|
1.
Das Studium veränderte sich in den letzten etwa 25 Jahren stark. Als der Kommentierende in den 1980er Jahren in Zürich Soziologie studierte, hatte er während des ganzen Studiums, das sieben Jahre lang dauerte, keine Prüfung zu absolvieren respektive, wie es heute unter dem "Bologna"-Regime heisst, keine "Leistungsnachweise" zu erbringen. Es war neben der geforderten minimalen Studienzeit von vier Jahren einzig die Durchführung eines Forschungsprojekts gefordert, das in der Regel direkt in die Lizentiatsarbeit mündete. Am Schluss des Studiums kam es im Hauptfach neben der Abfassung der Lizentiatsarbeit zu zwei 45-minütigen mündlichen Prüfungen (zu vorbesprochener Literatur) und zu einer 4-stündigen schriftlichen Prüfung (kursiv: Korrektur vom 5.2.2016). Im ersten Nebenfach war eine halbstündige mündliche Prüfung (zu vorbesprochener Literatur) sowie eine dreitägige schriftliche Prüfung (zu vorbesprochener Literatur) zu absolvieren, im zweiten Nebenfach eine halbstündige mündliche Prüfung (zu vorbesprochener Literatur). Der Kommentierende konnte unter den damaligen Bedingungen ausserordentlich frei studieren. Man stellte sich die Vorlesungen und Seminarien, die man besuchen wollte, selber zusammen, und oft besuchte man auch Vorlesungen, die fern vom eigenen Hauptfach und den Nebenfächern lagen. Diese Studierform ermöglichte eine eigene Auseinandersetzung mit dem Gehörten und eine Beteiligung an Vorlesungen und Seminarien nach eigenem Interesse. Das war deshalb von unschätzbarem Wert, weil man sich so seine Soziologie gleichsam nach eigenen Takt erarbeiten konnte, und das Erarbeitete - anders als beim späteren so genannten "Bumilie"-Lernen - auch wirklich selbst Erabeitetes und selbst Differenziertes war, Bildung halt. Für die damalige Studienzeit der 1980er Jahre ist allerdings anzumerken, dass man der Bildung auch damals schon - wie es typisch für die Halbbildung ist (vgl. dazu unten) - eine starke instrumentelle Funktion zuschrieb. Gemäss der eher liberalistischen Vorstellung sollte via Bildung die angestrebte Chancengleichheit unter den Menschen realisiert und - auch international und vor allem bezogen auf die so genannte Dritte Welt - die wirtschaftliche Entwicklung beschleunigt werden (das war ein zentrales Motiv der damals im Soziologischen Institut der Universität Zürich betriebenen Soziologie). Gemäss der eher gesellschaftskritischen Vorstellung (wie sie insbesondere im Zug der 68er Studentenrevolte vor allem in der Soziologie vorherrschend war) sollte die Bildung dem Zweck dienen, das bestehende System zu kritisieren, wenn nicht gar zu revolutionieren. Solche Zwecksetzungen machten sich im Umgang mit den Professoren und den anderen Studierenden insofern negativ bemerkbar, als das Interesse an soziologischen Versuchen, die jemand in seinem Studium jenseits der angeführten Zwecke anstellte - wie es der hier Kommentierende für sich in Anspruch nahm -, nicht sonderlich gross oder allenfalls aufgesetzt war. Irgendwie schienen immer alle schon zu wissen, welches die "richtige" Soziologie und welches deren "richtige" Funktion zu sein hatte. So war man als Student diversen standpunktsoziologischen Vereinnahmungsversuchen ausgesetzt, die man oft erst spät erkannte, da man zuerst jeweils naiv glaubte, es ginge den anderen wirklich um die Sache. Das war dann das Enttäuschende. In jener Konstellation der 1980er Jahre ergab sich für Studierende wie mich also durchaus die Möglichkeit, gleichsam im Windschatten der diversen Richtungskämpfe frei zu studieren, doch musste man sich alles relativ einsam erarbeiten. Die fehlende Offenheit in den Diskussionen führte dazu, dass Studierende, die die Kraft dazu nicht besassen, den bestehenden Freiraum aus eigenem Antrieb zu nutzen und zu füllen, innerhalb des Studiums gleichsam in der Luft hingen. Sie waren nicht in der Lage, - um es mal so zu sagen - von selbst zu lernen. In offenen Diskussionen wäre es vielleicht möglich gewesen, deren Motivation frei zu legen, aber wie gesagt, Diskussionen waren immer sofort sehr standpunktbesetzt.
