K184 Habermas stützt das kommunikative Handeln auf eine zum Vornherein beschnittene Rationalität
Eine kritische Anmerkung zur Theorie des kommunikativen Handelns

1. Dezember 2018

Kleine Korruktur vom 3.12.18: Der Satz: So aber darf man kein Verständnis für eine kritische Ratio haben. Ersetzt durch den direkteren Satz: Er bringt aus Gründen der Anpassung kein Verständnis für eine selbstkritische Ratio auf.

Im Jahr 1981 legte Jürgen Habermas ein zweibändiges Werk mit dem Titel Theorie des kommunikativen Handelns vor (Nachweis im gelben Kasten). Das Werk wurde damals sofort breit rezipiert und von vielen als vielversprechender kritischer Wurf eingeschätzt. Jürgen Habermas wurde auch nach dessen eigener Einschätzung als Vertreter der zweiten Generation der kritischen Theorie angesehen, dank der die erste Generation rund um Max Horkheimer und Theodor W. Adorno definitiv abgelöst wäre. Dieser Eindruck wurde dadurch verstärkt, dass Habermas (Jg. 1929) während der 1960er Jahre am Frankfurter Institut für Sozialforschung tätig war. Er hatte im Jahr 1964 den Lehrstuhl für Philosophie und Soziologie vom emeritierten Max Horkheimer übernommen und diesen Lehrstuhl bis 1971 inne. Er war in den bewegten Jahren der 68er Studentenbewegung in Frankfurt neben Adorno präsent und bezog dabei auch prominent Stellung. Allerdings gab Habermas seinen Lehrstuhl in Frankfurt 1971 wieder auf und lehnte es auch ab, die ihm angebotene Leitung des Instituts für Sozialforschung zu übernehmen. Er wechselte nach Starnberg bei München ans dortige Max-Planck-Institut für Sozialwissenschaften. Möglicherweise spürte Habermas, dass seine eigene theoretische Weiterentwicklung auch örtlich eines neuen Umfeldes bedurfte. In den späten 1970er Jahren entwickelte er in Starnberg jedenfalls dann die hier angesprochene Theorie des kommunikativen Handelns.

Der hier Schreibende kam in seinem während der 1980er Jahre in Zürich absolvierten Soziologiestudium um die Lektüre des kommunikativen Handelns nicht herum. Dieses nicht etwa, weil das Werk innerhalb des Studiums vorgeschrieben gewesen wäre, sondern weil viele Mitstudierende sich davon derart begeistern liessen, dass er daran, wollte er auch ein wenig mitreden, nicht vorbei kam. Ihn allerdings begeisterte das kommunikative Handeln von allem Anfang an nicht, sondern er empfand es im Vergleich zu den zwar schwierigen, aber sich um Wahrheit bemühenden Schriften von Horkheimer und Adorno als geradezu oberflächlich, wozu die von Habermas vorgelegten diversen Typologien und Einordnungen wohl wesentlich beitrugen. Dem hier Schreibenden war – bei aller sonstigen Naivität – bereits klar, dass sich das Leben nicht einfach – wie Habermas es suggierte – in Subsysteme untergliedern lässt respektive es, wenn man es trotzdem tut, nicht zum Guten anschlägt. Inhaltlich freilich war er damals dem Werk von Habermas nicht gewachsen, das heisst zu einer Kritik nicht fähig. In den Folgejahren nahm er sich immer wieder vor, eine Kritik zum Kommunikativen Handeln zu verfassen, schaffte es aber nie. Er war dafür – so wäre rückblickend zu sagen – noch zu wenig mit der von Habermas kritisierten kritischen Theorie (mit kritischer Theorie ist hier und im Folgenden immer nur jene von Horkheimer und Adorno gemeint) vertraut. Zudem bietet die Theorie des kommunikativen Handeln für sich das Problem, dass man die darin entwickelten Typologien richtiggehend annehmen und gleichsam durchdeklinieren muss, um in sie überhaupt hineinzufinden. Ein solches Hineinfinden hat dann aber – wie es damals an Mitstudierenden sowie auch an eigenen zaghaften Versuchen abzulesen war – etwas geradezu Hypnotisierendes. Ist man nämlich einmal in den Habermas'schen Typologien drin – den Geltungsansprüchen, dem System mit seinen Subsystemen, der Lebenswelt mit ihren ausdifferenzierten Bereichen Gesellschaft, Kultur und Persönlichkeitsstruktur usw. –, vermag man plötzlich nur noch im vorgegeben typisierenden Sinn zu denken, alles nur noch durch die verschiedenen Raster zu sehen. Und das Leben verschwindet.

