K171 Zur "Randpersönlichkeit" von Peter Heintz (1968)
Teil 1: Bestimmung des Begriffs

31. März 2018

Der Soziologe Peter Heintz (1920-1983) wurde 1966 auf den neu geschaffenen Lehrstuhl für Soziologie in Zürich berufen und leitete das Soziologische Institut bis zu seinem Tod. Der hier Schreibende, der sein Soziologiestudium im Wintersemester 1980/81 aufnahm, hatte das grosse Glück, noch während einiger Semester die Vorlesungen von Peter Heintz besuchen zu können. Ihm war trotz der nicht einfach zu verstehenden Ausführungen des Professors sofort klar, dass da einer sprach, der etwas zu sagen hatte. Also verpasste er - sehr zum Erstaunen seiner StudienkollegInnen, die rasch abhängten - keine einzige Vorlesungsminute.

Peter Heintz unternahm den heute kaum noch gewagten Versuch, eine möglichst umfassende Soziologie zu entwickeln. Er verband das abstrakt Theoretische mit dem konkret Empirischen, erklärte Phänomene auf der Mikroebene wie etwa der Familie im selben theoretischen Rahmen wie Phänomene auf der Makroebene bis hin zur Weltgesellschaft (vgl. seine Theorie sozietaler Systeme), beleuchtete alle möglichen sozialen Phänomene (vgl. z.B. die nachstehend zitierte, in seiner "Einführung in die Soziologie" behandelte Themenpalette) und identifizierte dabei mögliche soziale Spannungen und Konflikte, um via seine Analyse zu deren Auflösung beitragen zu können. Peter Heintz war ein sozialliberaler Vertreter des Wohlfahrtskapitalismus, jenem sozialen Regime, das seine Hochblüte in den Jahren 1950-1980 hatte und ab den 1980er Jahren von einem - wie es der hier Schreibende bezeichnet - Workfarekapitalismus (gemeinsam getragen von Neoliberalen, New Labour und Neokonservativen) abgelöst wurde.

Peter Heintz hatte u.a. eine Einführung in die Soziologie vorgelegt, die 1968 auf deutsch in zweiter, erweiterter Auflage erschien (Nachweis im gelben Kasten). Diese Einführung basierte auf einem in spanischer Sprache verfassten Curso de Sociologíca. Algunos sistemas de hipótesis aus dem Jahr 1960 (vgl. Heintz 1968: S. V).

Die Einführung in die Soziologie behandelt, nach einer Allgemeinen Einleitung (1-23) die folgenden Themen:

1. Macht und Prestige (24-60)

2. Die Mode als gesellschaftliches Phänomen (61-69)

3. Die Wanderung vom Land in die Stadt (70-94)

4. Der technische Fortschritt (95-114)

5. Der Kulturkonflikt (115-135)

6. Feudale Überreste in der bürgerlichen Gesellschaft (136-151)

7. Das primitive Recht und die Kohäsion der Gesellschaft (152-169)

8. Die Bürokratie in der modernen Gesellschaft (170-186)

9. Die moderne, komplexe Gesellschaft (187-199)

10. Die moderne Familie (200-221)

11. Die Randpersönlichkeit (222- 240)
(wird nachstehend besprochen, kw)

12. Die Mittelklassen (241-261)

13. Die Jugendkriminalität (262-279)

14. Strukturelle und anomische Spannungen (280-299)

(Heintz 1968: Inhalt, Nachweis links)

Das Vorhaben von Peter Heintz, eine umfassende Soziologie vorzulegen, korrespondiert mit seiner Persönlichkeit. Heintz hatte das, was man gemeinhin als ein Charisma bezeichnet. In der Terminologie von ihm selber, die es nachstehend allerdings auch zu hinterfragen gilt, kann gesagt werden, dass er nicht eine Randpersönlichkeit, sondern gleichsam eine "Zentrums-", das heisst eine mit einem starken Ich ausgestattete Persönlichkeit verkörperte. Und es wäre beizufügen, dass ein wesentliches Ziel des nach dem Zweiten Weltkrieg sich im Westen hervorbildenden Wohlfahrtskapitalismus darin bestand, möglichst allen Menschen zumindest die Chance zu geben, sich zu einer in diesem Sinn vollen Persönlichkeit zu entwickeln, und zwar auch den Menschen aus den unteren sozialen Schichten. Dabei allerdings wurden die Widersprüche, die bereits schon in einem Begriff wie demjenigen des Wohlfahrtskapitalismus sich anzeigen (kann Wohlfahrt und Kapitalismus überhaupt zusammengehen?), nur wenig eingesehen, und man kann zugespitzt vielleicht sogar sagen, dass auch bei Peter Heintz eine dementsprechend illusionäre Ignoranz vorhanden war, die ihm seinen ambitionierten Versuch zu einer alles abdeckenden Soziologie sowohl ermöglichte als auch scheitern liess. Am Beispiel des elften Kapitels aus der Einführung in die Soziologie, dem Kapitel zur Randpersönlichkeit (Nachweis im folgenden gelben Kasten), sei auf dieses Grundproblem, das eben sowohl eines des Wohlfahrtskapitalismus als auch eines der Theorie von Peter Heintz ist, näher eingegangen.