So waren es nicht zuletzt viele verunsicherte Studierenden zusammen mit den Verunsicherten unter den Professoren, die es auch gab, die zur Bekämpfung ihrer Verunsicherung die ab den frühen neunziger Jahren einsetzende Verschulung des Studiums forderten und förderten. Man kann es vielleicht gar so sagen, dass die bereits erreichte Halbbildung - im besagten Sinne, dass das Richtige immer schon im Voraus entschieden zu sein hatte, was für sich bereits auf eine unterschwellige, freilich nicht eingestandene Verunsicherung hinwies - die Forderung nach noch mehr Halbbildung zur Folge hatte. Sie fiel zusammen mit dem insbesondere nach 1989 neoliberal forcierten Druck, möglichst alles in Instrumente der Mehrwertgenerierung vermittels Tausch umzuformen, so eben auch die Bildung. Die bis dahin bestehenden institutionellen Formen von Bildungsgängen waren, eben weil sie selber auf äusserlichen "Richtungen", "Schulen" oder "Standpunkten" beruhten, überhaupt kein Bollwerk gegen die Verschulung in Richtung "Bologna". Der Schritt von "Schulen" zur Schule ist tatsächlich nicht weit. Und die neuesten Verschulungstendenzen waren beispielsweise am Soziologischen Institut der Universität Zürich bereits Ende der 1980er Jahre klar spürbar, also lange vor den Deklarationen von Bologna. Fühlte sich der hier Kommentierende schon von den alten "Schulen" abgeschreckt, so erst recht vor der sich abzeichnenden Verschulung. So ging er Anfang der 1990er Jahre weg von der Uni mit dem Ziel, sich weiterhin frei zu bilden.
2. Mit Adorno wäre Bildung, wie sie sich im Zug der Aufklärung insbesondere im deutschen Sprachraum hervorbildete, durch ihre - allerdings scheinbare (vgl. dazu genauer unten, Punkt 4) - Zweckfreiheit zu charakterisieren. Sie sollte nicht irgendwelchen vorgegebenen Zwecken dienen, sondern von gleichsam objektiver Notwendigkeit herrührender Vernunftkraft motiviert sein. "(Die Idee der Bildung) emanzipierte sich mit dem Bürgertum. Sozialcharaktere des Feudalismus wie der gentilhomme und der gentleman, vor allem aber die alte theologische Erudition (Gelehrsamkeit, kw) lösten von ihrem traditionalen Dasein und ihren spezifischen Bestimmungen sich ab, verselbständigten sich gegenüber den Lebenszusammenhängen, in die sie zuvor eingebettet waren." (Adorno, S. 97) Oder auch: "Ganz gewiss hat die deutsche Bildung in ihrer grossen Epoche nicht durchweg die Kenntnis der gleichzeitigen Philosophie eingeschlossen, die selbst in den Jahren zwischen 1790 und 1830 wenigen reserviert war. Aber jene Philosophie war doch der Bildung immanent. Nicht nur hat sie genetisch Figuren wie Humboldt und Schleiermacher zu ihren Konzeptionen des Bildungswesens veranlasst. Sondern der Kern des spekulativen Idealismus, die Lehre vom objektiven, über die blosse psychologische Einzelperson hinausgehenden Charakter des Geistes, war zugleich das Prinzip der Bildung als das eines Geistigen, das nicht unmittelbar einem anderen dienstbar, nicht unmittelbar an seinem Zweck zu messen ist. Der unwiderrufliche Sturz der Geistesmetaphysik hat die Bildung unter sich begraben." (Adorno, S. 106) Die Hegelsche Behauptung einer objektiven Bewegung hin zum absoluten Geist, die in der Geschichte jenseits oder vielleicht besser noch unterhalb der konkreten Mittel und Zwecke, in welche die "blosse psychologische Einzelperson" verstrickt sind, wirke, wurde durch die geschichtliche Entwicklung selber objektiv dementiert. Es gibt den von Hegel behaupteten Zug im Objektiven nicht, gleichwohl gibt es das Objektive, doch setzt es sich durch als Negatives, als das gesellschaftlich Partikulare. Das Problem stellt sich dann so dar, dass mit dem behaupteten Zug jenes Objektive - und hierin liegt die Tragik der Entwicklung der Philosophie - gleich mitkassiert wurde. Mit Bezug auf die Marxsche Kritik an Hegel wäre zu sagen, dass in dieser die Kritik am Objektiven als dem in Wirklichkeit gesellschaftlich durchgesetzten Partikularen zuerst überhaupt formuliert wurde, dabei der Begriff des Objektiven aber derart mit den konkreten Mitteln und Zwecken - man möchte fast sagen: positivistisch - identifiziert wurde (insbesondere vermittels des "Standes der Produktivkräfte"), dass durch sie selber am Objektiven gefrevelt, das heisst gerade auch an dessen historischen Kassierung mitgewirkt wurde (und also an der Abschaffung der spekulativen Philosophie und damit verbunden am Niedergang der Bildung).
