K85 | Konfrontation einer wahren Idee mit der Wirklichkeit heute Zum "Wilhelm Tell" von Friedrich Schiller, inszeniert von Dušan David Pařízek 28. September 2013 |
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Bedenkt man, wie sehr die Schweiz inklusive die Innerschweiz vermittels kapitaler Geschäfte, Bankgeheimnissen, Steuerschlupflöchern, Wohn- und Ferienparadiesen (gerade auch in "wilder Bergwelt") usw. Abhängigkeiten und Unfreiheiten seit langem beförderte und weiter befördert ...
... dann wird klar, warum Schillers "Wilhelm Tell" respektive die darin geschilderte "urschweizerische" Erkämpfung von Unabhängigkeit und Freiheit in der Schweiz derart bedeutsam werden konnte. Mit Schiller lässt sich vieles bestens verschleiern. Nichtsdestotrotz steckt in Schillers "Wilhelm Tell" eine wahre Idee drin, die Idee einer freien Gesellschaft von freien Menschen.
Friedrich Schiller glaubte zu seiner Zeit daran, dass die Idee der freien Gesellschaft unmittelbar greifbar sei, womit er allerdings ...
Die aktuelle Inszenierung von Schillers Tell im Schauspielhaus Zürich unter der Regie des Tschechen Dušan David Pařízek
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In dieser Konfrontation lehnt Pařízek sich durchaus an Max Frisch an, doch bezieht seine Konfrontation sich nicht wie bei Frisch auf ein zu korrigierendes Verständnis der Geschichte (deshalb bei Frisch auch: Wilhelm Tell für die Schule), sondern auf die Konfrontation mit der heutigen schweizerischen Gegenwart. Solches kam ansatzweise auch bei Max Frisch vor, aber nur untergeordnet. Das Motiv von Pařízek, die Konfrontation jener in Schiller steckenden Idee von Unabhängigkeit und Freiheit mit der gegenwärtigen Schweiz wurde - was allerdings nicht erstaunt - in der NZZ-Rezension der Inszenierung (von Barbara Villiger Heilig (15. März 2013), siehe: hier, Zugriff vom 28.9.13) schlicht übergangen. Zwar wird dort getitelt mit: "Wilhelm Tell für die Schule", wobei die NZZ es nicht für nötig befand, Max Frisch als den Autor des Zitierten zu erwähnen (die NZZ scheint sich vor Frisch noch immer zu fürchten!). Doch wie gesagt will die Aufführung von Pařízek auf keine Konfrontation mit den reellen Verhältnissen um 1291 hinaus, will keine Geschichtslektion sein. Es geht Pařízek um eine Konfrontation mit der Gegenwart, und die Kritikerin der NZZ stellte den falschen Bezug zur Schullektion wohl genau deshalb her, weil sie Pařízeks Konfrontation mit der Gegenwart nicht denken wollte oder nicht denken konnte. Sie weicht dem aus. Infamerweise benutzt sie zum Ausweichen ausgerechnet Max Frisch, nach dem bewährten Motto: "Da wird ja wohl kaum jemand etwas dagegen sagen können." Nicht die Aufführung des "Wilhelm Tell" selber ist - wie von der NZZ-Kritikerin behauptet - postmodern ...
... sondern die Art und Weise, wie die Gesellschaft und deren Herren und Damen heutzutage mit dem von Schiller formulierten Anspruch, jener Idee gerecht zu werden, umgehen würden. Sie würden ständig Ausflüchte machen mittels Witzen und Wortspielen ("man sagt 'Ruodi' und nicht 'Rudi' "). Sie würden sich "Stories" erzählen, mit Vorliebe jene vom Landvogt, der sich an die brave Bäuerin heranmachte, und wie schlimm jener im Gegensatz "zu uns" sei. Sie würden vor dem Treffen auf dem Rütli (1. August!) noch rasch eine Seeüberquerung respektive Seedurchschwimmung organisieren, und demzufolge in Badehosen auf dem Rütli erscheinen, die Kleider wasserdicht versorgt in Plastiktüten. Sie würden die Waldgeräusche, das Vogelgezwitscher usw., was sie in der Wirklichkeit gar nicht mehr zu hören vermögen, gleich selber imitieren. Und sie würden sich in Pose werfen zum Schwur und schweizerisch so tun, als wären sie sich einig (und natürlich off the record einander in Mundart anfluchen). Die Abstimmung würde so rasch vollzogen, dass diejenigen, die eigentlich nein stimmen wollten, bei ja hochhalten, aber das würde auch gar keine Rolle spielen, da dabei ja einzig - wie in der Schweiz üblich - der Schein zählt (die Verhältnisse bleiben dieselben, ob "ja" oder "nein"). Der scheinbar Ehrlichste unter den "Spielenden" würde dann der sein (Stauffacher) der am meisten zaudert, der die Drohungen der anderen - etwa die, zum Schwert zu greifen -, irgendwie noch ernst nimmt. Diejenigen, die den Unterschied zwischen Ideologie und Wirklichkeit völlig intus haben (wie der mit Namen Fürst, der in seiner Schwur-Rede das Albisgüetli grüsst), wüssten nur zu genau um die Bedeutung der Fassade als Fassade. Natürlich hätten sie, wenn es denn zum Kämpfen käme, hintenherum längst mit dem vorgeblichen