Peter Heintz beginnt seinen Beitrag zur Randpersönlichkeit (vgl. Nachweis links) folgendermassen:

Der Begriff der Randpersönlichkeit wird im folgenden auf Individuen angewendet, die in bestimmter Weise zwischen verschiedenen Kulturen stehen, das heisst so, dass diese Zwischenstellung, solange sie andauert, in ihnen einen innerpsychischen Konflikt auslöst. In diesem Sinne gehören sie also gleichzeitig zwei oder mehr verschiedenen Kulturen an.
(Heintz 1968: S. 222, Nachweis im gelben Kasten)

Dabei ist für Heintz von grundlegender Bedeutung, dass die Teilnahme an den verschiedenen Kulturen für das teilnehmende Individuum persönlich verbindlich ist, es nur dann zu dem für die Randpersönlichkeit typischen innerpsychischen Konflikt kommt:

Das heisst, dass die spezifische Problematik der Randpersönlichkeit nur dann auftritt, wenn für den Einzelnen die Teilnahme an verschiedenen Kulturen persönlich verbindlich ist.
(Heintz 1968: S. 222, Nachweis im gelben Kasten)

Zu dem nach Heintz für die Randpersönlichkeit typischen innerpsychischen Konflikt kann es also nur dann kommen, wenn die versuchte und im Fall der Randpersönlichkeit nicht gelingende Teilnahme an verschiedenen Kulturen vom betroffenen Individuum nicht zu etwas Unverbindlichem erklärt und also entwertet werden kann. Die für die Randpersönlichkeit vorausgesetzte persönliche Verbindlichkeit erläutert Heintz folgendermassen:

Persönliche Verbindlichkeit bedeutet in unserem Zusammenhang, dass die Teilnahme an einer Kultur in unmittelbarer Weise die persönliche Identität des Individuums, das heisst sein Selbstbild berührt. Die Widersprüche, die sich aus einer mehrfachen Teilnahme ergeben und die sich im Selbstbild widerspiegeln, können tatsächlich innere Konflikte auslösen, da ja das Selbstbild im wesentlichen als Ergebnis eines individuellen Bemühens um Integration der Persönlichkeit gedeutet werden kann. Die Schaffung einer Identität oder eines Selbstbildes ist identisch mit der sozialen Integration der Persönlichkeit, einer Integration, die auch die Gruppenzugehörigkeiten umfasst, also die sozialen Beziehungen des Individuums berücksichtigt. Mit anderen Worten, die persönlich verbindliche Gruppenpartizipation stellt den sozialen Aspekt der Persönlichkeitsintegration dar.
(Heintz 1968: S. 222f.)

Für Heintz kommt es nur dann zu einer Persönlichkeitsintegration, wenn es dem Individuum gelingt, eine persönlich verbindliche Gruppenpartizipation auch wirklich herzustellen. Wenn das Individuum auf eine solche Partizipation persönlich verbindlich angewiesen ist, es sie aber nicht integral herstellen kann, spricht Heintz von der Randpersönlichkeit.

Von diesem Standpunkt aus gesehen handelt es sich bei der Randpersönlichkeit um ein Individuum, dem es aus äusseren oder inneren Gründen nicht gelingt, die Integration vollständig oder wenigstens zum grossen Teil zu vollziehen. Es handelt sich demnach um eine partiell desintegrierte Person mit allen Folgen, die sich daraus ergeben.
(Heintz 1968: S. 223)

An späterer Stelle nennt Heintz einige Beispiele von Gruppierungen, in denen am ehesten Randpersönlichkeiten zu erwarten sind:

Randpersönlichkeiten sind also zum Beispiel unter den Immigranten, den Konvertiten, den Arrivisten, den Mestizen usw. zu finden.
(Heintz 1968: S. 222f.)