3.
Bei Adorno ist nicht expliziert, was mit dem angedeuteten "Halb" im Begriff der Halbbildung gemeint ist. Im Zusammenhang kritischer Theorie wird es aber klar. Halbbildung ist ganz und gar verstrickt in die gesellschaftlich vorgegebenen Mittel und Zwecke respektive in das, was Max Horkheimer als "instrumentelle Vernunft" bezeichnet. Darin wird - wenn man so will - die andere Hälfte der Vernunft, welche die Welt nicht als Mittel für zu erreichende Zwecke, das heisst nicht im naturbeherrschenden Sinn zu begreifen sucht, gleichsam weggestrichen. Bei diesem Weggestrichenen wäre von der "spekulativen Vernunft" zu sprechen, die dann eben jene andere Hälfte darstellt, die der nur noch an instrumenteller Vernunft orientierten Halbbildung (im Unterschied zur ganzen Bildung) abgeht. Es ist jener "über die psychologische Einzelperson hinausgehender Charakter des Geistes", nebenbei gesagt durchaus material. Allerdings sollten die beiden Vernunftformen nicht ihrerseits voneinander getrennt und hypostasiert werden, da die spekulative Vernunft - und das ist eine zentrale an Marx anschliessende Einsicht von Horkheimer und Adorno - "Kritik der instrumentellen Vernunft" (so der deutschsprachige Titel jener wichtigen Arbeit von Horkheimer) selber ist, sie gerade nicht losgelöst von der instrumentellen Vernunft konzipiert werden kann. Allerdings - und dieses steht handkehrum gegen Marx - steht die spekulative Vernunft auch nicht, und auch auf höherer Ebene nicht, im Dienst einer gleichsam zugunsten des "Volks" sozialisierten instrumentellen Vernunft, sondern bleibt offen zum Lebendigen, zu dem von menschlicher Vernunft nicht Instrumentierbaren, nicht Beherrschbaren. Spekulative Vernunft wäre also Kritik (und nicht etwa Eliminierung!) der instrumentellen Vernunft und würde - wäre sie in Bildung zugelassen - Bildung erst zu Bildung machen.
4.
Bildung war zu ihrer Blütezeit, das heisst etwa bei Hegel und also in jener von Adorno angesprochenen Zeit zwischen 1790 und 1830 gerade nicht Kritik der instrumentellen Vernunft. Die Vorstellung jener Bildung als einer Zweckfreien war in ihrem Ursprung unwahr deshalb, weil sie selber insgeheim der Perpetuierung der "alten Unfreiheit" vermittels einer die Menschen als Instrumente einsetzenden Welt diente. Indem in jener Bildung die drückende Welt gerade nicht kritisiert wurde, sondern idealistisch frei von dieser sich auffasste (obwohl sie auf ihr beruhte), bestätigte sie dieser deren angebliche Richtigkeit: "Wohl sind ihrer Autarkie die grosse spekulative Metaphysik und die mit ihr bis ins Innerste verwachsene grosse Musik zu danken. Zugleich aber ist in solcher Vergeistigung von Kultur deren Ohnmacht virtuell bereits bestätigt, das reale Leben der Menschen blind bestehenden, blind sich bewegenden Verhältnissen überantwortet. Wenn Max Frisch bemerkte, dass Menschen, die zuweilen mit Passion und Verständnis an den sogenannten Kulturgütern partizipierten, unangefochten der Mordpraxis des Nationalsozialismus sich verschreiben konnten, so ist das nicht nur ein Index fortschreitend gespaltenen Bewusstseins, sondern straft objektiv den Gehalt jener Kulturgüter, Humanität und alles, was ihr innewohnt, Lügen, wofern sie nichts sind als Kulturgüter. Ihr eigener Sinn kann nicht getrennt werden von der Einrichtung der menschlichen Dinge. Bildung, welche davon absieht, sich selbst setzt und verabsolutiert, ist schon Halbbildung geworden." (Adorno, S. 94f.) Die Zweckfreiheit jener Bildung erfüllte also sehr wohl einen Zweck, die Perpetuierung des Scheins, man befinde sich jenseits der "Einrichtung der menschlichen Dinge", jenseits der "Mordpraxis", und genau dadurch wurde dieselbige gestützt.