Die Theorie des kommunikativen Handelns ist weit über tausend Seiten stark; dieses ohne den 1984 noch dazu gekommenen sechshundertseitigen Ergänzungsband gerechnet. Es soll hier selbstredend nicht das ganze Werk und nicht mal ansatzweise besprochen, sondern lediglich eine im Grunde einzige kritische Anmerkung gemacht werden. Diese Anmerkung erfolgt aus Sicht der nach Habermas' Einschätzung überlebten kritischen Theorie. Sie besagt, dass Habermas das kommunikative Handeln auf eine zum Vornherein beschnittene Rationalität stützt.

Gemäss Habermas ist in modernen Gesellschaften die Lebenswelt der Menschen derart rationalisiert, dass darin dementsprechend eine Rationalität beständig sich geltend macht, über die sich die Menschen im Bedarfsfall – rational dann eben – verständigen können. Mit dem von Habermas erläuterten kommunikativen Handeln ist genau diese intersubjektiv ablaufende rationale Verständigung gemeint. Darin verständigen sich die Kommunikationsteilnehmer über die rationalen und dementsprechend als kritisierbar angenommenen ...
a) ... vom einzelnen Aktor gemachten, als teleologisch zu bezeichnenden Äusserungen einerseits zu Meinungen über existierende Sachverhalte, andererseits zu Absichten hinsichtlich der Erreichung bestimmter Sachverhalte.
b) ... vom einzelnen Aktor gemachten, als handlungsmotivierend zu bezeichnenden Äusserungen in Form von Sollsätzen oder Geboten.
c) ... vom einzelnen Aktor gemachten, als dramaturgisch zu bezeichnenden Äusserungen zu (subjektiven) Wünschen und Gefühlen.
(Vgl. Habermas (1981) wiederholt erläutert; sehr klar zum Beispiel in Band 1: S. 126-141 (der mit (2) bezeichnete Abschnitt))

Diese drei Typen von in der rationalisierten Lebenswelt möglich gewordenen Äusserungen können im kommunikativen Handeln unter einem je bestimmten Gesichtspunkt kritisiert werden, nämlich ...
a) ... unter dem Gesichtspunkt der (teleologischen) Wahrheit und der Wirksamkeit,
b) ... unter dem Gesichtspunkt der (normativen) Richtigkeit,
c) ... unter dem Gesichtspunkt der (expressiven) Wahrhaftigkeit.
Es handelt sich dabei um die drei mit einer rationalen Äusserung erhobenen Geltungsansprüche, über welche die Menschen sich durch kommunikatives Handeln insbesondere dann, wenn eben diese Geltungsansprüche verletzt werden, verständigen.
(Vgl. z.B. Habermas (1981), Band 1: ebda, sowie in Kürze: S. 149)

Diese ganzen Möglichkeiten zum kommunikativen Handeln sind gemäss Habermas erst in modernen Gesellschaften möglich geworden, dieses infolge der bereits angesprochenen so genannten Rationalisierung der Lebenswelt (Ausdifferenzierung von Gesellschaft, Kultur und Persönlichkeitsstruktur) sowie in deren Folge der Ausdifferenzierung von Systemen (insbesondere Wirtschaft und staatliche Verwaltung vermittels der sog. Tauschmedien Geld und Macht), näherhin der Entkoppelung von System und Lebenswelt. Die Theorie des kommunikativen Handelns versteht sich dementsprechend als eine Theorie der sozialen Evolution.
(Vgl. dazu Habermas (1981), Band 2: S. 171ff. (VI. Zweite Zwischenbetrachtung: System und Lebenswelt).

Habermas bestimmt die Rationalität der Lebenswelt über die in Äusserungen möglich gewordenen rationalen Bezugnahmen auf die das Ganze repräsentierenden drei Welten, die objektive Welt, die soziale Welt und die subjektive Welt.
a) In teleologischen Äusserungen bezieht der Aktor sich rational auf die objektive Welt.
b) In normativen Äusserungen bezieht der Aktor sich rational auf die objektive sowie – wesentlich – auf die soziale Welt.
c) In expressiven Äusserungen bezieht der Aktor sich rational auf die objektive (vermutlich auch auf die soziale; hier bleibt Habermas unklar, er schreibt nur allgemein von Aussenwelt (vgl. Habermas (1981), Band 1: S. 140) sowie – wesentlich – auf die subjektive Welt (auch als Innenwelt bezeichnet).
(Vgl. in Kürzestform Habermas (1981), Band 1: S. 149)

