K180 Wider die Automaten-Menschen
Nach Georg Büchners Leonce und Lena

6. Oktober 2018

Georg Büchner (1813-1837), der im Alter von 23 Jahren viel zu früh an einer Typhus-Erkrankung verstarb, hatte neben seinem Medizinstudium und seinen politischen Arbeiten verschiedene Stücke geschrieben, darunter – im Jahr 1936 – das Lustspiel Leonce und Lena (Nachweis im gelben Kasten).

Leonce, der Prinz, und Lena, die Prinzessin, leben in verschiedenen Königreichen, Leonce im Reiche Popo, und Lena im Reiche Pipi.

Das Lustspiel handelt zu Beginn im Reiche Popo und zeigt, wie sinnentleert das feudale Leben geworden ist, wie sehr Leonce sich langweilt und sich höchstens an seiner Langeweile noch zu ergötzen vermag: Die Bienen sitzen so träg an den Blumen und der Sonnenschein liegt so faul am Boden. Es krassiert ein entsetzlicher Müssiggang. Müssiggang ist aller Laster Anfang. Was die Leute nicht Alles aus Langeweile treiben! Sie studiren aus Langeweile, sie beten aus Langeweile, sie verlieben, verheirathen und vermehren sich aus Langeweile und sterben endlich aus Langeweile, und und das ist der Humor davon Alles mit den wichtigsten Gesichtern, ohne zu merken, warum, und meinen Gott weiss was dazu. Alle diese Helden, diese Genies, diese Dummköpfe, diese Heiligen, diese Sünder, diese Familienväter sind im Grunde nichts als raffinirte Müssiggänger. Warum muss ich es grade wissen? Warum kann ich mir nicht wichtig werden und der armen Puppe einen Frack anziehen und einen Regenschirm in die Hand geben, dass sie sehr rechtlich und sehr nützlich und sehr moralisch würde? Der Mann, der eben von mir ging, ich beneidete ihn, ich hätte ihn aus Neid prügeln mögen. O wer einmal jemand Anderes sein könnte! Nur 'ne Minute lang. Wie der Mensch läuft! Wenn ich nur etwas unter der Sonne wüsste, was mich noch könnte laufen machen. (Büchner, S. 8f.)

Der Hofnarr Valerio steht dem Prinzen punkto Müssiggang in nichts nach, nur verbucht er diesen als Leistung: Herr, ich habe die grosse Beschäftigung, müssig zu gehen, ich habe eine ungemeine Fertigkeit im Nichtsthun, ich besitze eine ungeheure Ausdauer in der Faulheit. Keine Schwiele schändet meine Hände, der Boden hat noch keinen Tropfen von meiner Stirne getrunken, ich bin noch Jungfrau in der Arbeit, und wenn es mir nicht der Mühe zu viel wäre, würde ich mir die Mühe nehmen, Ihnen diese Verdienste weitläufiger auseinanderzusetzen. (Büchner, S. 10)

König Peter, der Vater von Leonce, kann sich gerade noch klar machen, dass er für seine Unterthanen denken muss, weiss am Morgen aber nicht mehr, was der Knopf in seinem Schnupftuch bedeutet (vgl. Büchner, S. 11). Bei seiner Rede vor dem Staatsrath kann er sich darauf besinnen, dass er seinen Sohn mit einer Prinzessin vermählen lassen will, ... oder allenfalls auch nicht ... (vgl. Büchner, S. 12), vergisst dann aber den weiteren Inhalt seiner Rede: Von was wollte ich sprechen? Präsident, was haben Sie ein so kurzes Gedächtnis bei einer so feierlichen Gelegenheit? Die Sitzung ist aufgehoben. (Büchner, S. 12) Nach der Vermählung soll dem Paar – so der vergessene Beschluss von Peter – auch seine Krone übertragen werden.