Gegner sich geeinigt und so ihre Privilegien gesichert. Und die Leichen würden sie höchstpersönlich - ach, sie sind ja so stark und volksverbunden! - beseitigen. Und die dritten müssten sich ständig als die kommenden Winkelriede ausrufen: "Stellt mich dann dorthin, wo's am Gefährlichsten ist!" Beim "Wilhelm Tell" des Pařízek handelt es sich genau nicht - wie fälschlicherweise von der NZZ-Kritikerin behauptet - um eine Komödie. O-Ton der NZZ: "Schiller ist in dieser eigenwilligen Fassung nurmehr die Folie, vor der ein elfköpfiges Ensemble kommentiert, ironisiert, persifliert, assoziiert – und lustvoll demonstriert, wie der deutsche Klassiker mit heutigen Schweizer Mythen produktiv kollidieren kann. Am Schauspielhaus Zürich kriegt man statt Pathos also reichlich Amusement. Das Feuerwerk der Gags veranlasst deshalb einen älteren Zuschauer im Parkett zur gut vernehmlichen Bemerkung, es sei ihm neu, dass Schiller Komödien geschrieben habe." Es ist genau umgekehrt: Die Witzeleien sind die Folie, mit der die Agierenden zu überdecken versuchen, wie weit von der von Schiller deklarierten Idee von Unabhängigkeit und Freiheit sie weg sind. Sie "spielen" es sich und dem Publikum nur vor, ohne damit wirklich-lebendig zu tun zu haben - was "postmodern" in etwa meint -, und sobald sie es nicht mehr "spielen", sondern vorne am Bühnenrand sitzen und stumm ins Nichts starren (was die Agierenden immer wieder und über lange Strecken tun), sind sie (auch) wie tot. Diese zentralen und durchaus tragischen Momente, vermittels derer Pařízek negativ auf das kritisierte postmoderne Gehabe verweist, werden von der NZZ-Kritik völlig übergangen. Die Kritikerin dachte wohl, dass die Schaupieler/innen in diesen Momenten nicht mehr spielten und genauso gut in der Garderobe hätten sitzen können. Welch ein Irrtum! |
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Friedrich Schiller
Wilhelm Tell Stuttgart: Reclam 2012 |
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Max Frisch
Wilhelm Tell für die Schule Fr.a.M.: Suhrkamp 2012 |
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Dušan David Pařízek
(Regie und Bühne) Wilhelm Tell gespielt am Schauspielhaus Zürich: 2013 Hermann Gessler, Reichsvogt (Frank Seppeler) |
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Auch und gerade das "gespielte" Leben aber, von den Zeitgenossen postmodern befeuert (NZZ: "Feuerwerk von Gags"), ist korrupt und unfrei und blutig ernst, doch können die Menschen es - so die Pointe der Inszenierung von Pařízek - nicht wahrhaben. Der Apfelschuss des Tell geht daneben, tötet das Kind (auch das ist nicht einfach ein "Gag") - und es einigen sich die Schweizer Herrschaften sofort "(un)schön schweizerisch" darauf, dass der Pfeil sein rechtes Ziel, den Apfel, doch getroffen habe, der Kampf um Unabhängigkeit und Freiheit gewonnen sei. (Die Leiche des Jungen wird heroisch beseitigt, zugunsten des Mythos.) Und man glaubt es! Und man erzählt es sich weiter.
Der Landvogt aber, der den Mythos erst ermöglichte: "Er muss schiessen - er muss schiessen - er muss schiessen!", der auch noch das Theaterpublikum zum Mitklatschen aufforderte, muss neben dem Tell, der mit seinem Todesschuss bereits sich opferte, auch noch hinunter. Nur so kann der Kampf als (angeblich) tatsächlich gewonnener respektive der Mythos als Mythos glaubhaft werden. Wie der Tell, der seinen Sohn Walther verlor, muss auch der Landvogt zum Opfer/Instrument der Mythologisierung werden, in die Schweizer Abgründe entschwinden. Tell und Gessler sitzen am Schluss der Inszenierung traumatisiert nebeneinander an einer steilen Wand (Holzwand, durchsetzt von Schweizer Kreuzen; es ist der Boden, auf dem alles spielte und der zum Schluss ganz schräg gestellt ist), hochtragisch. Gessler muss fallen, Tell kann ihn nicht halten. Es ist drin im Schiller, gegenwärtig gemacht von Pařízek.
Die Kritikerin der NZZ behauptet, es handle sich bei der Inszenierung von Pařízek um ein Stück ohne Helden (NZZ: "Helden versucht man vergeblich im neuen Zürcher 'Wilhelm Tell' "). Natürlich enthält die Inszenierung Helden, man findet sie nur dann freilich nicht, wenn man - wie offenbar die Kritikerin - mit Held einen (mythischen) Helden à la "Wilhelm-Tell-auf-dem-Fünfliber" meint. Es gibt ganz andere Helden. Herr K. in Kafkas "Der Prozess" (von Pařízek übrigens auch schon erfolgreich inszeniert in Prag) ist sicher kein mythischer Held und doch Held. Es gibt auch unwillentliche Helden. Möglicherweise sind diese die heute einzig noch möglichen. |
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