Die entscheidende Frage, die Habermas gemäss der hier gemachten kritischen Anmerkung nicht stellt, ist diejenige, ob die von ihm für moderne Gesellschaften angenommene Rationalität der Lebenswelt, über welche die Menschen im kommunikativen Handeln idealerweise sich verständigen, überhaupt die ganze mögliche Ratio einbegreift oder ob diese Rationalität nicht eine – was hier kritisch angemeldet wird – prinzipiell, das heisst noch und gerade im idealen kommunikativen Handeln zum Vornherein beschnittene Ratio ist. Ratio nämlich – und dieses ist eine grundlegende Einsicht der kritischen Theorie von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno – ist mehr als Ratio, was sich damit erklärt, dass Ratio auf etwas geht – was Habermas mit den typisierten Weltbezügen (vgl. vorheriger Abschnitt) zwar noch sieht –, und dieses, worauf sie geht, für ihre Bestimmung – und dafür ist Habermas unzugänglich – mitentscheidend ist und sogar – in Anlehnung an Adornos Hinweis auf den Vorrang des ObjektsVorrang besitzt. Was nämlich vom Begriff für sich oder von der Ratio für sich in deren Weltbezug verpasst ist, gehört – und dieses ist die Essenz der kritischen Theorie von Horkheimer und Adorno – zum Begriff oder zur Ratio bestimmt dazu. Der Begriff ist mehr als der Begriff. Die Ratio ist mehr als die Ratio. Von diesem mehr kommt in der von Habermas bestimmten Rationalität der Lebenswelt nun aber nichts vor, was dann eben – wie noch weiter ausgeführt werden wird – zur Folge hat, dass diese selbst auf eine zum Vornherein beschnittene Rationalität gestützt ist.

Nach Horkheimer und Adorno wurde die von ihnen angemahnte (erweiterte) Ratio im Zug der Menschheitsgeschichte und der immer naturbeherrschender werdenden Aufklärung immer mehr sowohl möglich als zugleich vereitelt, der Weg zur Wahrheit wider die sich anzeigende Möglichkeit reell immer mehr verbaut. Es ist dieses das von Horkheimer und Adorno in der Dialektik der Aufklärung beschriebene, in der Realität immer mehr sich durchsetzende rückläufige Moment der Aufklärung. Gegen dieses wäre mit Kritik am Verbauenden, konkreter am gesellschaftlich Naturbeherrschenden und bloss Instrumentellen anzugehen. Dieses genau macht die nicht zufällig so heissende kritische Theorie. Habermas hingegen versperrt sich dieser Kritik, anerkennt prinzipiell einzig die Fortschritte im Naturbeherrschenden und bestimmt die Rationalisierung der Lebenswelt in der dementsprechend beschränkten Weise. Er verwirft die Einsicht der kritischen Theorie in die Aufklärung als eine Aufklärung mit besagt rückläufigem Moment, stellt sie stattdessen als eine soziale Evolution, das heisst ein sozial Forschreitendes dar. Dieses aber ist die Beschönigung des Bestehenden, Abblendung gegen die vom Bestehenden vermittels Naturbeherrschung unterdrückte (erweiterte) Ratio, Abwehr von jeglicher Kritik zugunsten dieser.

Man könnte ja mit Bezug auf die von Habermas diagnostizierte Rationalisierung der Lebenswelt die Rationalisierung durchaus kritisch in dem Sinne deuten wie man manchmal sagt: Jetzt rationalisiert Du aber, womit man auf eine mit der Rationalisierung vollzogene Beschränkung des Denkens hinweisen will. Solches meint Habermas leider allerdings nicht, wenn er von der Rationalisierung der Lebenswelt spricht, bemerkt nicht die Pointe, auf die der Begriff ihn aufmerksam zu machen versucht, sondern er fasst die Rationalisierung wirklich nur sozial-evolutionär positiv. Die hier kritisierte Beschränkung der Ratio in der Rationalisierung der Lebenswelt selbst wäre aber wirklich schon am Begriff abzulesen.