Im Reiche Pipi erfährt Prinzessin Lena zur selben Zeit, dass sie mit einem ihr unbekannten Prinzen vermählt werden soll. Sie beschliesst mit ihrer Gouvernante, aus dem Reiche Pipi zu fliehen und so der Zwangsverheiratung zu entgehen. Desgleichen verfährt Leonce, der zusammen mit Valerio aus dem Reiche Popo flieht.

Ohne sich zu kennen, begegnen Leonce und Lena sich zufällig in einem Wirthshaus. Im Garten redet er und redet sie todesverliebt vor sich hin, worauf die Liebe sich entzündet. Allerdings will Leonce, nachdem Lena nach dem ersten Kuss wegläuft, sich gleich in den Fluss stürzen, lässt sich von Valerio aber davon abhalten: Ist denn Eure Hoheit noch nicht über die Lieutnantsromantik hinaus, das Glas zum Fenster hinaus zu werfen, womit man die Gesundheit seiner Geliebten getrunken? (...) Leonce: Mensch, Du hast mich um den schönsten Selbstmord gebracht. (Büchner, S. 32)

Leonce glaubt, Lena sei eine Unbekannte und möchte sie heiraten. Valerio verspricht ihm, dafür zu sorgen, dass er heute vor dessen Vater, König Peter, mit der Unaussprechlichen, Namenlosen, mittelst des Ehesegens zusammengeschmiedet werde (vgl. Büchner, S. 34).

Im Reiche Popo soll der Beschluss von König Peter, demgemäss Leonce, der Prinz vom Reiche Popo, und Lena, die Prinzessin vom Reiche Pipi sich vermählen, umgesetzt werden. Alle am Hofe und auch König Peter sowie der Präsident des Staatsraths warten auf das Hochzeitspaar, aber stattdessen erscheinen vier maskierte Fremde.

(Valerio, Leonce, die Gouvernante und die Prinzessin treten maskirt auf.)
Peter. Wer seyd Ihr?
Valerio. Weiss ich's? (Er nimmt langsam hintereinander mehrere Masken ab.) Bin ich das? oder das? oder das? Wahrhaftig ich bekomme Angst, ich könnte mich so ganz auseinanderschälen und blättern.
Peter. (Verlegen.) Aber aber etwas müsst Ihr dann doch seyn?
Valerio. Wenn Eure Majestät es so befehlen. Aber meine Herren hängen Sie alsdann die Spiegel herum und verstecken sie ihre blanken Knöpfe etwas und sehen sie mich nicht so an, dass ich mich in ihren Augen spiegeln muss, oder ich weiss wahrhaftig nicht mehr, wer ich eigentlich bin.
Peter. Der Mann bringt mich in Confusion, zur Desperation. Ich bin in der grössten Verwirrung.
Valerio. Aber eigentlich wollte ich einer hohen und geehrten Gesellschaft verkündigen, dass hiemit die zwei weltberühmten Automaten angekommen sind und dass ich vielleicht der dritte und merkwürdigste von beiden bin, wenn ich eigentlich selbst recht wüsste, wer ich wäre, worüber man übrigens sich nicht wundern dürfte, da ich selbst gar nichts von dem weiss, was ich rede, ja auch nicht einmal weiss, dass ich es nicht weiss, so dass es höchst wahrscheinlich ist, dass man mich nur so reden lässt, und es eigentlich nichts als Walzen und Windschläuche sind, die das Alles sagen. (Mit schnarrendem Ton.) Sehen Sie hier meine Herren und Damen, zwei Personen beiderlei Geschlechts, ein Männchen und ein Weibchen, einen Herr und eine Dame. Nichts als Kunst und Mechanismus, nichts als Pappendeckel und Uhrfedern. Jede hat eine feine, feine Feder von Rubin unter dem Nagel der kleinen Zehe am rechten Fuss, man drückt ein klein wenig und die Mechanik läuft volle fünfzig Jahre. Diese Personen sind so vollkommen gearbeitet, dass man sie von andern Menschen gar nicht unterscheiden könnte, wenn man nicht wüsste, dass sie blosse Pappdeckel sind, man könnte sie eigentlich zu Mitgliedern der menschlichen Gesellschaft machen. Sie sind sehr edel, denn sie sprechen hochdeutsch. Sie sind sehr moralisch, denn sie stehen auf den Glockenschlag auf, essen auf den Glockenschlag zu Mittag, und gehen auf den Glockenschlag zu Bett, auch haben sie gute Verdauung, was beweist, dass sie ein gutes Gewissen haben. Sie haben ein feines sittliches Gefühl, denn die Dame hat gar kein Wort für den Begriff Beinkleider, und dem Herrn ist es rein unmöglich, hinter einem Frauenzimmer eine Treppe hinauf oder vor ihm hinunterzugehen. Sie sind sehr gebildet, denn die Dame singt alle neuen Opern und der Herr trägt Manschetten. Geben sie Acht, meine Herren und Damen, sie sind jetzt in einem interessanten Stadium, der Mechanismus der Liebe fängt an sich zu äussern, der Herr hat der Dame schon einigemal den Schawl getragen, die Dame hat schon einigemal die Augen verdreht und gen Himmel geblickt. Beide haben schon mehrmals geflüstert: Glaube, Liebe, Hoffnung! beide sehen bereits ganz accordirt aus, es fehlt nur noch das einzige Wörtchen: Amen.
Peter. (Den Finger an die Nase legend.) In effigie? in effigie? Präsident, wenn man einen Menschen in effigie hängen lässt, ist das nicht eben so gut, als wenn er ordentlich gehängt würde?
Präsident. Verzeihen, Eure Majestät, es ist noch viel besser, denn es geschieht ihm kein Leid dabei, und er wird dennoch gehängt.
Peter. Jetzt hab' ich's. Wir feiern die Hochzeit in effigie. (Auf Leonce und Lena deutend.) Das ist der Prinz, das ist die Prinzessin. Ich werde meinen Beschluss durchsetzen, ich werde mich freuen. Lasst die Glocken läuten, macht Eure Glückwünsche zurecht, hurtig Herr Hofprediger.
(Büchner, S. 39-41)

