K182 | Zu einer Kritik der gesellschaftlichen Totalität
3. November 2018 |
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Die nachstehenden Erläuterungen zu einer Kritik der gesellschaftlichen Totalität sind eng an die Theoreme der kritischen Theorie angelehnt. Nachstehend sei auf die detaillierten Nachweise der diversen Literaturbezüge verzichtet. Es soll – in dieser ersten Fassung – primär auf den Inhalt geachtet werden. Totalität bedeutet allgemein so viel wie das vollständig Einbegreifende, nichts Auslassende. Die gesellschaftliche Totalität nimmt Bezug auf die innerhalb einer Gesellschaft lebenden Individuen und bedeutet hier, dass die Gesellschaft in einer bestimmten, noch genau zu erläuternden Weise alle Individuen einbegreift, keines auslässt. Dadurch nun, dass die Individuen in der bürgerlichen Gesellschaft als – wie ideologisch immer – autonome vorgestellt werden, erscheint die gesellschaftliche Totalität als ein der Autonomie Widersprechendes und also – in bürgerlich-ideologischer Sicht – als ein Unmögliches. Deshalb wird der Begriff der gesellschaftlichen Totalität von denjenigen, die von der Vorstellung durchdrungen sind, die bestehende bürgerliche Gesellschaft basiere auf Autonomie, rundweg abgelehnt. Freilich – so wird hier mit kritischer Theorie behauptet –, die gesellschaftliche Totalität existiert sehr wohl. Sie vermittelt sich den Individuen durch das Tauschprinzip, das die bestehende Gesellschaft vollständig durchzieht und dem sich kein Individuum, oder allerhöchstens zu einem sehr hohen Preis, entziehen kann. Alle Individuen sind gezwungen, entweder ihre Arbeitskraft gegen Lohn zu tauschen und/oder ihr Kapital, wenn sie über ein solches verfügen, in die ökonomische Zirkulation einzuspeisen und damit ebenfalls dem Tauschprinzip zu folgen. Wer nicht bereit ist, seine Arbeitskraft zu verkaufen und/oder sein Kapitel zu verwerten, wird kurz- oder langfristig, und zwar von der Gesellschaft selber, in seiner Existenz und damit seinem Leben bedroht. Das Tauschprinzip erscheint in der bürgerlichen Gesellschaft als ein Tausch von Äquivalenten, dadurch als gerecht, und das Individuum, das auf den Tausch eintreten oder nicht eintreten kann, als autonom. Der Schein jedoch trügt. Es war die grossartige Leistung von Karl Marx und insbesondere seiner Kritik der politischen Ökonomie (Untertitel von Das Kapital), aufgezeigt zu haben, dass im Tausch von Äquivalenten ein Herrschaftliches und damit ein alle Individuen einbegreifender Zwang sich durchsetzt. Vermittels des Tausches und ohne dass es diesem als solchem anzusehen wäre, kann dank ihm einerseits Mehrwert aus dem Produktionsprozess abgezweigt oder vielmehr geraubt, andererseits der Einsatz von Menschen als blosse Mittel zur Erfüllung vorgegebener Zwecke durchgesetzt werden. Mit der Unterzeichnung des Arbeitsvertrags, der den harmonischen Schein des Tausches von Äquivalenten erweckt, stimmen die Individuen hinterrücks also sowohl ihrer Beraubung durch Dritte als auch der Beschneidung ihrer Autonomie hinsichtlich der mit ihrer Arbeit zu erreichenden Zwecke zu. Zweiteres ist in Max Horkheimers Kritik der instrumentellen Vernunft stärker noch kritisiert als bei Marx, führt die Marxische Theorie echt weiter. Im gesellschaftlich total durchgesetzten Tauschprinzip geht somit nur dem Schein nach alles mit rechten Dingen zu. In Wirklichkeit täuscht der Tausch über die damit ratifizierte Enteignung der Tauschenden hinweg. Und auf den Tausch prinzipiell nicht eintreten kann das einzelne Individuum deshalb nicht, weil es sich dadurch, wie gesagt, in seiner Existenz bedrohen würde. Die gesellschaftliche Totalität als ein der Autonomie widersprechender Zwang ist nicht allein wegen des scheinbar gerechten Tauschprinzips schwer durchschaubar. Sie wird im Gleichen durch die Vernunft der Individuen selber verschleiert, welche – ebenfalls undurchschaut – nur als eine beschränkte sich noch geltend machen kann. Sie darf sich innerhalb der gegebenen bürgerlichen Gesellschaft – in gleichsam blinden Diensten für jene gesellschaftliche Totalität – nur noch als die von Max Horkheimer in seiner Kritik der instrumentellen Vernunft so bezeichneten instrumentellen oder subjektiven Vernunft zeigen. Diese Form der Vernunft dient zwar als hervorragendes Mittel für die instrumentelle Erfüllung vorgegebener Zwecke, aber eben nur für diese. Die zu erfüllenden Zwecke selber nämlich können von dieser beschränkten Vernunft nicht in Frage gestellt, sondern nur instrumentell eben erfüllt werden. Die aufs