Die von der kritischen Theorie formulierte Kritik an der Aufklärung existierte bereits, als Habermas die Theorie des kommunikativen Handelns schrieb. Da die kritische Theorie wie gesagt für einen sehr viel weiteren, kritischen Begriff der Ratio plädiert, als Habermas es haben möchte, musste dieser den Nachweis erbringen, dass jener weitere Begriff nicht haltbar ist. Diesen Nachweis versucht er in seinem Werk auch wirklich zu erbringen, geht dabei allerdings – wie hier nun aufgezeigt wird – mit unlauteren Mitteln vor.

Habermas zitiert im Kommunikativen Handeln aus Adornos Negativer Dialektik und hierbei sogar die soeben angesprochene zentrale Einsicht kritischer Theorie, doch macht er dieses einzig und allein mit dem Vorsatz, den Gedankengang Adornos an willkürlicher Stelle abzubrechen und es dabei so erscheinen zu lassen, als würde Adorno selber an seiner präsentierten Einsicht zweifeln oder ihr sogar selbst widersprechen:

(Adorno, von Habermas zitiert:) "Was ... an Wahrheit durch die Begriffe über ihren abstrakten Umfang hinaus getroffen wird, kann keinen anderen Schauplatz haben als das von den Begriffen unterdrückte, Missachtete und Weggeworfene. Die Utopie der Erkenntnis wäre, das Begriffslose mit Begriffen aufzutun, ohne es ihnen gleichzumachen. (Hier folgt in Adornos Original ein Absatz, der von Habermas unterschlagen wird, kw) Ein solcher Begriff von Dialektik weckt Zweifel an seiner Möglichkeit." (Hier bricht Habermas das Zitat unvermittelt ab, während Adorno im angefangenen neuen, von Habermas nicht weiter zitierten Abschnitt aufzeigt, wie ein solcher Begriff von Dialektik als Negative Dialektik und wider den Zweifel doch möglich ist, kw)
(Habermas (1981), Band 1: S. 498; das von Adorno Zitierte ist zu finden in: Adorno, Theodor W. (1966): Negative Dialektik. Fr.a.M.: Suhrkamp 1982: S. 21)

Der Schluss des von Habermas nach dem ersten Satz abgebrochenen neuen Abschnitts bei Adorno – von Habermas abgebrochen wegen des von Adorno in diesem ersten Satz angedeuteten Zweifels an der Möglichkeit der Dialektik – lautet bei Adorno (von Habermas nicht zitiert): Der Begriff ist ein Moment wie ein jegliches in dialektischer Logik. In ihm überlebt sein Vermitteltsein durchs Nichtbegriffliche vermöge seiner Bedeutung, die ihrerseits sein Begriffsein begründet. Ihn charakterisiert ebenso, auf Nichtbegriffliches sich zu beziehen so wie schliesslich nach traditioneller Erkenntnistheorie jede Definition von Begriffen nichtbegrifflicher, deiktischer Momente bedarf , wie konträr, als abstrakte Einheit der unter ihm befassten Onta vom Ontischen sich zu entfernen. Diese Richtung der Begrifflichkeit zu ändern, sie dem Nichtidentischen zuzukehren, ist das Scharnier negativer Dialektik. Vor der Einsicht in den konstitutiven Charakter des Nichtbegrifflichen im Begriff zerginge der Identitätszwang, den der Begriff ohne solche aufhaltende Reflexion mit sich führt. Aus dem Schein des Ansichseins des Begriffs als einer Einheit des Sinns hinaus führt seine Selbstbesinnung auf den eigenen Sinn.
(Adorno, Theodor W. (1966): Negative Dialektik. Fr.a.M.: Suhrkamp 1982: S. 24)

