K84 Versöhnung mit dem Nichtidentischen als Telos der Identifikation
Philosophische Anzeige mit Adorno

14. September 2013

Es ist wertvoll, Texte von Adorno ab und zu im Original zu lesen und/oder - wie hier - zu zitieren. In der "Negativen Dialektik" (Nachweis siehe nachstehend) ist zur Problematik von Begriffen und Kategorien unter anderem zu lesen:

... nicht aber kann ohne Identifikation gedacht werden, jede Bestimmung ist Identifikation. Aber eben sie nähert sich auch dem, was der Gegenstand selber ist als Nichtidentisches: indem sie es prägt, will sie von ihm sich prägen lassen. Insgeheim ist Nichtidentität das Telos der Identifikation, das an ihr zu Rettende; der Fehler des traditionellen Denkens, dass es die Identität für sein Ziel hält. Die Kraft, die den Schein von Identität sprengt, ist die des Denkens selber: die Anwendung seines 'Das ist' erschüttert seine gleichwohl unabdingbare Form. Dialektisch ist Erkenntnis des Nichtidentischen auch darin, dass gerade sie, mehr und anders als das Identitätsdenken identifiziert. Sie will sagen, was etwas sei, während das Identitätsdenken sagt, worunter etwas fällt, wovon es Exemplar ist oder Repräsentant, was es also nicht selbst ist. Identitätsdenken entfernt sich von der Identität seines Gegenstandes umso weiter, je rücksichtsloser es ihm auf den Leib rückt. Durch ihre Kritik verschwindet Identität nicht; sie verändert sich qualitativ. Elemente der Affinität des Gegenstandes zu seinem Gedanken leben in ihr. (Adorno, S. 152)

Es gibt den alten 68er Vorwurf - sicherlich unter dem Einfluss eines nicht verstandenen Adorno erhoben - gegen das so genannte "identifizierende Denken". Der Vorwurf verkennt, dass denkende Bestimmung gar nicht geht ohne Identifizierung. Die Frage ist vielmehr, ob das Denken als identifizierendes von der Erschütterung, die sein Tun begleitet, beeindrucken sich lässt oder nicht. Nimmt es wahr, dass im Prozess der Identifizierung eines Gegenstands von diesem her Momente und Ansprüche sich geltend machen, die mit dem Identifizierten nicht identisch sind? Und ist es bereit, diese bei der Identifizierung sich ereignende Konfrontation als eine aus der Realität herrührende anzuerkennen (und nicht etwa als eine blosse Denkinsuffizienz)?

Das Nichtidentische ist das vom Allgemeinen reell übergangene Besondere.

Hybris (des traditionellen Denkens, kw) ist, dass Identität sei, dass die Sache an sich ihrem Begriff entspreche. Aber ihr Ideal wäre nicht einfach wegzuwerfen: im Vorwurf, die Sache sei dem Begriff nicht identisch, lebt auch dessen Sehnsucht, er möge es werden. Dergestalt enthält das Bewusstsein der Nichtidentität Identität. Wohl ist deren Supposition, bis in die formale Logik hinein, das ideologische Moment am reinen Denken. In ihm jedoch steckt auch das Wahrheitsmoment von Ideologie, die Anweisung, dass kein Widerspruch, kein Antagonismus sein solle. Bereits im einfachen identifizierenden Urteil gesellt sich dem pragmatischen, naturbeherrschenden Element ein utopisches. (Adorno, S. 152f.)

Negative Dialektik macht ernst mit dem, was die traditionelle Philosophie verspricht, aber nicht einhält. Es hat zu tun mit der Utopie der Versöhnung der Menschen mit der Natur.

Utopie wäre über der Identität und über dem Widerspruch, ein Miteinander des Verschiedenen. (...) Der griechische Streit, ob Ähnliches oder Unähnliches das Ähnliche erkenne, wäre allein dialektisch zu schlichten. Gelangt in der These, nur Ähnliches sei dazu fähig, das untilgbare Moment von Mimesis in aller Erkenntnis und aller menschlichen Praxis zum Bewusstsein, so wird solches Bewusstsein zur Unwahrheit, wenn die Affinität, in ihrer Untilgbarkeit zugleich unendlich weit weg, positiv sich selbst setzt. In Erkenntnistheorie resultiert daraus unausweichlich die falsche Konsequenz, Objekt sei Subjekt. Traditionelle Philosophie wähnt, das Unähnliche zu erkennen, indem sie es sich ähnlich macht, während sie damit eigentlich nur sich selbst erkennt. Idee einer veränderten wäre es, des Ähnlichen innezuwerden, indem sie es als das ihr Unähnliche bestimmt. (Adorno, S. 153)

Die Utopie gelungener Identität zwischen dem Besonderen und seinem Begriff ginge dahin, dass der Begriff dasjenige, was er in der Identifizierung verpasst - das Unähnliche, Nichtidentische oder Besondere eben -, als solches (das heisst ohne neuerliche - beherrschende - Identifizierung) in sich aufnähme, zugleich dem Gegenstand das gäbe, was in seinem Begriff zwar läge, aber nur unzureichend erfüllt ist.

