K191 Erläuterungen mit und zu Adornos Aufzeichnungen zu Kafka
Teil 3: Mit Begriffen die Blockade des Begriffs rapportieren

23. März 2019

... es sei mit dem 3. Teil fortgesetzt ...

Adorno weist in seinen Aufzeichnungen zu Kafka (Nachweis im gelben Kasten) darauf hin, dass zwischen dem, was Kafka beschreibt und das als solches buchstäblich zu nehmen ist, und dem, was das Beschriebene bedeutet, ein Abgrund klafft:

Bei Kafka aber ist alles so hart, bestimmt, abgesetzt wie möglich; wie in Abenteuerromanen, nach jener Maxime, die James Fennimore Cooper dem 'Roten Freibeuter' voranstellte: 'Das wahre goldene Zeitalter der Literatur kann nicht erscheinen, bis die Werke in ihrem Druck genau sind wie ein Schiffsbuch in ihrem Inhalt körnig wie ein Wachtrapport.' Nirgends verdämmert bei Kafka die Aura der unendlichen Idee, nirgends öffnet sich der Horizont. Jeder Satz steht buchstäblich, und jeder bedeutet. Beides ist nicht, wie das Symbol es möchte, verschmolzen, sondern klafft auseinander, und aus dem Abgrund dazwischen blendet der grelle Strahl der Faszination.
(Adorno (1953): S. 255)

Wenn man also das von Kafka Beschriebene auf der einen Seite buchstäblich nimmt und es auf der anderen Seite zu deuten versucht, dann tut sich zwischen dem, was buchstäblich steht, und der Deutung ein Abgrund auf. Man bringt das Buchstäbliche und die Deutung nicht zur Deckung, steht deshalb immer aufs Neue vor einem Rätsel.

Es ist eine Parabolik, zu der der Schlüssel entwendet ward; selbst der, welcher eben dies zum Schlüssel zu machen suchte, würde in die Irre geführt, indem er die abstrakte These von Kafkas Werk, die Dunkelheit des Daseins, mit seinem Gehalt verwechselte.
(Adorno (1953): S. 255)

Der Gehalt des Werks hat es immer – von Adorno so nicht gesagt – mit dem Verhältnis eines besonderen Einzelnen zum System zu tun, was bedeutet, dass auch dieses Verhältnis immer in besonderer Weise verworren ist, es demzufolge eine allgemeine und damit abstrakt verstehbare Verworrenheit nicht gibt. Schicksallosigkeit – so wäre es in der Terminologie von Imre Kertész zu sagen – lässt sich, wenn überhaupt, nur von den besonderen schicksallos gemachten Individuen und nicht vom abstrakten Begriff der Schicksallos-Machung aus begreifen. Dieses dürfte Kertész unmittelbar von Kafka so gelernt haben.

Der sich bei Kafka öffnende Abgrund zwischen Buchstabe und Deutung verunmöglicht es – so Adorno –, von Symbolen, die ja einen bruchlosen Übergang zum Sinn bedeuten (vgl. Adorno (1953): S. 255), zu sprechen. Allerdings sehen die Leser sich mit den Protagonisten Kafkas zur Deutung gezwungen, dazu, sich auf das Ganze einen Reim zu machen, die Parabel darin zu suchen, wie wenig es freilich gelingen kann:

Jeder Satz spricht: deute mich, und keiner will es dulden.
(Adorno (1953): S. 255)

Dieses Nicht-Dulden hat mit dem System zu tun, das dem Sinn des besonderen Einzelnen gegenüber immun sich zeigt und beständig darauf aus ist, den vom Einzelnen eingelegten Sinn ad absurdum zu führen, den Einzelnen selbst in Verdummung und Rückfall zu zwingen, ihn zu einem blossen Ding werden zu lassen. Das System will vom Einzelnen das Sinnlose und ist deshalb mit Sinn nicht zu deuten, verlangt gleichwohl, zumindest von jedem sinnbegabten Menschen, Deutung. Weil Kafka genau dieses bis zum Äussersten zur Darstellung bringen möchte, müssen seine Parabeln abgebrochene sein (vgl. dazu auch erster Teil des Kommentars in K189).