Anstatt die von Adorno vorgetragene, hier zitierte Einsicht kritischer Theorie ganz wiederzugeben, also über den von Adorno im ersten Satz des betreffenden Abschnitts zum Zweck des Spannungsaufbaus formulierten Zweifel hinaus, bricht Habermas an der besagten, seinen Zwecken zupass kommenden Stelle willkürlich ab und stellt, seinerseits einen neuen Abschnitt beginnend, schlicht und einfach fest: Wie Adorno diesen programmatischen Gedanken als 'Negative Dialektik' durchführt, oder besser: in seiner Undurchführbarkeit vorführt, brauche ich an dieser Stelle nicht zu diskutieren. (Habermas (1981), Band 1: S. 498) Diesem Satz fügt Habermas eine Fussnote 87 bei, in welcher er Belege dafür beizubringen versucht, dass Adorno selber schon in den Frühschriften und danach immer stärker an der Durchführbarkeit der dann in der Negativen Dialektik gipfelnden Einsicht gezweifelt habe. Dabei begeht Habermas den von ihm wiederholt begangenen Fehler, die von Adorno bestimmt kritisierte Hegelsche Dialektik mit dessen Negativer Dialektik, die eben genau über Hegel hinausgeht, gleichzusetzen. Dementsprechend betont Habermas immer wieder, dass Adorno an einer Philosophie anknüpfe – womit er wesentlich die von Habermas so genannte bewusstseinsphilosophische von Hegel meint –, die sich überlebt habe. Diese falsche Gleichsetzung benötigt Habermas, um die in der kritischen Theorie von Horkheimer und Adorno drinsteckende neue Einsicht zur Ratio willkürlich wegdrängen zu können. Die Habermas'sche Willkür zeigt sich an Sätzen wie dem folgenden: Die dialektische Versöhnung von Allgemeinem und Besonderem bleibt, nach Hegels eigenen Begriffen, metaphysisch, weil sie dem Nichtidentischen am Besonderen sein Recht nicht lässt. (Habermas (1981), Band 1: S. 500) Darin aber genau, dem Nichtidentischen als solchem – notabene vermittels der Vernunft – sein Recht zu geben, besteht ja die Absetzung von Adornos Negativer Dialektik gegenüber der Hegelschen Dialektik. Nach Adorno besteht die Versöhnung in nichts weniger als darin – und hier widerspricht Adorno Hegels eigenen Begriffen –, dem Nichtidentischen sein Recht einzuräumen. Das Besondere übrigens ist das Nichtidentische (von Habermas aber nicht begriffen, weshalb seine schlechte Rede vom Nichtidentischen am Besonderen). Habermas identifiziert Adorno ganz und gar mit Hegel, verschimpft ihn dementsprechend – wie es die Positivisten schon taten – als metaphysisch. Wer wie Horkheimer und Adorno der Ratio oder der Vernunft kritisch auf den Grund zu gehen versucht, um sie zum Nichtidentischen hin zu öffnen, wurde schon immer sofort der Metaphysik bezichtigt.

Zum analogen Trick willkürlicher Blockierung der Einsicht greift Habermas mit Bezug auf die Kritik der instrumentellen Vernunft von Max Horkheimer. Habermas schreibt unter Anfügung eines Zitats, das aus Horkheimers Kritik der instrumentellen Vernunft stammt:

Die 'Dialektik der Aufklärung' ist eine ironische Angelegenheit: sie weist der Selbstkritik der Vernunft den Weg zur Wahrheit und bestreitet zugleich die Möglichkeit, (jetzt wird Horkheimer zitiert, kw:) "dass auf dieser Stufe vollendeter Entfremdung die Idee der Wahrheit noch zugänglich ist".
(Habermas (1981), Band 1: S. 513 (bestreitet fett von kw); das von Horkheimer Zitierte ist zu finden in: Horkheimer, Max: Zur Kritik der instrumentellen Vernunft. In: Horkheimer, Max: Gesammelte Schriften, Band 6: ‚Zur Kritik der instrumentellen Vernunft’ und ‚Notizen 1949-1969’. Herausgegeben von Alfred Schmidt. Fr.a.M: Fischer 1987: S. 21-186: S. 177 (Deutsche Erstausgabe: 1967; Erstausgabe in englisch 1947 unter dem Titel: „Eclipse of Reason“)).

Was aber meinte Max Horkheimer bei dem von Jürgen Habermas soeben Zitierten genau? Der Abschnitt bei Horkheimer lautet vollumfänglich folgendermassen:
(Horkheimer im Original:) Die Möglichkeit einer Selbstkritik der Vernunft setzt erstens voraus, dass der Antagonismus von Vernunft und Natur in eine akute und verhängnisvolle Phase eingetreten ist, und zweitens, dass auf dieser Stufe vollendeter Entfremdung die Idee der Wahrheit noch zugänglich ist.
(Horkheimer, Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, op.cit.: S. 177; fett von kw zur Kennzeichnung des von Habermas oben Zitierten)