Dort also, wo Menschen im Verlauf ihres Lebens ihren kulturellen Kontext entweder von selber wechseln (z.B. Immigranten) oder wo ihnen ein neuer kultureller Kontext gleichsam übergestülpt wird (etwa einer indigenen Bevölkerung, deren im neuen Kontext aufwachsende Nachfahren dann als Mestizen bezeichnet werden), sind nach Heintz Randpersönlichkeiten am wahrscheinlichsten. In der amerikanischen Fachliteratur, an der Heintz sich sehr stark orientiert, wurde die Frage der Randpersönlichkeit - im Amerkanischen als Marginal Personality oder auch kurz: Marginal Man bezeichnet - vor allem im Zusammenhang mit der Immigration behandelt. Massgebend dabei war insbesondere eine von Peter Heintz zitierte Schrift von Robert Ezra Park aus dem Jahr 1928:

Robert Ezra Park: Human Migration and the Marginal Personality, in: American Journal of Sociology, 33, 1928, S. 881-893.

Das Grundproblem dieser Bestimmung der Randpersönlichkeit besteht darin - was dann auch ein Grundproblem des Wohlfahrtskapitalismus darstellt -, dass die Schaffung einer Identität oder eines Selbstbildes als identisch mit der sozialen Integration der Persönlichkeit angesehen wird (genauso gesagt im oben Zitierten). Damit wird die gelingende soziale Integration in einen neuen kulturellen Kontext zum alleinigen Kriterium dafür erhoben, ob jemand eine volle Persönlichkeit mit einem starken Ich zu entwickeln vermag oder eben nicht zu entwickeln vermag. Im zweiteren Fall handelt es sich gemäss der Heintz'schen Bestimmung zwangsläufig dann um eine Randpersönlichkeit mit einem schwachen Ich. Die Möglichkeit, dass ein Individuum zu einem kulturellen Kontext, an dessen sozialer Verbindlichkeit es nicht vorbeikommt, von selber eine kritische Distanz herstellt und also bewusst am Rand sich hält, dieses aber eben aus einer integren Haltung heraus und ohne innerpsychischen Konflikt, kann in der Heintz'schen Bestimmung der Randpersönlichkeit definitionsgemäss nicht vorkommen. Eine Randpersönlichkeit mit starkem Ich wäre für Heintz eine contradictio in adjecto und widerspräche zudem der ganzen Ideologie des Wohlfahrtskapitalismus. Persönlichkeitsbildung sozusagen ex negativo zum System kann es für Heintz nicht geben und ist auch in der Ideologie des Wohlfahrtskapitalismus nicht vorstellbar.

Die hier formulierte Kritik an der Heintz'schen Bestimmung der Randpersönlichkeit verweist auf einen grundlegenden Unterschied zwischen der von Peter Heintz vertretenen Struktur- und Legitimationstheorie, die die vorgegebenen sozialen Strukturen (allgemein auch als Kultur bezeichnet) nicht grundlegend in Frage zu stellen, sondern höchstens als etwas Konflikt- oder Spannungserzeugendes aufzufassen vermag, und kritischer Theorie, die mit grundlegenden Widersprüchen zwischen den gegebenen sozialen Strukturen und dem Individuum rechnet und es als persönlichkeitsbildendes Moment dann sogar ansieht, auf diese Widersprüche reflektieren, mit ihnen rechnen zu können. Es war der kritische Theoretiker Leo Löwenthal, der sinngemäss darauf hinwies, dass man eine wirkliche Einsicht ins Bestehende nur vom Rand her überhaupt gewinnen könne. Und es sei an dieser Stelle die autobiographische Anmerkung eingefügt, dass der hier Schreibende nach seinem Studium mit Schwerpunkt in der Heintz'schen Theorie und infolge des dabei verspürten Ungenügens sich dem Studium der kritischen Theorie zuwandte, dieses dann allerdings als ein die Theorie privat sich Aneignender.