Adorno bringt Kafka mit dem Expressionismus sowohl in Literatur als auch in der bildenden Kunst zusammen (vgl. Adorno (1953): S. 274ff.). Dabei hebt Adorno eine besondere Schwierigkeit der expressionistischen Literatur hervor. Wenn es in dieser darum geht, in Worten nur das zum Ausdruck zu bringen, was da ist, nämlich die vom System erzwungene äusserste Entfremdung der Menschen, dann ergibt sich die folgende Schwierigkeit: Die Worte lassen sich auf die buchstäblich zu zeigende äusserste Entfremdung nicht recht bannen, weil sie aufgrund ihres Sinns immer darüber hinausschiessen, sie mehr bedeuten als – wenn man so will – vom System zugelassen ist.

Gemäss Adorno steht Kafka vor der ...

... Quadratur des Zirkels, dem Raum der objektlosen Innerlichkeit die Worte zu finden, während doch der Umfang eines jeglichen über das absolute Dies da hinausreicht, das angerufen werden soll ...
(Adorno (1953): S. 277)

Die von Adorno angesprochene objektlose Innerlichkeit meint die äusserste Entfremdung, in welcher dem Einzelnen der subjektive Zugriff auf die Objekte der Welt nicht gelingt, seine Innerlichkeit dementsprechend eine objektlose ist:

Schüler Kierkegaards ist er (Kafka, kw) einzig im Zeichen 'objektloser Innerlichkeit'.
(Adorno (1953): S. 276f.)

Objektlos meint nicht, dass generell keine Bezüge zu Objekten mehr vorhanden wären, sondern einzig, dass der Einzelne subjektiv keinen Bezug zu Objekten mehr herstellen kann. Und der Einzelne kommt deshalb subjektiv oder innerlich nicht mehr an die Objekte heran, weil er selbst Objekt oder Ding, naturverfallen, zum Spielball des Systems geworden ist.

Wie mit Adorno bereits hervorgehoben (vgl. die beiden ersten Teile dieses Kommentars), laufen die Erzählungen Kafkas auf den Augenblick des Einstands hinaus, wo der Protagonist zur verzweifelten Einsicht gelangt, selbst nur ein Objekt oder ein Ding, also kein Subjekt und damit eben objektlos zu sein. Und an diesem – wie Adorno es dann nennt – 'So ist es' (Adorno (1953): S. 255) lässt Kafka keinen Zweifel, enttäuscht immer aufs Neue sowohl jede aufflackernde Hoffnung des Protagonisten als auch des mit ihm leidenden Lesers. Kafka berührt damit in der Tat die Zone des Wahnsinns:

Der gesellschaftliche Ursprung des Individuums enthüllt sich am Ende als die Macht von dessen Vernichtung. Kafkas Werk ist ein Versuch, diese zu absorbieren. Nichts Irres wie bei dem Erzähler, dem er Entscheidendes absah, Robert Walser ist in seiner Prosa, jeden Satz hat der seiner selbst mächtige Geist geprägt, aber jeden Satz hat er auch zuvor der Zone des Wahnsinns entrissen, in die wohl im Zeitalter der universalen Verblendung, welche der gesunde Menschenverstand nur befestigt, jegliche Erkenntnis sich getrauen muss, um eine zu werden.
(Adorno (1953): S. 264f.)

Will man die Vernichtung des Individuums aus den gesellschaftlichen Verhältnissen, aus dem Bodensatz des Systems wahr- oder weissagen (vgl. Adorno (1953): S. 269), geht es – so Adorno – in expressionistischer Sprache gerade nicht. Es steht die oben mit Adorno zitierte und der expressionistischen Literatur allgemein im Wege stehende Quadratur des Zirkels im Wege, nämlich, dass die Worte als Begriffe über das zu beschreibende bloss Dinghafte hinauschiessen, immer mehr oder im emphatischen Sinn überhaupt bedeuten. Kafka möchte doch aber gerade das Objektlose und damit Bedeutungslose mit Begriffen rapportieren, also mit Begriffen jene Zone des Wahnsinns dem Leser vermitteln.