Die von Habermas mit einem Zitat von Horkheimer zu belegen versuchte Behauptung, dass Horkheimer die Möglichkeit bestreite (oben schon fett), dass auf dieser Stufe vollendeter Entfremdung die Idee der Wahrheit noch zugänglich ist, ist nachweislich falsch. Habermas' Darstellung von Horkheimer ist eine Fälschung dessen, was Horkheimer selber schrieb. Horkheimer nennt in Wirklichkeit zwei Voraussetzungen, unter denen seines Erachtens eine Selbstkritik der Vernunft möglich ist, und die zweite ist die, dass auf dieser Stufe vollendeter Entremdung, wo gemäss erster Voraussetzung der Antagonismus von Vernunft und Natur in eine akute und verhängnisvolle Phase eingetreten ist, die Idee der Wahrheit noch zugänglich ist. Horkheimer sieht mit Blick auf den vom Kapitalismus hervorgebrachten Faschismus natürlich, dass darin die Idee der Wahrheit schwerer zugänglich wird, bestreitet eine prinzipielle Zugänglichkeit jedoch überhaupt nicht, erst recht nicht die Zugänglichkeit vermittels der von ihm selbst begründeten kritischen Theorie.

Habermas verfälscht die kritische Theorie von Horkheimer und Adorno, weil er deren Begriff von Rationalität, der die Beschränktheit seines eigenen Rationalitätsbegriffs offenkundig werden lässt, fürchtet. Vermutlich paart sich bei ihm Furcht und willkürliches Unverständnis. Seine Furcht dürfte mit seiner Ahnung davon zusammenhängen, dass in der Wissenschaftswelt mit kritischer Theorie kein Blumentopf zu gewinnen ist, was genau mit den herrschaftlichen Bedingungen zu tun hat, die sich nicht gerne kritisieren, dafür aber umso lieber – wie Habermas willkürlich es macht – auf der Basis einer zum Vornherein herrschaftlich zurecht gestutzten Ratio rechtfertigen lassen. Er bringt aus Gründen der Anpassung kein Verständnis für eine selbstkritische Ratio auf.

Habermas vermisst in kritischer Theorie eine losgelöst von der Kritik der in der Wirklichkeit vorwaltenden instrumentellen Vernunft gegebene positive Bestimmung der Vernunft:

Einerseits suggeriert diese Überlegung (gemeint ist der von kritischer Theorie gemachte Hinweis auf den historisch immer wieder vereitelten Zugang zur Wahrheit, kw) einen Begriff der Wahrheit, der am Leitfaden der universalen Versöhnung, einer Emanzipation des Menschen durch die Resurrektion der Natur, ausgelegt werden kann: die Vernunft, die ihrer Intention, Wahrheit zu entdecken, folgte, müsste, "indem sie ein Instrument der Versöhnung ist, zugleich mehr sein als ein Instrument" (zitiert aus Horkheimer, Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, op.cit.: S. 177). Andererseits können Horkheimer und Adorno diesen Begriff der Wahrheit nur suggerieren, denn sie müssten sich ja auf eine Vernunft vor der (von Anbeginn instrumentellen) Vernunft stützen, wenn sie jene Bestimmungen explizieren wollten, die nach ihrer eigenen Darstellung der instrumentellen Vernunft keinesfalls innewohnen können.
(Habermas (1981), Band 1: S. 511f.)

Es sei vorweg auf den im letztzitierten Satz wiederum unternommenen Versuch von Habermas hingewiesen, die Einsicht kritischer Theorie nach ihrer eigenen Darstellung, die so aber gar nicht vorhanden ist (siehe hier nachstehend), ad absurdum zu führen. Was Habermas nicht begreift ist, dass Horkheimer und Adorno sich auf die Subjektseite hin wirklich nur auf die instrumentelle Vernunft stützen. Eine ausgezeichnete Illustration hierfür gibt Adono in den Minima Moralia (dort unter Ziffer 29) mit dem folgenden Aphorismus:

Der Splitter in deinem Auge ist das beste Vergrösserungsglas.
(Theodor W. Adorno)

Der Splitter im Auge steht für die instrumentelle Vernunft, welche, durch Selbstbesinnung auf das bestehende Beschränkende an ihr, über sich hinauszuwachsen und zum besten Vergrösserungsglas zu werden vermag.