Heintz beschreibt die Lage der Randpersönlichkeit auch in psychoanalytischen Termini:

Im Hinblick auf die Problematik, mit der wir uns hier beschäftigen, ist jene These von entscheidender Bedeutung, nach der sich das Über-Ich in einer relativ frühen Phase des Sozialisierungsprozesses entwickelt und sich in der Regel während dieser Zeit verfestigt. In unseren Gesellschaften scheint dieser Prozess im allgemeinen mit dem sechsten oder siebenten Altersjahr beendet zu sein, dann also, wenn das Kind zur Schule geht. Zur selben Zeit pflegt sich auch der konkrete Inhalt des Über-Ichs zu festigen, der dem Kind durch eine besonders intime und affektive Kommunikation mit der Mutter vermittelt worden ist.
Da der Inhalt des Über-Ichs - das heisst die im 'Gewissen' verkörperten Normen - seinen Ursprung, wenigstens in unseren Gesellschaften, in der Mutter-Kind-Beziehung besitzt, versteht man, warum sich später zwischen diesen Normen und dem Inhalt des jeweiligen Orientierungshorizontes des Ichs Konflikte ergeben können. Eine Voraussetzung für den Ausbruch solcher Konflikte ist eine gewisse Autonomie des Über-Ichs.
Wenn das Über-Ich keinen stark ausgeprägten autoritären Charakter besitzt (gemäss Heintz besitzt das Über-Ich der Randpersönlichkeit keinen ausgeprägten autoritären Charakter, kw), sondern als Reaktion auf abweichendes Verhalten (auf ein Verhalten, das von den Normen des Über-Ichs abweicht, kw) - genau wie das christliche 'Gewissen' - Schuldgefühle erzeugt, kann man sagen, dass das Individuum die Forderungen seines Über-Ichs als persönlich verbindlich betrachtet.
(...)
Dem nicht-autoritären Über-Ich steht das Selbstbild gegenüber, das der Einzelne - definitionsgemäss - als persönlich verbindlich empfindet. Das Selbstbild ist eine Schöpfung des Ichs, und in ihm spiegelt sich, wie gesagt, die soziale Integration des Individuums wider.
Normalerweise bildet auch das Über-Ich einen Teil des Orientierungshorizontes des Ichs, doch kommt es gelegentlich vor, dass das Selbstbild - welches auch das Ich-Ideal einschliesst - das Über-Ich nicht oder wenigstens nicht vollständig einbegreift. Anders ausgedrückt heisst dies, dass sich die soziale und die individuelle Integration der Persönlichkeit unter gewissen Umständen gegenseitig ausschliessen. Unter solchen Umständen ist die Identität des Individuums, sein Selbstbild, in Gefahr. (Und wenn diese Gefährungslage akut wird, spricht Heintz von der Randpersönlichkeit, kw).
(Heintz 1968: S. 225f.)

Wenn Soziologen sich mit psychoanalytischen Erklärungen versuchen, kommt es immer wieder rasch zu Simplifizierungen. Peter Heintz setzt im Zitierten allzu einfach das Ich eines Individuums mit der persönlichen Integration und das Über-Ich des Individuums mit der sozialen Integration gleich. Er geht davon aus, dass der Inhalt des Über-Ichs, aufgefasst als die im 'Gewissen' verkörperten Normen, in der Mutter-Kind-Beziehung der frühen Kindheit, in die ihrerseits die sozialen Normen der Gesellschaft einfliessen, festgelegt wird. Der so festgelegte Inhalt könne im Erwachsenenalter dann in Konflikt mit neuen Orientierungshorizonten geraten, wobei ein solcher Konflikt gemäss Heintz durch einen Wechsel des kulturellen Kontexts besonders begünstigt werde. Das Ich des Individuums werde im neuen Kontext zur Befolgung von Normen verpflichtet, die den im Über-Ich enthaltenen Normen widersprechen, was dann die Identität des Individuums, sein Selbstbild, in Gefahr bringe. Eine Voraussetzung für den Ausbruch solcher Konflikte (sei) eine gewisse Autonomie des Über-Ichs, dessen Inhalt eben auch dann aufrecht erhalten bleibe - so Heintz -, wenn das Ich den neuen Normen des neuen kulturellen Kontexts folgen solle. Und befolge es diese neuen Normen, gerate es in Konflikt zum überlieferten Über-Ich und entwickle Schuldgefühle. Wenn das Individuum diesen Konflikt individuell oder mit gesellschaftlicher Hilfe (Schutz von Minderheiten usw.) nicht auflösen könne, gerate seine Persönlichkeit dauerhaft durcheinander und es werde - zumindest partiell - sowohl desintegriert als auch desorientiert:

Die partielle Desintegration und die mangelnde Identität der Randpersönlichkeit verbinden sich mit eigentlichen Desorientierungserscheinungen. Der Einzelne wird zum hilflosen Spielzeug der verschiedensten Orientierungsmittel und gelegentlich zum Opfer von Einflüssen, die unter dem etwas problematischen Begriff der sozialen Desorganisation zusammengefasst werden (der Begriff ist vor allem insofern problematisch, als umgekehrt jedes Organisiert-Sein per se als positiv erscheint, kw). Dieser Begriff bezieht sich nicht etwa auf das völlige Fehlen sozialer Regelungen, sondern vielmehr auf ein Verhalten, das Regeln gehorcht, die in keinem positiven Bezug zu den Normen der Gesellschaft stehen (unter den Normen der Gesellschaft werden von Heintz hier die Normen der neuen Kultur verstanden, welche nach einem veränderten Inhalt des Über-Ichs verlangen, den die Randpersönlichkeit gemäss Heintz nun aber nicht liefern kann, kw). Wenn wir nun bedenken, dass sich die Identität in der Regel in irgendeiner Weise auf die Gesamtgesellschaft bezieht, und dass dieser Bezug die relative Konstanz des Selbstbildes gewährleistet, verstehen wir die Anwendung der obigen Definition der Desorganisation auf die Randpersönlichkeit. Als Phänomene der sozialen Desorganisation gelten in erster Linie die verschiedensten Formen der Kriminalität und der Prostitution (dabei wird häufiger doch von Devianz gesprochen und weniger von sozialer Desorganisation, kw). Damit die desorganisierenden Einflüsse wirksam werden, muss sich der Kulturwechsel in einer mehr oder weniger vollständigen sozialen Isolierung vollziehen, zum Beispiel fern von der Familie; mit anderen Worten, während des Übergangs müssen andere soziale Kontrollen fehlen (die Randpersönlichkeit fällt zwischen das nicht mehr recht wirkenden familiäre Über-Ich und die vom Ich nicht richtig zu organisierenden Anforderungen der neuen Kultur, kw). Das Fehlen einer persönlichen Identität und die Isolierung verschärfen aber ihrerseits den Wunsch nach irgendeiner sozialen Anerkennung um jeden Preis (und sei es vermittels Kriminalität oder Prostitution, kw), und folglich nimmt die Abhängigkeit von der Meinung anderer über die eigene Person zu (wodurch die Persönlichkeit definitiv geschwächt werde, kw).
(Heintz 1968: S. 237f.)

Nun ist es zwar zutreffend, dass dem Individuum in der Mutter-Kind-Beziehung, sofern diese fürsorglich vonstatten geht, die Ausbildung nicht nur eines Ichs, sondern auch eines Über-Ichs und damit eines Gewissens vermittelt wird, und es werden von den Bezugspersonen der primären Sozialisation auch durchaus konkrete Inhalte vermittelt. In diesem ganzen Prozess sind jedoch weniger die vermittelten Inhalte das Entscheidende als vielmehr die Frage, ob überhaupt Inhalte aus einer integren und ehrlichen, das heisst nicht willkürlichen Haltung heraus vermittelt werden oder eben nicht vermittelt werden. Daran entscheidet sich, ob das Individuum überhaupt so etwas wie einen Raum für ein Über-Ich und ein Gewissen entwickeln kann. Wenn es nämlich in einer höchst inkonsistenten, unberechenbaren und willkürlichen, das heisst immer auch lieblosen Weise erzogen wird, wird es ihm erschwert bis verunmöglicht, ein Über-Ich und ein Gewissen überhaupt auszubilden. Mit Max Horkheimer wäre dann gar zu sagen, dass die Ausbildung eines Gewissens einer gewissen, allerdings nicht zu verdinglichenden oder zu verabsolutierenden Autorität von Seiten der Erziehenden bedarf (vgl. zu Horkheimers Begriff der Autorität die Kommentare K113 und K114). Wenn es dem Individuum gelungen ist, ein Über-Ich und damit Gewissen auszubilden, dann hat es damit auch einen Raum gewonnen, über den es im Erwachsenenalter relativ frei verfügen und mit neuen Inhalten füllen kann, und zwar dann eben auch im Widerstand sowohl gegen die von der elterlichen Autorität ehemals vermittelten Inhalte als auch gegen neu erhobene kulturelle Forderungen. Das Gewissen ist primär ein Widerstandspotential wider eine lieblose Welt. Es stimmt damit im Übrigen auch das von Max Horkheimer referierte Forschungsergebnis überein (vgl. Kommentar K114), demgemäss die so genannt braven Kinder, die sich an die Vorgaben der Eltern und Lehrer halten können, im Erwachsenenalter ein sehr viel grösseres Widerstands- oder Selbstbehauptungspotential besitzen als diejenigen Kinder, die rebellisch gegen die Eltern und dann die Lehrpersonen sich zur Wehr setzen. Zweitere erweisen sich im Erwachsenenalter als diejenigen, die sich dem Autoritären am schnellsten unterordnen, was eben damit zu tun hat, dass es ihnen verwehrt blieb, ein Gewissen und damit ein Widerstandspotential auszubilden. Also gehorchen sie immer sofort dem Machtvollen.

