K181 | Plädoyer für das Zögerliche Zum Film 12 angry men von Sidney Lumet aus dem Jahr 1957 20. Oktober 2018 |
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Der amerikanische Spielfilm 12 angry men (üblicherweise mit: Die zwölf Geschworenen übersetzt) kam im Jahr 1957 in die Kinos und ist heute nur noch wenig bekannt. Deshalb sei hier auf den Film aufmerksam gemacht. 12 angry men kann im Internet direkt im englischen Original angesehen werden (siehe Nachweis und Link im gelben Kasten). Das Drehbuch und die Dialoge sind präzise durchdacht und die Rollen im Film ausgezeichnet besetzt. Die Schauspieler spielen ihre je besonderen Rollen authentisch und die Kameraführung ist brilliant. Der Film ist ein Statement und alle Schaupieler kennen dieses Statement, was bei späteren Remakes des Films nicht mehr derart der Fall war. Das hier angezeigte Original ist unerreicht. |
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Der Film spielt in praktisch ganzer Länge in einem einzigen Raum, dem Geschworenenzimmer. In diesem Geschworenenzimmer versammeln sich zwölf Geschworene, um über einen mutmasslichen Mord das Urteil zu fällen. Sie haben zu beurteilen, ob der Angeklagte, ein 18-jähriger Junge, den ihm zur Last gelegten Mord an seinem Vater begangen hat oder nicht begangen hat, ob er schuldig oder nicht schuldig ist: guilty or not guilty? Der Angeklagte bestreitet, den Mord begangen zu haben. Die Urteilsfindung der Geschworenen stellt – so der vom Film hergestellte Kontext – den Abschluss eines sechstägigen Gerichtsprozesses dar, in dessen Rahmen der Mord durch die Anwälte, durch die Befragung des Angeklagten und der Zeugen usw. verhandelt wurde. Diese der Urteilsfindung durch die Geschworenen vorausgegangene Gerichtsverhandlung wird im Film nicht gezeigt. Deren Inhalt kommt in der Sitzung der Geschworenen aber immer wieder zur Sprache. Die zwölf Geschworenen haben nun also in ihrer den Abschluss des Prozesses bildenden Urteilsfindung zu entscheiden, ob der angeklagte junge Mann schuldig oder nicht schuldig ist. Sie haben die Frage so lange zu diskutieren, bis sie sich einig sind, das heisst entweder alle den Angeklagten für schuldig oder alle den Angeklagten für nicht schuldig erklären. Ein Schuldspruch der zwölf Geschworenen hat zwingend (mandatory) die Todesstrafe zur Folge. Der Angeklagte muss in diesem Fall durch den elektrischen Stuhl ums Leben gebracht werden. Die Geschworenen haben den Angeklagten hingegen dann für unschuldig und also frei zu sprechen, wenn sie einen begründeten Zweifel (reasonable doubt) an der Schuld des Angeklagten haben. |
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Film
12 angry men amerikanischer Spielfilm Der Film kann auf dem Internet im amerikanischen Original angesehen werden: Link Regisseur: Sidney Lumet Drehbuch: Reginald Rose
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Aus den Diskussionen, welche die zwölf Geschworenen im Verlauf ihrer Urteilsfindung führen, geht hervor, dass es für die Mordtat zwei Zeugen gab. Eine Frau sagte vor Gericht aus, den Mord aus dem Fenster des gegenüber liegenden Hauses beobachtet und den angeklagten 18-jährigen Jungen als Mörder von dessen eigenem Vater erkannt zu haben. Die Tat sei kurz nach Mitternacht um 00.10 geschehen. Zum Tatzeitpunkt sei zwar – so die Zeugin – ein Zug der Hochbahn zwischen ihrem Haus und dem gegenüber liegenden Haus des Jungen vorbei gefahren, doch sei der Zug ohne Passagiere ins Depot gefahren und deshalb nicht beleuchtet gewesen. So habe sie den Mord durch die zwei letzten unbeleuchteten Wagen des Zugs hindurch von ihrem Bett aus beobachten können. Sie habe gesehen, wie der jetzt auf der Anklagebank sitzende Nachbarsjunge den eigenen Vater erstochen habe. Ein Mann, der unmittelbar unter der Wohnung des Jungen wohnt, sagte vor Gericht ebenfalls als Zeuge aus. Er habe zur Tatzeit um 00.10 gehört, wie der Junge in der Wohnung oberhalb geschrien habe: Ich bringe dich um! und wie eine Sekunde später ein Körper zu Boden gefallen sei. Er, der Zeuge, sei dann sofort zu seiner Wohnungstüre gelaufen, habe diese geöffnet und gesehen, wie der jetzt