K45
"Hälfte des Lebens" / "Parataxis"
Gedicht von Friedrich Hölderlin / Interpretation mit Theodor W. Adorno

5. November 2011

Adorno weist in seiner Schrift unter dem Titel "Parataxis. Zur späten Lyrik Hölderlins" (Nachweis vgl. unten) unter Anführung anderer Autoren darauf hin, dass jede der beiden Strophen von "Hälfte des Lebens" in sich ihres Gegenteils bedarf (S. 473). Es fehlt das explizit Vermittelnde. "Auf eine an Hegel mahnende Weise sind Vermittlungen des vulgären Typus, ein Mittleres ausserhalb der Momente, die es verbinden soll, als äusserlich und unwesentlich eliminiert, wie vielfach in Beethovens Spätstil; nicht zuletzt das verleiht Hölderlins später Dichtung ihr Antiklassizistisches, gegen Harmonie sich Sträubendes. Das Gereihte ist als Unverbundenes schroff nicht weniger als gleitend. Vermittlung wird ins Vermittelte selbst gelegt anstatt zu überbrücken." (S. 473) Solche Gereihtheit meint Parataxis.

Die beiden Strophen sind ohne Klammer, ohne These oder Synthese, ohne prädikative Behauptung nebeneinander gestellt. "Der Verzicht auf prädikative Behauptung nähert ebenso den Rhythmus einem musikalischen Verlauf an, wie er den Identitätsanspruch der Spekulation mildert, die sich anheischig macht, Geschichte in ihre Identität mit dem Geist aufzulösen." (S. 472f.) Die Sprache spricht scheinbar von selber: "Das erzählende Moment der Sprache entzieht von sich aus sich der Subsumtion unter den Gedanken; je treuer episch die Darstellung, desto mehr lockert sich die Synthesis angesichts der Pragmata, die sie nicht ungeschmälert beherrscht." (S. 474)

"Was am Gedicht zur Erzählung tendiert, möchte hinab ins prälogische Medium, sich treiben lassen mit der Zeit. Der Logos hatte diesem Entgleitenden des Berichts um dessen Objektivation willen entgegengewirkt; die späte dichterische Selbstreflexion Hölderlins ruft es herauf. Auch darin konvergiert sie aufs erstaunlichste mit der Textur von Hegels Prosa, die, im paradoxen Widerspruch zur systematischen Absicht, ihrer Gestalt nach den Klammern der Konstruktion desto mehr sich entwindet, je vorbehaltloser sie sich, dem Programm der Einleitung der Phänomenologie gemäss, dem 'reinen Zusehen' überlässt, und Logik ihr zur Geschichte wird." (S. 474)
Das führt zum Gedanken, wonach "Hölderlins reihende Technik (...) ihre Bedingung in einer eingewurzelten Verhaltensweise seines Geistes (habe). Es ist die Fügsamkeit. (...) Hölderin hatte die Ideale, die man ihn lehrte, geglaubt, als autoritätsfrommer Protestant zur Maxime verinnerlicht. Danach musste er erfahren, dass die Welt anders ist als die Normen, die sie ihm einpflanzte. Der Gehorsam gegen diese trieb ihn in den Konflikt, machte ihn zum Anhänger Rousseaus und der Französischen Revolution, am Ende zum nichtkonformierenden Opfer, stellvertretend für die Dialektik der Verinnerlichung im bürgerlichen Zeitalter. Die Sublimierung primärer Fügsamkeit aber zur Autonomie ist jene oberste Passivität, die ihr formales Korrelat in der Technik des Reihens fand. Die Instanz, der Hölderlin nun sich fügt, ist die Sprache. Losgelassen, freigesetzt, erscheint sie nach dem Mass subjektiver Intention parataktisch zerrüttet." (S. 475)

Allerdings besitzt die Sprache selber eine synthetische Funktion per se: "Die parataktische Auflehnung wider die Synthesis hat ihre Grenze an der synthetischen Funktion von Sprache überhaupt. Visiert ist Synthesis von anderem Typus, deren sprachkritische Selbstreflexion, während die Sprache Synthesis doch festhält. Deren Einheit zu brechen, wäre dieselbe Gewalttat, welche die Einheit verübt; aber die Gestalt der Einheit wird von Hölderlin so abgewandelt, dass nicht bloss das Mannigfaltige in ihr widerscheint - das ist in der herkömmlichen synthetischen Sprache ebenfalls möglich -, sondern dass die Einheit selber anzeigt, sie wisse sich als nicht abschlusshaft. Ohne Einheit wäre in der Sprache nichts als diffuse Natur; absolute Einheit war der Reflex darauf. Demgegenüber zeichnet bei Hölderlin sich ab, was erst Kultur wäre: empfangene Natur." (S. 476f.) Natur als empfangene ist empfangene und also nicht beherrschte. Ihr Empfang ist möglich nur mit losgelassener Sprache, kritisch gegen sich selbst oder eben parataktisch, nicht abschlusshaft, abgewandelt wider die eigene synthetische, herrschaftliche Grundform.

Solche Parataxis geht gegen die subjektive Intention respektive gegen den "Gebrauch". "Vorm Konformismus, dem 'Gebrauch', hat Hölderlin die Sprache zu erretten getrachtet, indem er aus subjektiver Freiheit sie selbst über das Subjekt erhob. Damit zergeht der Schein, die Sprache wäre schon dem Subjekt angemessen, oder es wäre die sprachlich erscheinende Wahrheit identisch mit der erscheinenden Subjektivität. Die sprachliche Verfahrungsweise findet sich mit dem Antisubjektivismus des Gehalts zusammen. Sie revidiert die trügende mittlere Synthesis vom Extrem, von der Sprache selbst her; korrigiert den Vorrang des Subjekts als des Organons solcher Synthesis. Hölderlins Vorgehen legt Rechenschaft davon ab, dass das Subjekt, das sich als Unmittelbares und Letztes verkennt, durchaus ein Vermitteltes sei. Diese unabsehbar folgenreiche Änderung des sprachlichen Gestus ist jedoch polemisch zu verstehen, nicht ontologisch; nicht so, als ob die im Opfer der subjektiven Intention bekräftigte Sprache an sich, schlechterdings jenseits des Subjekts wäre. Indem die Sprache die Fäden zum Subjekt durchschneidet, redet sie für das Subjekt, das von sich aus - Hölderlin war wohl der erste, dessen Kunst das ahnte - nicht mehr reden kann. (...) Der idealische Hölderlin inauguriert jenen Prozess, der in die sinnleeren Protokollsätze Becketts mündet. Das wohl gestattet, Hölderlin heute so unvergleichlich viel weiter zu begreifen als ehedem." (S. 478f.)