Subjektive oder Instrumentelle beschränkte Vernunft hat die gesellschaftlich vorgegebenen Zwecke und damit auch das unerkannt von gesellschaftlicher Totalität Durchgesetzte fraglos oder eben blind zu akzeptieren. Die in der gesellschaftlichen Totalität sich durchsetzenden Zwecke sind die der Naturbeherrschung dienlichen. Indem die Naturbeherrschung seit jeher nicht nur die Beherrschung der äusseren Natur, sondern im Gleichen die Beherrschung von Menschen über Menschen sowie die Selbstbeherrschung der Menschen mit sich führt, stellt sie – so die grundlegende Einsicht der von Horkheimer und Adorno in ihrer Dialektik der Aufklärung formulierten Kritik – die nahezu als anthropologisch zu bezeichnende Essenz gesellschaftlicher Herrschaft dar. Die Naturbeherrschung kommt der in jener gesellschaftlichen Totalität drinsteckenden, in Wahrheit gegen die Autonomie der Menschen sich richtenden gesellschaftlichen Herrschaft zugute. Die der Naturbeherrschung und damit der gesellschaftlichen Herrschaft dienlichen Zwecke müssen von den Individuen immer aufs Neue und unter grossen Opfern blind erfüllt werden, ohne dass die ausführenden Individuen dagegen noch gross etwas zu denken und zu tun vermöchten. Sie müssen im Dienst der Naturbeherrschung sich gegenseitig und sich selber beherrschen und unterdrücken, dazu ihre instrumentelle Vernunft weiter und immer noch weiter entwickeln. Das in diesem Prozess enthaltene Selbstzerstörerische – von Horkheimer und Adorno als gegenläufiges Moment der Aufklärung bezeichnet – bleibt unerkannt. Auch und erst recht die Wissenschaften ergeben sich ganz den der Naturbeherrschung dienlichen Zwecken und nehmen die instrumentelle Vernunft ohne weitere Überlegung für die ganze Vernunft. In den dementsprechend als positivistisch zu bezeichnenden Wissenschaften kommt eine Hinterfragung der naturbeherrschenden Zwecke und damit ein Vordringen zu einer spekulativen oder auch objektiven Vernunft nicht in Frage. Nicht zufällig haben die Sozialwissenschaften von allem Anfang an sich ganz an den naturwissenschaftlichen Methoden orientiert und diese sich zu eigen gemacht. Es wird nur noch in diesen Kategorien gedacht und einzig zwischen mit bloss instrumenteller Vernunft ausgestatteten Individuen und einer bloss als Objekt aufgefassten Gesellschaft unterschieden. Jeder Versuch, die Gesellschaft als ein auf die Menschen willkürlich einwirkendes Subjekt und die Menschen als Objekte eben dieser Gesellschaft aufzufassen – was Gesellschaftskritik erst wäre –, wird zumeist als Metaphysik abgetan, heutzutage gar auch als Verschwörungstheorie diskreditiert, auf jeden Fall aber verworfen. Die Vorstellung einer anonoym wirkenden und deshalb schwer fassbaren gesellschaftlichen Totalität ist auch den (positivistischen) Sozialwissenschaftlern völlig fremd. Die von den Individuen im Dienst der gesellschaftlichen Totalität zu vollstreckende Naturbeherrschung meint immer auch, dass das, was als unbeherrschte Natur zu bezeichnen wäre – von Adorno auch als das Nichtidentische oder das Begriffslose bezeichnet –, vermittels der ganzen naturwissenschaftlichen Apparatur, der ganzen Mathematik, Physik, Statistik usw. geradezu zum Verschwinden gebracht werden muss. Theodor W. Adorno bezieht diesen Prozess auf das naturbeherrschende Individuum selber und erläutert ihn sinngemäss so, dass dieses empirisch reale Individuum, das wesentlich selber ja unbeherrschte Natur ist – man denke an das von Sigmund Freud im Anschluss an Georg Groddeck so bezeichnete Es – unter dem naturbeherrschenden Abstraktionsprozess, der im Tausch, in der Arbeit usw. höchst real sich vollzieht, geradezu verbannt werden muss, dieses mit der Folge, dass von ihm – gesehen in der ideologischen Perspektive der Naturbeherrschung – einzig noch das die Welt aus sich selbst erschaffende Kantische Transzendentalsubjekt übrig bleibt. Diese Einsicht, wonach in dem als Realabstraktion zu bezeichnenden naturbeherrschenden Prozess ein – hier sehr frei dargestellt – im Grunde erfahrungsloses Wesen immer aufs Neue hypostasiert wird, wurde von Alfred Sohn-Rethel in den 1930er Jahren entwickelt, dann aber in einer erst viel später erschienen Schrift vorgelegt. Die Schrift trägt den Titel: Das Geld, die bare Münze des Apriori (1976). Es wird – hier jetzt allgemeiner gesagt – in der Vollstreckung der Naturbeherrschung, die immer auch die Beherrschung der inneren Natur erfordert, die Ideologie des Kantischen Transzendentalsubjekts und damit der Vernunft a priori geradezu real produziert, was dann – so die