Es gehört freilich die von Habermas permanent weggedrückte Objektseite dazu, die als Natur wirklich da ist, aber durch die naturbeherrschende oder eben instrumentelle Vernunft beständig ihrerseits weggedrückt respektive, so müsste man mit Blick auf den Habermas'schen Begriff sagen: rationalisierend zugerichtet wird. Diese Objektseite macht als Nichtidentisches – so die wirkliche eigene Darstellung kritischer Theorie – die instrumentelle Vernunft beständig auf deren rationale Beschränktheit aufmerksam und ruft sie so zur Selbstbesinnung auf, das heisst dazu, sich der eigenen instrumentellen Gewalt, des Splitters im eigenen Auge bewusst zu werden, auf diese Weise zu dem von ihm Unterdrückten vorzustossen und also zum bestem Vergrösserungsglas zu werden. Warum soll – so die Gegenfrage an Habermas – Selbstbesinnung im Angesicht der Opfer nicht möglich sein? Ob die instrumentelle Vernunft den Aufruf erhört oder nicht erhört, ist eine gesellschaftliche Frage. Bis heute hat die gesellschaftliche Totalität – so die wiederum wirkliche eigene Darstellung kritischer Theorie – die Vernunft auf das durchaus in ihr liegende Instrumentelle oder eben Naturbeherrschende beständig behaftet und so das Erhören vermittels selbstkritisch werdender Vernunft immer wieder vereitelt. Eine auf die eigene Schwäche – nämlich naturbeherrschend zu sein, was Selbstbeherrschung des Ich und Herrschaft von Menschen über Menschen mit sich führt – sich besinnende instrumentelle Vernunft würde aber – wie im vorhin von Habermas zitierten Halbsatz Horkheimers angezeigt – über das Instrumentelle hinausweisen. Nichts mehr und nichts weniger meint Horkheimer, wenn er von der Kritik der instrumentellen Vernunft spricht. Sie meint nicht etwa Ablehnung der instrumentellen Vernunft – diese ist fürs menschliche Überleben unentbehrlich –, sondern deren Selbstkritik im Eingedenken des von ihr Übergangenen. Eingedenken meint sowohl Denken und also Vernunft als auch Eingehen ins Objekt, in die Natur. Es bedarf dazu keiner – wie Habermas mutmasst – Vernunft vor der instrumentellen Vernunft. Die Selbstkritik letzterer im Angesicht des von ihr Zugerichteten würde genügen.

Unter dem Objekt wird in kritischer Theorie nicht etwa nur – was Habermas immer wieder unterstellt – die äussere Natur, sondern genauso die anderen Menschen und das Subjekt selber, Es im Freudschen Sinne, verstanden. Vernunft ist Denken und dieses für sich ist – sofern gesellschaftlich nicht vereitelt – aufs Nicht-Ich, vorgestellt als Subjekt, bezogen, notwendig intersubjektiv, in einer Weise intersubjektiv, wie es das derart auf Intersubjektivität pochende kommunikative Handeln prinzipiell nie werden kann. Habermas geht fehl, wenn er vemeint, kritische Theorie müsse eine andere, positiv dann im Intersubjektiven verankerte Vernunft stipulieren, um der instrumentellen etwas entgegensetzen zu können. Es ist vielmehr so, dass die instrumentelle Vernunft als solche nur umso mehr losgelassen und genau nicht selbstkritisch zurückgenommen wird, wenn auf die Kritik an ihr und an der die Menschen auf sie behaftenden Gesellschaft verzichtet wird. Es ist nicht einzusehen, inwiefern beispielsweise der erste in der kommunikativen Vernunft enthaltene Geltungsanspruch der Wahrheit sich von der von der Gesellschaft ausgehenden Forderung nach wahrer Umsetzung der instrumentellen Vernunft unterscheidet. Jener ist so beschränkt wie diese, und beide bleiben unendlich – es ist wirklich eine Differenz ums Leben – hinter der mit kritischer Theorie angemahnten Selbstbesinnung respektive Kritik zurück. Die Theorie des kommunikativen Handelns fordert nicht minder zum besinnungslosen Handeln auf wie die bestehende Gesellschaft es tut. Erstere veredelt es nur gleichsam noch.

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Abschliessend seien einige Stichworte in Kritik der drei von Habermas angeführten Geltungsansprüchen (siehe diese ganz oben) gegeben. Sie werden nicht weiter kritisch an den Ausführungen von Habermas belegt (das Obige möge genügen). Angereichert werden sie mit einigen von Adorno in den Minima Moralia vorgelegten Aphorismen (sie finden sich in den Minima Moralia unter der Ziffer 122).