Zur Art und Weise, wie es Kafka doch gelingt, mit Begriffen die Verdinglichung und Vernichtung des Individuums zu beschreiben, sei hier eine etwas andere Erklärung gegeben als sie Adorno in seinen Aufzeichnungen zu Kafka unmittelbar gibt. Theoretisch wird dafür aber an – den vielleicht etwas späteren – Adorno unmittelbar angeschlossen.

Begriffe gehen vom Subjekt aus gesehen – wie gesagt – immer auf anderes, auf Objekte, beinhalten deren Deutung durch das Subjekt. Um dabei dem Objekt und seinem Nichtidentischen gerecht zu werden, bedarf es einerseits des Begriffs, muss der Begriff selbst andererseits und im Gleichen gegen sein Herrschaftliches – mit dem Ausdruck von Hegel – bestimmt negiert werden. Dieses meint die Selbstbesinnung auf das herrschaftliche Subjekt, das, ohne diese Selbstbesinnung, in Mythologie zurückfallen muss. Aufklärung mit Selbstbesinnung ist das über Aufklärung Aufklärende und so den Rückfall in Mythologie Verhindernde.

Von solcher Aufklärung über die Aufklärung ist innerhalb der von Kafka beschriebenen Gesellschaft, die die unsere ist, nichts vorhanden, sondern darin ist die genau umgekehrte Richtung eingeschlagen. In der von Kafka beschriebenen Gesellschaft wird der Rückfall in Mythologie systematisch betrieben, das heisst der Begriff gerade nicht in bestimmter Negation in Versöhnung mit dem Nichtidentischen aufgehoben, sondern eben anders herum, es werden die Begriffe als bedeutende total verunmöglicht, stattdessen Worte nur noch in instrumenteller respektive herrschaftlicher Funktion zugelassen. Es darf nur noch in instrumentellen Kategorien gedacht werden – was von Max Horkheimer als die Dominanz der instrumentellen Vernunft kritisiert wurde –, wenn dabei von Denken überhaupt noch gesprochen werden kann. Das Subjekt wird daran gehindert, sich einen eigenen Begriff vom Objekt zu machen, was auf eine Blockade der Subjekt-Objekt-Dialektik und eben auf die von Adorno mit Kierkegaard so bezeichnete objektlose Innerlichkeit hinausläuft.

Dieses von Kafka nachgezeichnete, die Begriffe blockierende System kann nun aber durchaus – was von Adorno in den Aufzeichnungen zu Kafka zu wenig betont wird – mit Begriffen aufgeschlüsselt werden, und zwar genauso, wie auf der anderen Seite das Begriffslose oder Nichtidentische mit Begriffen – Stichwort nochmals: bestimmte Negation – aufgeschlüsselt werden kann.

Kurz nach seiner Ankunft im Dorf beim Schloss sucht K. den Weg zum Schloss:

So ging er wieder vorwärts, aber es war ein langer Weg. Die Strasse nämlich, diese Hauptstrasse des Dorfes führte nicht zum Schlossberg, sie führte nur nahe heran, dann aber wie absichtlich bog sie ab und wenn sie sich auch vom Schloss nicht entfernte, so kam sie ihm doch auch nicht näher. Immer erwartete K., dass nun endlich die Strasse zum Schloss einlenken müsse, und nur weil er es erwartete ging er weiter; offenbar infolge seiner Müdigkeit zögerte er die Strasse zu verlassen, auch staunte er über die Länge des Dorfes, das kein Ende nahm, immerwieder die kleinen Häuschen und vereiste Fensterscheiben und Schnee und Menschenleere – endlich riss er sich los von dieser festhaltenden Strasse, ein schmales Gässchen nahm ihn auf, noch tieferer Schnee, das Herausziehen der einsinkenden Füsse war eine schwere Arbeit, Schweiss brach ihm aus, plötzlich stand er still und konnte nicht mehr weiter.
(Aus: Franz Kafka: Das Schloss (Originalfassung), im 1. Kapitel)