Das Urteil, jemand sei ein freier Mann, bezieht sich, emphatisch gedacht, auf den Begriff der Freiheit. Der ist jedoch seinerseits ebensowohl mehr, als was von jenem Mann prädiziert wird, wie jener Mann, durch andere Bestimmungen, mehr ist denn der Begriff seiner Freiheit. Ihr Begriff sagt nicht nur, dass er auf alle einzelnen, als frei definierten Männer angewandt werden könne. Ihn nährt die Idee eines Zustands, in welchem die Einzelnen Qualitäten hätten, die heut und hier keinem zuzusprechen wären. Einen als frei rühmen, hat sein Spezifisches in dem sous-entendu, dass ihm ein Unmögliches zugesprochen wird, weil es an ihm sich manifestiert; dies zugleich Auffällige und Geheime beseelt jedes identifizierende Urteil, das irgend sich verlohnt. Der Begriff der Freiheit bleibt hinter sich zurück, sobald er empirisch angewandt wird. Er ist dann selber nicht das, was er sagt. Weil er aber immer auch Begriff des unter ihm Befassten sein muss, ist er damit zu konfrontieren. Solche Konfrontation verhält ihn zum Widerspruch mit sich selbst. Jeder Versuch, durch bloss gesetzte, 'operationelle' Definition aus dem Begriff der Freiheit auszuschliessen, was die philosophische Terminologie einmal deren Idee nannte, minderte den Begriff seiner Handlichkeit zuliebe willkürlich herab gegenüber dem, was er an sich meint. Das Einzelne ist mehr sowohl wie weniger als seine allgemeine Bestimmung. Weil aber nur durch Aufhebung jenes Widerspruchs, also durch die erlangte Identität zwischen dem Besonderen und seinem Begriff, das Besondere, Bestimmte zu sich selber käme, ist das Interesse des Einzelnen nicht nur, das sich zu erhalten, was der Allgemeinbegriff ihm raubt, sondern ebenso jenes Mehr des Begriffs gegenüber seiner Bedürftigkeit. Er erfährt es bis heute als seine eigene Negativität. Der Widerspruch zwischen Allgemeinem und Besonderem hat zum Gehalt, dass Individualität noch nicht ist und darum schlecht, wo sie sich etabliert. Zugleich bleibt jener Widerspruch zwischen dem Begriff der Freiheit und deren Verwirklichung auch die Insuffizienz des Begriffs; das Potential von Freiheit will Kritik an dem, was seine zwangsläufige Formalisierung aus ihm machte. (Adorno, S. 153f.)

Es ist hier von einem doppelten Defizit die Rede, nämlich zum ersten, dass jener Mann als Besonderes andere Bestimmungen enthält als der Begriff seiner Freiheit, und dass zweitens der Begriff seiner Freiheit über seine 'empirische' Freiheit hinaus geht, es noch und gerade auch dem als frei bezeichneten Mann an Freiheit gebricht. Diesem doppelten Defizit, das einen Widerspruch in der Realität und nicht etwa einen Denkfehler bezeichnet, gilt die Kritik der Negativen Dialektik. Deren Telos ist die besagte Utopie des Miteinander von Verschiedenem, die gleichsam über der Identität und über dem Widerspruch läge. Interessanterweise bedingen sich die Auflösungen der beiden Defizite dadurch, dass dann, wenn eine Sache oder eine Person ihrem Begriff ganz gerecht würde - d.h. jener Mann gesellschaftlich befreit wäre -, sie im Gleichen auch jene Qualitäten zur Geltung bringen könnte - d.h. dass jener Mann alle seine Qualitäten zeigen könnte -, die infolge der zwangsläufigen Formalisierung des Begriffs unterdrückt wird.

Man könnte es auch so sagen, dass auf die eine Seite hin erst im wirklichen Allgemeinen - d.h. in einem Allgemeinen, das wirklich nicht partikular ist, nicht hintenherum Partikularinteressen durchsetzt - jedes Besondere als Besonderes seinen Platz bekäme, und dass auf die andere Seite hin erst dann, wenn das Nichtidentische oder Besondere überall als solches Platz bekäme, das Allgemeine wäre. Es gemahnt an einen Grundsatz der Dialektik, wonach Begriffe, die ins Extrem getrieben werden - hier das Allgemeine auf die eine Seite hin, das Besondere auf die andere Seite hin -, in ihr Gegenteil umschlagen, was meint, dass sie für sich schon ihr Gegenteil mit sich führen.

Abschliessend sei darauf hingewiesen, dass die Negative Dialektik nicht primär eine Methode und wenn, sicher keine im traditionellen Sinn ist. Die Ansicht, sie lasse sich einfach bei jedem Begriff respektive jeder mit ihm bezeichneten Sache methodenhaft gleich durchgehen oder - wie es dann gar heisst - "durchspielen", ist grundfalsch. Jeder Begriff verweist in neuer Weise auf eine Sache und also bestimmt das Urteil über die Bedürftigkeit der Sache respektive bestimmt das die Identifikation erschütternde Nichtidentische oder Besondere sich jedes Mal ganz neu.