materialistische Idealismuskritik von Sohn-Rethel – den Schein der reinen Vernunft und damit von Autonomie erweckt. Dank der permanent vonstatten gehenden mathematikanalogen Realabstraktion erscheint es so, als wenn das die Naturbeherrschung vollziehende Individuum in seinem Insistieren auf Naturgesetzen autonom handelt und auch autonom ist. Dadurch wird die gesellschaftliche Totalität und die durch diese reproduzierte anonyme gesellschaftliche Herrschaft als das der Autonomie Entgegenstehende verschleiert, mehr noch, sogar in etwas verkehrt, das scheinbar in Autonomie beruht. An diesen zugegeben komplexen Ausführungen lässt sich erkennen, wie schwer die bürgerliche Ideologie wiegt und wie viel spekulative Kraft es erfordert, sie kritisch zu durchdringen. Es erscheint der Mensch in Form der naturbeherrschenden, die ganze Welt durchpflügenden Maschine – und zwar aufgrund der im Prozess der Naturbeherrschung selbst produzierten Transzendentalideologie – als ein autonomes Wesen. Und die real-empirischen Individuen merken vielleicht erst, dass dem nicht so ist, wenn es zu spät ist, wenn sie, von der eigenbetriebenen Maschine niedergestreckt, daliegen. Zumeist merken sie es aber gar nie. Mit der innerhalb der gesellschaftlichen Totalität ultimativ eingeforderten Naturbeherrschung – ideologisch vorgestellt als Autonomie – unterdrücken die Menschen nicht nur die Natur im Allgemeinen, sondern wie gesagt auch ihre eigene, das heisst sich selbst. Je weniger die Menschen kritisch darauf sich besinnen können, desto mehr verspüren sie das von Sigmund Freud so bezeichnete Unbehagen in der Kultur, wobei Freud zurecht zwischen Kultur und Zivilisation keinen Unterschied machte. Es ist das undurchschaute individuelle Unbehagen in der genauso undurchschauten gesellschaftlichen Totalität gemeint. Die Menschen verspüren – entgegen der von ihnen selbst ideologisch unterstellten Autonomie – unterbewusst ihre eigene Unterdrückung, weshalb die unterdrückte Natur gerade dort am allermeisten revoltiert, wo die Vernunft am wenigsten von ihr wissen will. Und wenn die unterdrückte Natur ohne ebenbürtige Vernunft dasteht – die instrumentelle ist genau keine ebenbürtige –, dann muss deren Revolte, zu welcher die Menschen besinnungslos drängen, in die Barbarei führen, dieses dann in paradoxer-, aber logisch erklärbarer Weise im Verbund mit der den Menschen einzig verbliebenen instrumentellen, die Unterdrückung der Natur genau ja betreibenden Vernunft. Max Horkheimer beschrieb diesen Prozess in der Kritik der instrumentellen Vernunft unter dem Titel der Revolte der Natur. Die Konsequenz des Prozesses ist die mit den modernsten Instrumenten, wozu auch die Individuen selber geworden sind, betriebene Barbarei: Genozid und Krieg. Eine über die instrumentelle hinausgehende spekulative Vernunft, die eine Kritik der gesellschaftlichen Totalität überhaupt erst möglich und damit eine befeite Gesellschaft denkbar macht, wäre insbesondere von Seiten der Wissenschaften vonnöten. Stattdessen kapseln die Wissenschaftler sich ab in ihren instrumentell-klinischen Räumen und vertreten von da aus gar noch die Ansicht – wie der Positivist Karl Popper sich 1961 ausdrückte – in der besten aller Welten zu leben. Derweil entfalten sich um sie herum die Diktaturen, toben die Kriege und werden Genozide verübt. Und die Wissenschaftler glauben als echt verdummte dann gar noch, sie hätten damit gar nichts zu schaffen. Darauf, dass die von ihnen zum Ganzen erklärte instrumentelle Vernunft das Movens der ganzen von der Aufklärung beschriebenen Negativspirale bildet, können sie – ohne jedes spekulative Vermögen – nicht einmal im Traum sich vorstellen. Vermutlich träumen sie nicht einmal mehr. Die Menschen hätten sich mit der Natur und damit auch mit sich selbst zu versöhnen, wozu es der Selbstbesinnung bedürfen würde, der Besinnung darauf, dass die von der gesellschaftlichen Totalität eingeforderte allseitige Naturbeherrschung dem Selbst nicht nur dient, sondern es, ins Totale getrieben, zerstört. Mit autonomer Bestimmung ist primär die Befreiung von der hier beschriebenen gesellschaftlichen Totalität gemeint, was im Kantischen Autonomiebegriff durchaus auch drinstecken würde. Autonom meint dabei nicht etwa substanzloses leeres Tun, sondern gerade umgekehrt, die mit spekulativer Vernunft geführte Öffnung hin zur unbeherrschten Natur, zur inneren, zu der anderer Individuen, zur äusseren: Eingedenken der Natur. Es ginge uns allen viel besser. |
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