Nach dieser Szene kommt es zur Vermählung von Leonce und Lena, die vom je anderen nicht wissen, dass sie respektive er die zur Vermählung anbefohlene Person ist, und von denen König Peter glaubt, dass es sich um zwei Apparate und nicht um zwei Menschen, und schon gar nicht um Leonce und Lena handelt. Nach der Vermählung nehmen die vier ihre Maskierung ab und alle geben sich gegenseitig zu erkennen. Hat sich das herrschaftlich bestimmte feudale Schicksal trotz oder vielmehr dank der List von Valerio doch erfüllt? (das Ende des Lustspiels folgt weiter unten ...)

Im Jahr 1836, als Büchner sein Stück schrieb, war die Mechanisierung schon weit fortgeschritten, und es gab sicher schon mechanische Spieldosen, auf denen beispielsweise Figuren, mechanisch angetrieben, wie von selber sich drehten, sich verneigten usw. Solches dürfte Büchner sich vorgestellt und als Spiegel den überkommenen politisch-feudalen Verhältnissen vorgehalten haben. Der Adel war im 19. Jahrhundert in dem in viele Fürstentümer verstückelten Deutschland politisch noch an der Macht, wirtschaftlich vom aufgekommenen Bürgertum aber längst überflügelt. Ausser der Reproduktion seiner Macht, dem Eintreiben-Lassen von Steuern, dem Niederhalten der Bevölkerung durch Zensur usw., das heisst der Behinderung der Menschen in allen möglichen und unmöglichen Belangen, hatte der Adelsstand positiv zum gesellschaftlichen Leben nichts mehr beizutragen, war funktionslos geworden. Allenfalls die Vermählung eines Prinzen und einer Prinzessin wird als Nachricht vom Hofe positiv vielleicht noch vermerkt. Der Adel war – so die beissende Kritik von Büchner – zum Ritual schlechthin verkommen, zu einem Spiel von Marionetten oder Apparaten. Sie waren zu Anhängseln einer von ihnen selber sinnlos perpetuierten brutalen politischen Herrschaft geworden.

