K57
Die Soziologisierung der Psychoanalyse
Zur Revision der Freudschen Grundvariante

24. März 1012

Dem Kommentierenden ist klar geworden, dass die Kritik, die er vor vierzehn Tagen an der Anomietheorie von Robert K. Merton übte (vgl. Kommentar K56), sehr viel mit dem zu tun hat, was man als Soziologisierung der Psychoanalyse bezeichnet. Eine solche Soziologisierung bildete den Grundzug der so genannten Revision der Freudschen Psychoanalyse, wie sie sich schon seit den 1930er Jahren abzeichnete und mit Namen wie Karen Horney, Erich Fromm oder Harry Stack Sullivan verknüpft ist. Die Soziologie gerade in den USA dürfte von dieser Revision breit geprägt worden sein, und sicher auch diejenige von Robert K. Merton.

Bei der Freudschen Psychoanalyse wäre - im Verhältnis zur revidierten Psychoanalyse - hervorzuheben, dass sie im Individuum eine Triebdynamik verankert sieht - von Freud als "Libido" bezeichnet -, die unabhängig vom Ich wirkt. Diese Triebdynamik kann in dieser oder jener Hinsicht vom Ich unterdrückt und die Unterdrückungen verdrängt werden, ausser Kraft setzen lässt sie sich allerdings nicht (eine wirkliche Ausserkraftsetzung käme dem Tod des Individuums gleich). Das bedeutet, dass die Triebdynamik auch nach erfolgter Unterdrückung respektive Beschädigung sich ständig wieder meldet ("Wiederkehr des Verdrängten"), was von Seiten des Ich eine sich wiederholende Verdrängungsleistung verlangt. Es ist sehr wahrscheinlich - und das steckt im Grunde bei Freud auch schon drin -, dass bestimmte gesellschaftlich erwünschte Aktivitäten und "Leistungen" dem Einzelnen genau diese Verdrängungsleistungen ermöglichen. So strebt das Individuum, das in seiner Kindheit nur unter grosser Mühe und Beschädigungen zu Verdrängungsleistungen erzogen wurde, im Erwachsenenalter gleichsam von selber zu jenen gesellschaftlich erwünschten Aktivitäten, die ihm die Wiederholung der Verdrängung ermöglichen. Umso weniger sieht man der "Leistung" dann noch an, dass sie immer auch der nach innen gerichteten Verdrängung dient. Im Fachjargon spricht man dabei dann von "Sublimierung", welche unter anderen von Herbert Marcuse untersucht und auch kritisiert wurde.

Natürlich stellen sich auch bei diesem hier nur angedeuteten psychoanalytischen Modell viele Fragen, aber entscheidend soll hier die Feststellung sein, dass auch die Annahme einer "Libido" als beständige innere Energie nicht einfach als unsoziologisch abgetan werden kann. Mittels des eben angedeuteten Freudschen Modells lässt sich vielmehr zeigen, dass auch die "Libido" als ein Vorgesellschaftliches gesellschaftlich ausgebeutet werden kann, nämlich in der beschrieben negativen Weise: Die Gesellschaft vermag es, die Verdrängungsleistungen des Ich, die infolge der in der Kindheit sozialisierten Unterdrückung der Triebdynamik nötig werden, auszubeuten. Und auch hinter jener Sozialisierung steckt natürlich schon die Gesellschaft. Ein solches Modell ist, wie mangelhalft es hier auch dargestellt sei, sicher nicht unsoziologisch.

Die revidierte Psychoanalyse negiert das Konzept einer unabhängig wirkenden "Libido". Ihr gemäss soll alles beim Ich liegen, und wenn im Innern des Individuums Strebungen in diese oder jene Richtung festgestellt werden, dann sind es immer Strebungen des Ich. Das Ich wird damit innerhalb des Individuums gleichsam zum Herr eingesetzt, entgegen dem Satz von Freud, wonach das Ich nicht Herr im eigenen Haus sei. Entsprechend wird die revidierte Psychoanalyse auch als Ich-Psychologie bezeichnet. Die Revisionisten sehen durchaus Beschädigungen beim Individuum, aber sie lesen diese als unmittelbare Fehleinflüsse der Gesellschaft respektive des jeweiligen "Milieus" auf das Ich. Dieses wird zum Vornherein als etwas Integrales, als "Charakter" oder als "Gesamtpersönlichkeit" aufgefasst, unter Absehung der eben geschilderten inneren Spannungen respektive der - wie Adorno es treffend nennt (Nachweis siehe nachstehend) - "inneren Historizität" (S. 23) des Individuums. Historizität wird nur der Gesellschaft zuerkannt und je nach dem, in welchem - auch geschichtlich gesehen - sozialen Milieu das einzelne Individuum aufwächst und lebt, wird ein anderer, je nach Analyse schlechterer oder besserer "Charakter" erwartet. Das wäre dann gemeint mit Soziologisierung der Psychoanalyse.