Entgegen dem von Habermas ins Feld geführten Geltungsanspruch der Wahrheit erweisen viele so genannte Sachverhalte, untersucht man sie kritisch auf ihre Wahrheit hin, im Gleichen als wahr und als falsch. Das erklärt sich damit, dass die Sachverhalte in Wirklichkeit zwar sind, also wahr, sie als Sachverhalte der Sache selbst aber nicht gerecht werden, also falsch. In einer echten Kritik ist immer beides zu beachten, und insofern meint Kritik Differenzierung. Die Aufklärung als naturbeherrschende ist falsch, wird aber wahr, wenn sie mehr als Aufklärung wird, nämlich eine sich auf ihre rückläufigen Momente besinnende. Die Menschen sind zwar Menschen, also wahr, aber nicht zu dem geworden, was Menschen werden könnten, nämlich mündige, ihrer Würde gerecht werdende, sind also falsch. Oder man sehe sich – mit Bezug auf den Habermas'schen Geltungsanspruch der Wahrheit – den folgenden von Adorno in den Minima Moralia geprägten Aphorismus zur Wahrheit an, der das oben aus der Negativen Dialektik Zitierte auf den Punkt bringt, den Vorrang des Objekts ernst nehmend:

Wahr sind nur die Gedanken, die sich selber nicht verstehen.
(Theodor W. Adorno) 

Was Adorno als Wahrheit anzeigt, ist das schiere Gegenteil des vom Habermas'schen Geltungsanspruch Geforderten.

Der Geltungsanspruch (normativer) Richtigkeit ist zum Vornherein beschränkt dadurch, dass in ihm die vermittels die gesellschaftliche Totalität sich durchsetzenden Normen (vgl. dazu den vorletzten Kommentar K182) nicht thematisch werden können. Das Tauschprinzip wirkt hinterrücks, das heisst ohne dass die Menschen dazu noch mit Vernunft Stellung nehmen können, normativ. Die zum System verselbständigte Institution ist nie und nimmer – und auch aus der so genannten Beobachterperspektive heraus nicht – ein – wie von Habermas behauptet – Stück normfreier Sozietät, gerade umgekehrt: Es handelt sich um eine Normen frei von jeder Begründungspflicht durchsetzende Sozietät. Hierin besteht deren Totalität.

Früh in der Kindheit sah ich die ersten Schneeschaufler in dünnen schäbigen Kleidern. Auf meine Frage wurde mir geantwortet, das seien Männer ohne Arbeit, denen man diese Beschäftigung gäbe, damit sie sich ihr Brot verdienten. Recht geschieht ihnen, dass sie Schnee schaufeln müssen, rief ich wütend aus, um sogleich fassungslos zu weinen.
(Theodor W. Adorno)

Ein solche Kritik an einer der Kritik entzogenen Norm ist dem, der dem Geltungsanspruch (normativer) Richtigkeit Folge leistet, nicht möglich. Es ist damit nicht etwa die Reaktion des Kindes, sondern der den gewaltsamen Entzug der Norm zum Thema machende Aphorismus gemeint.

Der Geltungsanspruch (expressiver) Wahrhaftigkeit ist zum Vornherein beschränkt durch die darin vorgenommene Rationalisierung zum Expressiven, Dramaturgischen, Theaterhaften. Nicht zufällig veranstalten diejenigen, welche die Bedürfnisse – ob es überhaupt die ihrigen sind, wäre die weitere Frage – am leichtesten befriedigen können (das heisst ohne Verkauf ihrer Arbeitskraft), das grösste Theater um ihre Wünsche und Gefühle. Dieses wird ihnen dann gar tatsächlich zur so genannten Persönlichkeit angerechnet, genauso wie der Besuch des Psychiaters. Noch Es also kann rational beherrscht sein. Wer dem vernünftigerweise nicht folgt, steht zwangsläufig im Widerspruch zum Geltungsanspruch (expressiver) Wahrhaftigkeit.

Zwischen 'es träumte mir' und 'ich träumte' liegen die Weltalter. Aber was ist wahrer? So wenig die Geister den Traum senden, so wenig ist es das Ich, das träumt.
(Theodor W. Adorno)

Wer heutzutage die instrumentelle Vernunft ernsthaft kritisiert und zur Selbstbesinnung aufruft, wird von den Kommunikationstheoretikern sofort verständnislos angeschaut, implizit sowohl für asozial als auch für unzurechnungsfähig gehalten. Der die instrumentelle Vernunft Kritisierende argumentiert tatsächlich ja in einer Weise, die es verunmöglicht, die Habermas'schen Geltungsansprüche überhaupt nur in Anschlag zu bringen, argumentiert also – von jener kommunikationstheoretischen Rationalität aus gesehen – nicht rational. Die Ratio freilich hat er umso mehr auf seiner Seite.