Damit dann aber ist - entgegen den Ausführungen von Heintz - nicht der Wechsel der Kultur das Problem und auch nicht, ob das Über-Ich oder Gewissen mit neuen Anforderungen zu vereinbaren ist oder nicht, sondern die Frage, ob ein Über-Ich respektive ein Gewissen überhaupt vorhanden ist oder nicht. Und wenn es vorhanden ist, kann es sein, dass das betreffende Individuum sich mit guten Gründen einer vollen sozialen Integration widersetzt, weil es eine solche Integration mit seinem Gewissen ganz einfach nicht vereinbaren kann. Es nimmt aus Gewissensgründen lieber eine Randposition ein. Der bereits zitierte Leo Löwenthal prägte nicht zufällig den Satz: Mitmachen wollte ich nie. Die Integration ist objektiv dadurch ein Problematisches, dass sie dem Individuum durch vollständige Assimilation ja tatsächlich alle Freiheiten auch nehmen kann (vgl. dazu den vor allem auf einer Kritik von Adorno am Integrationsbegriff basierenden Kommentar K158: Integration, ein ideologisierter Begriff).

Nicht nur ist das Verhältnis von Ich und Über-Ich um einiges komplexer als Heintz es sich vorstellt, zur psychoanalytischen Bestimmung der Persönlichkeit würde mit dem Es (von Sigmund Freud auch als Libido oder als Lustprinzip bezeichnet) auch noch eine dritte Instanz dazu kommen. Vom Es findet sich aber nichts in den Ausführungen von Heintz und auch im Wohlfahrtskapitalismus scheint Es ein ziemlich Verdrängtes zu sein. So gab es zwar Wohlfahrt für die Arbeitenden als Gegenleistung für die klaglos erbrachten Arbeitsleistungen (Auto, Fernseher, Kühlschrank usw.), doch das Es schien von dieser Wohlfahrt eher ausgespart woren zu sein. Erst die 68er Bewegung stellte sich der wohlfahrtsstaatlichen repressiven Toleranz (Herbert Marcuse) entgegen, trat ein für das, was als Befreiung der Liebe bezeichnet wurde. Aber im Grunde waren es schon immer die Kriminellen und die Prostituierten, von Heintz im oben Zitierten als typische (sozial desorganisierte) Randpersönlichkeiten bezeichnet, die unbewusst gegen die Verdrängung des Es ankämpften, dazu immer so genannt unsittlich oder unmoralisch zu handeln gezwungen waren. Natürlich wurden noch diese Abweichungen vom System immer sofort vereinnahmt und unter für sich sinistre kapitale Kontrolle gebracht, wie auch die von der 68er Bewegung bewirkte Öffnung nachträglich vom Neoliberalismus zu dessen Gunsten verkehrt wurde. Nichtsdestrotz gehört ein nicht verdrängter Bezug zum Es genauso zu einer integren Persönlichkeit, und es wäre gegen Heintz sogar anzumelden, dass die durch das Es bewirkte Desintegration und Desorientierung notwendig zu einer solchen Persönlichkeit auch gehören. Dabei wäre immer auch an den bei Adorno bedeutsamen Begriff des Nichtidentischen zu erinnern.

Dieser Kommentar wird in vierzehn Tagen mit einem 2. Teil fortgesetzt ...