auf der Anklagebank sitzende Nachbarsjunge das Treppenhaus hinunter gerannt sei und das Haus verlassen habe. Der angeklagte Junge sagte vor Gericht aus, dass er am fraglichen Abend gegen etwa 8 Uhr von seinem Vater mehrmals geschlagen worden sei und das Haus daraufhin verlassen habe. Er sei in einen Laden gegangen und habe dort ein Klappmesser gekauft, sich nachher mit Freunden getroffen, die sein neues Klappmesser auch gesehen hätten. Das Treffen mit den Freunden habe bis um ca. 09.45 gedauert. Um 10.00 sei er nochmals nach Hause gegangen, habe die Wohnung um 11.30 Uhr aber wieder verlassen, um alleine ins Kino zu gehen und sich mehrere Filme anzusehen. Er sei erst um 03.10 in der Nacht nach Hause gekommen, wo ihn zwei Detektive gleich verhaftet haben. Sein Klappmesser müsse er auf dem Weg ins Kino durch ein Loch in seiner Hosentasche verloren haben, besitze es seit da auf jeden Fall nicht mehr. Der Vater des Jungen wurde mit einem genau gleichen Klappmesser erstochen, wie der Junge es sich am selben Abend besorgt hatte. Der Besitzer des Ladens, wo der Junge das Messer gekauft hatte, gab vor Gericht an, dass dieser Typ Klappmesser mit reich verziertem Griff sehr selten, es das einzige dieser Art sei, das er am Lager habe. Vieles deutet darauf hin, dass der angeklagte Junge den Mord entgegen seinen Beteurungen wirklich begangen hat. Zwei Zeugen geben an, ihn beim Mord unmittelbar gesehen oder gehört zu haben, und der Mord erfolgte mit einem in seiner Art seltenen Klappmesser, einem analogen wie der Junge ein paar Stunden zuvor sich eines gekauft und dann angeblich gleich wieder verloren hatte. Auch die zwölf Geschworenen, die sich nach der Gerichtsverhandlung im Geschworenenzimmer versammeln – und so beginnt der hier angezeigte Film – neigen zur Einschätzung, dass der Junge den Mord tatsächlich beging. Vor Sitzungsbeginn kontrolliert ein Gerichtsdiener noch rasch, ob alle zwölf Geschworenen anwesend sind und erklärt, dass er vor der Türe warte und die Geschworenen nur zu klopfen bräuchten, wenn etwas wäre (just knock). Er verlässt den Raum und schliesst die Türe von aussen ab. Die zwölf Geschworenen setzen sich in der Reihenfolge ihrer Geschworenennummern um den grossen bereitstehenden Tisch. Die Sitzung beginnt unter der Leitung vom Geschworenen Nr. 1. Dieser weist darauf hin, dass ein vorsätzlicher Mord zu beurteilen sei, der bei einem Schuldspruch zwingend zur Todesstrafe führe, dass für ein abschliessendes Urteil alle zwölf Geschworenen zum selben Urteil, das heisst entweder alle zu einem schuldig oder alle zu einem nicht schuldig gelangen müssten. Es bedürfe eines zwölf zu nichts (twelve to nothing). Der Geschworene Nr. 1 erklärt weiter, dass man entweder den Fall zuerst diskutieren oder gleich eine erste Abstimmung vornehmen könne. Er fragt in die Runde, wie man vorgehen wolle, und alle sind damit einverstanden, sofort abzustimmen. Der Fall scheint klar zu liegen, zugunsten eines allgemeinen Schuldspruchs. Der Geschworene Nr. 1 fordert die anderen Geschworenen dazu auf, dann, wenn sie den Angeklagten für schuldig erachten, die Hand zu heben. Er selbst hebt die Hand und zählt sodann alle gehobenen Hände. Entgegen der allgemeinen Erwartung stimmen nicht alle zwölf Geschworenen für schuldig, sondern nur deren elf. Der Vorsitzende stellt die Gegenfrage, wer für unschuldig stimmt, und es hebt tatsächlich ein Geschworener, Geschworener Nr. 8, alleine die Hand. An dieser Stelle beginnt die Sitzung und damit der Film erst richtig ... Im Verlauf der im Film dargestellten Geschworenensitzung und der zum Teil heftig und auch handgreiflich geführten Debatte wechselt die Haltung der Geschworenen, die zuerst klar auf schuldig ging, langsam aber sicher auf nicht schuldig. Am Schluss der Sitzung stimmen tatsächlich alle zwölf Geschworenen für nicht schuldig. Das Spannende am Sitzungsverlauf und also am Film besteht in der ganzen Dynamik und Dramatik hinsichtlich der angeführten Argumente pro und kontra sowie, wie diese Argumente von den einzelnen Geschworenen vertreten werden. Dazu sei hier konkret nichts weiter verraten, sondern auf den Film selber verwiesen (vgl. den Link oben im gelben Kasten). Es sei aber auf ein wesentliches Moment in der ganzen Entscheidfindung hingewiesen. Der Geschworene Nr. 8 (gespielt von Henry Fonda) erklärt zu Beginn – wie alle perplex auf sein alleiniges Votum für nicht schuldig reagieren –, dass er selber auch nicht wisse, ob der Angeklagte schuldig oder nicht schuldig sei, er aber nicht einfach so in wenigen Minuten, ohne dass darüber geredet worden sei, jemanden auf den elektrischen Stuhl schicken könne. In diesem Zögern, nicht sofort dem ersten Eindruck nachzugeben, die Hand nicht sofort einfach für schuldig zu heben und dann nach Hause zu gehen, liegt ein Wesentliches. Es lässt nicht nur Raum für Überlegung, sondern auch Raum dafür, dass dem einen oder anderen Geschworenen Details aus der Gerichtsverhandlung plötzlich sowohl in den Sinn als auch in einen neuen Sinnzusammenhang treten können. Plötzlich erhält eine Besonderheit eine ganz neue Bedeutung, weil sie unter einem neuen Blickwinkel betrachtet wird. Wahrheit ist nicht nur etwas, zu dem die einzelnen Beteiligten fähig sind und einander vermitteln, sondern zugleich ein von der jeweils betrachteten Sache Abhängiges, ein auch von ihr, das heisst ein den Geschworenen von aussen Ein- oder Zufallendes. Und dieses Zufallen muss von den Beteiligten zuerst überhaupt möglich gemacht werden, und dem genau dient das Zögerliche. Ein Prototyp des derart Zögernden und im hier angedeuteten Sinn vernünftig Menschlichen ist von William Shakespeare mit Hamlet gezeichnet worden (vgl. dazu auch Kommentar K142). Wenn man bedenkt, wie sehr heute das rasch Anpackende, Entschlusskräftige und sofort eine Aufgabe Abhaken-Könnende als Positivum immer wieder vermerkt wird, während doch aber das Zögerliche vonnöten wäre, um vor grundlegenden und insbesondere unmenschlichen Fehlentscheiden gefeit zu sein, wird es einem ganz angst und bang. Man vermag es dann nämlich gar nicht mehr, ein zweites oder drittes Mal neu hinzuschauen oder hinzuhören, bekommt von der allenfalls neu sich zeigen wollenden Sache gar nichts mehr mit. Zu einem Zweifel an der ersten oberflächlichen Version kann es schon gar nicht erst kommen. Wenn es zu ihm aber kommen kann, können ganz neue Möglichkeiten eben etwa dazu, was in einer Mordnacht anders sich abgespielt haben könnte, wie die Zeugen anders sich verhalten haben könnten usw. in den Blick treten. Es heisst nicht, dass die Nacht wirklich genauso anders verlaufen sein muss, aber es besteht die Möglichkeit dazu: It's possible. Eine untergründige Entwicklung innerhalb der von den12 angry men geführten Debatten besteht darin, dass die zwölf Männer – und zwar schliesslich auch die am härtest gegen jeden Zweifel gesottenen – zusehends aufmerksamer werden für Sachen, die sie während der Gerichtsverhandlung zwar vielleicht auch bemerkt, aber nicht in ihre Überlegungen eingelassen hatten. Infolge des Hinauszögern der Urteils werden ihre Sinne offener für in der Gerichtsverhandlung vorgekommene Details, insbesondere für neue Zusammenhänge zwischen den Details. Aus den 12 angry men werden im Verlauf der Debatte zwölf besonnene – man kann vielleicht auch sagen – zwölf zum Leben hin mit ihrer ganzen Vernunft offene, das heisst Würde zeigende Menschen. Das bedeutet nicht, dass das von allen schliesslich befürwortete Urteil nicht schuldig nicht auch ein Fehlurteil darstellen kann. Der angeklagte Junge kann seinen Vater gleichwohl doch ermordet haben. Es heisst nur, dass alle zwölf Geschworenen einen begründeten Zweifel (reasonable doubt) an dieser Version haben, und ein solcher begründeter Zweifel muss notwendig zu einem Freispruch führen. Nach ihrer Einigung auf nicht schuldig verlassen alle zwölf Geschworenen das Sitzungszimmer in Würde. Wenn die zwei Zögerlichsten der zwölf ganz am Schluss ausserhalb des Gerichtsgebäudes sich die Hand geben, gegenseitig sich mit Namen bekannt machen, um sofort wieder sich zu trennen (so long!), gratulieren sie gegenseitig sich zu eben dieser Würde. Sie ist ihr Verdienst nicht alleine, aber auch ihr Verdienst. Und der Gewinn ist unglaublich. |
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