktionären (die Nicht-denkend-Wollenden erwarten dann einen "Führer", der - wie sie irrtümlich glauben - für sie denke).

Das von Adorno Hervorgehobene würde bedeuten, dass die Menschen dann, wenn sie wirklich denken, automatisch kritisch werden und Begriffe entwickeln, die zum Begriffslosen hin offen sind. In diesem Sinn ist auch Begriffsarbeit automatisch kritisch. Und die erarbeiteten Begriffe besagen in der Folge ganz anderes als was man gemeinhin unter Aufklärung, Bildung, Familie, Gesellschaft, Integration, Vergebung usw. versteht.

Die durch Denken erarbeiteten (kritischen) Begriffe wären in schützenden Nischen zu bewahren und die sie Bewahrenden hätten mit ihnen zu überwintern. Solche Begriffe sind so bedeutsam wie Nahrungsmittel.

Ein schönes Jahresende allen!