Die Menschen wehrten sich gegen die überkommene Feudalherrschaft, so gerade auch Georg Büchner mit seinen revolutionären Schriften. Die Zeit, in der er lebte, wurde im Nachhinein als die Zeit des Vormärz bezeichnet, das heisst die Zeit vor der dann scheiternden sog. Märzevolution von 1848/49. Georg Büchners Flugschrift mit dem Titel Friede den Hütten! Krieg den Palästen! vom Juli 1834 gilt als bedeutendste politische Schrift des Vormärz (ein pdf der Flugschrift von Büchner findet sich: hier).

Der Narr Valerio beweist mit der zusammen mit Leonce und Lena ausgeheckten Idee, das Paar sowie sich selbst als Automaten auftreten zu lassen, Esprit und Selbstreflexion. Sie zeigen an sich selbst, was aus dem Adel geworden ist, nichts weiter als eine Ansammlung von Standbildern. König Peter erkennt die Vermählung in effigie als die Lösung für das Vermählungsritual an, von dem er selbst genau weiss, wie tödlich es ist, wie sehr man sich damit hängt. Eine Vermählung von zwei aus Pappdeckeln und Uhrfedern bestehenden Automaten ist in der Tat besser, geschieht niemandem ein Leid, und doch vollzieht man das erwartete Ritual, kann trotzdem jemanden hängen lassen.

Nachdem das ganze Spiel der Vermählung und auch die Übergabe der Herrschaft an das frisch vermählte Paar vollzogen ist und alle von allen wissen, geht das Ende so:

Leonce: Nun Lena, siehst Du jetzt, wie wir die Taschen voll haben, voll Puppen und Spielzeug? Was wollen wir damit anfangen, wollen wir ihnen Schnurrbärte machen und ihnen Säbel anhängen? Oder wollen wir ihnen Fräcke anziehen, und sie infusorische Politik und Diplomatie treiben lassen und uns mit dem Mikroskop daneben setzen? Oder hast Du verlangen nach einer Drehorgel auf der milchweisse ästhetische Spitzmäuse herumhuschen? Wollen wir ein Theater bauen? (Lena lehnt sich an ihn und schüttelt den Kopf) Aber ich weiss besser was Du willst, wir lassen alle Uhren zerschlagen, alle Kalender verbieten und zählen Stunden und Monden nur nach der Blumenuhr, nur nach Blüthe und Frucht. Und dann umstellen wir das Ländchen mit Brennspiegeln, dass es keinen Winter mehr giebt und die uns im Sommer bis Ischia und Capri hinaufdrestilliren, und wir das ganze Jahr zwischen Rosen und Veilchen, zwischen Orangen und Loorbeern stecken.
Valerio: Und ich werde Staatsminister und es wird ein Dekret erlassen, dass wer sich Schwielen in die Hände schafft unter Kuratel gestellt wird, dass wer sich krank arbeitet kriminalistisch strafbar ist, dass Jeder der sich rühmt sein Brod im Schweisse seines Angesichts zu essen, für verückt und der menschlichen Gesellschaft gefährlich erklärt wird und dann legen wir uns in den Schatten und bitten Gott um Makkaroni, Melonen und Feigen, um musikalische Kehlen, klassische Leiber und eine kommode Religion.
(Büchner, S. 43f.)

Es lebe die dem guten Leben und der Selbstreflexion zuträgliche Musse!

Allerdings, die Bürger hatten sich bereits selber ihr eigenes Theater gebaut, worin mitgespielt werden muss, hatten selbst ihre den Takt angebenden Uhren und Fabrikglocken schon gebaut. Die mühselige Arbeit wird gelobt und die Musse ist – mehr noch als im Feudalismus – unter Kuratel gestellt ...

Es musste ein Franz Kafka kommen, um den zur Herrschaft gelangten Bürgern ihr Theater vorzuspielen. Die Bürger aber verstanden nicht ...