Wie gelangt man zum Schloss? Gibt es das Schloss überhaupt? K. möchte es sehen, begreifen, wird dabei aber blockiert, in die Objektlosigkeit gezwungen, selbst zum Objekt gemacht. Es sei erwähnt, dass im Prozess, dem anderen Roman Kafkas, der neben Josef K. ebenfalls verhaftete, von den Gerichten in ein total gedemütigtes Ding verwandelte Kaufmann – nicht zufällig – Block heisst. Kaufmann Block wird vom Anwalt gezwungen, in Büchern zu lesen, die aus Sätzen bestehen, die vollkommen sinnlos sind. Der gesellschaftliche Zwang in diese Begriffsabstinenz lässt mit Begriffen sich aber sagen. Kafka beweist es.

Adornos Auslegung geht dahin, dass Kafka die Schwierigkeit durch den Vorrang des visuellen Elements meistere:

Als das der Gesten behauptet es (das visuelle Element; kw) den Vorrang. Nur von Sichtbarem lässt sich erzählen, während es zugleich vollkommen zum Bilde verfremdet wird. Wahrhaft zum Bilde. Kafka rettet die Idee des Expressionismus, indem er, anstatt Urlauten vergebens nachzuhorchen, den Habitus expressionistischer Malerei auf die Dichtung überträgt. Zu jener verhält er sich ähnlich wie Utrillo zu den Ansichtspostkarten, nach denen er seine fröstelnden Strassen soll gemalt haben. Dem panischen Blick, der alle affektive Besetzung von den Objekten abgezogen hat, erstarren diese zu einem Dritten, weder Traum, der nur sich fälschen lässt, noch Nachäffung der Realität, sondern deren Rätselbild, zusammengefügt aus ihren zerstreuten Bruchstücken.
(Adorno (1953): S. 264f.)

Ja, die Objektlosigkeit des verdinglichten Einzelnen wird zum Bilde, zum Rätselbilde verfremdet und so durch alle affektive Besetzung hindurch als Verdinglichung erst sichtbar gemacht, gesagt. Aber das alles erfolgt – so die Präzisierung gegenüber Adorno – mit Hilfe von Begriffen, in der zitierten Passage wesentlich dem des Schlosses und dem der Strasse, die vom Schloss sich nicht entfernt, aber ihm auch nicht näher kommt. Der Versuch von K., sich vom Schloss einen Begriff zu machen, wird systematisch blockiert, und in der mit Begriffen erzählten Blockade des Begriffs muss das visuelle Element zwangsläufig – und dabei ist Adorno ganz zuzustimmen – in den Vordergrund treten. Beim Lesen von Kafkas zitierter Passage stellt sich der Leser eine solche Strasse, die sich vom Ziel nicht entfernt, so ihm doch auch nicht näher kommt, bildlich vor, wodurch das Verhältnis von K. und im Grunde auch des Lesers zum Schloss zum Rätselbilde verfremdet wird – gibt es das Schloss überhaupt? usw. –, wodurch die Blockade des Begriffs in wahrhafter Weise sichtbar gemacht wird. Es ist bei Kafka aber eben ganz mit Begriffen erreicht. Er braucht nicht Bilder zu malen wie Utrillo, wie sehr er das Verhältnis von K. und dem Leser zum Schloss dank seines Rapports wie in einem Bild von Utrillo aufscheinen lässt.

Während die mit Selbstbesinnung und bestimmt negierten Begriffen betriebene Aufklärung über die Aufklärung auf die Seite des zu versöhnenden Nichtidentischen hin Bilder sich verbietet, sind auf die von Kafka demonstrierte Seite des zu rapportierenden Rückfalls in Mythologie hin verfremdende und dadurch sichtbar machende Bilder – und zwar auch mit Begriffen gezeichnete Bilder – geradezu gefordert.

Picasso wurde im besetzten Paris von deutschen Offizieren in seinem Atelier "besucht" und von den Offizieren zu einer Postkarte von der Weltausstellung 1937, auf der Picassos kubistisch-verfremdetes Werk mit dem Titel Guernica abgebildet war, gefragt, ob er, Picasso, das gemacht habe. Picasso antwortete: "Nein, das habt ihr gemacht!"

... in vierzehn Tagen folgt die Fortsetzung ...