Und diese Soziologierung ist später ganz analog in der Anomietheorie von Robert K. Merton enthalten (vgl. zu Merton: Kommentar K56). Je nach Lage in der Sozialstruktur und nicht-vorhandener oder vorhandener anomischer Spannung resultiert ein konformer Charakter oder - je nach Spannung - ein innovativer, ein ritualisierender, ein zurückgezogener oder ein rebellischer Charakter. Ob der magnetischen Kraft solcher rasche Orientierung versprechender Typisierung wird gerne - was selber mit Verdrängung zu hat - übersehen, dass gleichsam unterhalb der hervorgehobenen Unterschiede ganz anderes sehr viel mehr Erklärungskraft hätte, an diesem anderen dann auch aufgezeigt werden könnte, wie oberflächlich und irrelevant jene Unterschiede sind. In Klammern sei angemerkt, dass der Serienmörder von Toulouse, der momentan die Schlagzeilen beherrscht, zugleich als jemand beschrieben wird, der nicht nur rebellisch, sondern auch konform und angepasst und auch zurückgezogen in seinem Quartier lebte. Offenbar deckte er fast alle Typen der Mertonschen Typologie gleichzeitig ab. Die Erklärungen hätten tiefer ins Innere des Individuums zu gehen, wo dann aber eben auch das Funktionieren der gesellschaftlichen Kräfte, die ihrerseits ins Innerste hineinreichen - und darauf wies Freud als erster überhaupt hin -, erst recht erhellt werden können. Es wird dadurch nun eben nicht etwa - wie von den Revisionisten behauptet - unsoziologischer, sondern im Gegenteil.

Darauf, dass die gesellschaftliche Problematik viel tiefer reicht und zwar eben viel tiefer ins Innere des Individuums hinein reicht und die entsprechende Analyse umgekehrt die ganze gesellschaftliche Problematik erst richtig erhellt, hat Theodor W. Adorno in seiner Kritik an der revidierten Psychoanalyse hingewiesen (vgl. Nachweis nachstehend). Er übte an anderer Stelle - etwa in der "Minima Moralia" - starke Kritik an Freud, im zitierten Beitrag verteidigt er ihn gegen die Revisionisten praktisch durchgehend.

Adorno weist darauf hin, dass die von den Revisionisten bevorzugte Milieutheorie vom Individuum als einer unabhängigen, autonomen und subsistenten Monade ausgehe (S. 27): "Während sie (die Revisionisten) unablässig über den Einfluss der Gesellschaft aufs Individuum reden, vergessen sie, dass nicht nur das Individuum, sondern schon die Kategorie der Individualität ein Produkt der Gesellschaft ist." (S. 27) Dieser Vorwurf wäre an die heute betriebene Soziologie fast durchwegs zu machen. Aber weiter Adorno: "Anstatt erst das Individuum aus den gesellschaftlichen Prozessen herauszuschneiden, um dann deren formenden Einfluss zu beschreiben, hätte eine analytische Sozialpsychologie in den innersten Mechanismen des Einzelnen bestimmende gesellschaftliche Kräfte aufzudecken. Überhaupt von gesellschaftlichen Einflüssen zu reden ist fragwürdig: blosse Wiederholung der ideologischen Vorstellung der individualistischen Gesellschaft von sich selber. Meist werden durch äussere Beeinflussung nur Tendenzen, die im Individuum bereits präformiert sind, verstärkt und zum Vorschein gebracht." (S. 27)

Adorno hebt hervor, dass die Gesellschaft "in Schocks erfahren wird, in jähen, abrupten Stössen" (S. 24) und dass man entsprechend nicht - wie die Revisionisten es tun - von einer kontinuierlichen charakterbildenden Erfahrung ausgehen könne. "Die Insistenz auf der Totalität, als dem Gegensatz zum einmaligen, bruchstückhaften Impuls, impliziert einen harmonistischen Glauben an die Einheit der Person, die in der bestehenden Gesellschaft unmöglich, vielleicht überhaupt nicht einmal zu ersehnen ist. Das Freud den Mythos von der organischen Struktur der Psyche zerstört hat, zählt zu seinen grössten Verdiensten. Er hat dadurch vom Wesen der gesellschaftlichen Verstümmelung mehr erkannt, als irgendein direkter Parallelismus von Charakter und sozialen Einflüssen es könnte. Die sedimentierte Totalität des Charakters, welche die Revisionisten in den Vordergrund schieben, ist in Wahrheit das Resultat einer Verdinglichung realer Erfahrungen." (S. 25)

Das meint, dass die Menschen sich zur Verdrängung respektive Verdeckung der erlittenen Schocks und Wunden gleichsam einen Charakterpanzer aufzusetzen gezwungen sehen, was von der Gesellschaft auch genau befördert wird, von derselben Gesellschaft notabene, welche auch die Schocks aussendet. Die Revisionisten nehmen den Charakterpanzer zum Nennwert und analysieren nur noch auf dieser Ebene. Das Drama, dass sich infolge der erlittenen Traumas unter der Panzerung abspielt und das von der Gesellschaft im Eingangs erläuterten Sinn sowohl ausgelöst als auch ausgebeutet wird, interessiert sie nicht. Dieses dann wäre - so gesehen - als unsoziologisch oder eben vielmehr soziologistisch zu bezeichnen. Als soziologistische aber wird die revidierte Psychoanalyse Teil einer Gesellschaft, die pseudohaft zu therapieren vorgibt, was sie selber anrichtet.

Demgegenüber hätte eine "radikale Psychoanalyse, indem sie sich auf Libido als ein vorgesellschaftliches richtet, phylogenetisch und ontogenetisch jene Punkte (zu erreichen), wo das gesellschaftliche Prinzip der Herrschaft mit dem psychologischen der Triebunterdrückung koinzidiert." (S. 27)