5. Bildung diffundierte im Verlauf des 19. und 20. Jahrhunderts zusehends in die unteren Gesellschaftsschichten - von der Einführung der Volksschule bis hin zur massenmedialen Versorgung mit Kulturgütern - und wurde dabei in ein integratives Mittel zur Rechtfertigung dessen verwandelt, was ist, insbesondere zur Rechtfertigung der weiterhin bestehenden sozialen Ungleichheit respektive des weiterhin blind auf die Menschen wirkenden ökonomischen Drucks. In der Bildungssoziologie wird dabei dann auch von der Allokations- respektive Legitimationsfunktion der Bildung gesprochen, wodurch die grundlegende ideologisch-integrative Funktion von Bildung in ein Positives verkehrt wird. "Während aber am ökonomischen Grund der Verhältnisse, dem Antagonismus wirtschaftlicher Macht und Ohnmacht, und damit an der objektiv gesetzten Grenze von Bildung nichts Entscheidendes sich änderte, wandelte die Ideologie sich umso gründlicher. Sie verschleiert die Spaltung weithin auch denen, welche die Last zu tragen haben. Sie sind während der letzten hundert Jahre vom Netz des Systems übersponnen worden. Der soziologische Terminus dafür lautet: Integration. Subjektiv, dem Bewusstsein nach, werden, wie längst in Amerika, die sozialen Grenzen immer mehr verflüssigt. Die Massen werden durch zahllose Kanäle mit Bildungsgütern beliefert. Diese helfen als neutralisierte, versteinerte die bei der Stange zu halten, für die nichts zu hoch und teuer sei. Das gelingt, indem die Gehalte von Bildung, über den Marktmechanismus, dem Bewußtsein derer angepaßt werden, die vom Bildungsprivileg ausgesperrt waren und die zu verändern erst Bildung wäre." (S. 100)
Im Unterschied zum Bildungsideal Humboldtscher Prägung steht die neue Bildung nicht mehr scheinbar jenseits der "psychologischen Einzelperson" und den "Einrichtungen der menschlichen Dinge", sondern ganz und gar in diesen drin, und zwar in einer diese - und das macht sie wesentlich zur "Halbbildung" - prinzipiell bejahenden und nicht darüber hinaus schauen könnenden Weise (wogegen der Aphorismus von Stanislaw Jerzy Lec sich auflehnt: "Sesam öffne dich - ich möchte hinaus", vgl. dazu Kommentar K16). Zugleich ist die Bildung nicht mehr Sache einer Oberschicht, sondern sie erreicht auch die untersten Schichten, wird dort aber eben zum zentralen Sozialisationsmittel, weshalb Adorno von "sozialisierter Halbbildung" spricht. Die Überlastung der Schulen heute hat wesentlich damit zu tun.
6. Wenn Adorno am überkommenen Bildungsbegriff des frühen 19. Jahrhunderts anknüpft, dann nicht etwa - wie ihm manchmal unterstellt wird - in unkritischer Weise: "Taugt jedoch als Antithese zur sozialisierten Halbbildung kein anderer als der traditionelle Bildungsbegriff, der selber zur Kritik steht (vgl. oben Punkt 4, kw), so drückt das die Not einer Situation aus, die über kein besseres Kriterium verfügt als jenes fragwürdige, weil sie ihre Möglichkeit versäumte." (S. 102) Im traditionellen Bildungsbegriff respektive der darin enthaltenen (wie oben gezeigt durchaus problematischen) Freiheit von den unmittelbaren Zwecken hätte die Möglichkeit gesteckt, die bestehenden Verhältnisse als Partikular-Zweckhafte zu kritisieren, doch wurde diese Möglichkeit, die damals - genau dank jener Zweckfreiheit - sehr viel näher lag als heute, versäumt. Adorno weiter: "Weder wird die Restitution des Vergangenen gewünscht, noch die Kritik daran im mindesten gemildert." (ebda) Dass jene Möglichkeit so nahe lag, aber eben versäumt ward, macht die Kritik an jener Bildung in der Tat schärfer. Aber weiter Adorno: "Nichts widerfährt heute dem objektiven Geist, was nicht in ihm selbst in hochliberalen Zeiten schon gesteckt hätte oder was nicht wenigstens alte Schuld eintriebe. Aber was jetzt im Bereich von Bildung sich zuträgt, lässt nirgends anders sich ablesen als an deren wie immer auch ideologischer älterer Gestalt. Denn potentiell haben die versteinerten Verhältnisse abgeschnitten, womit der Geist über die herkömmliche Bildung hinausginge." (ebda) Alleine jene Möglichkeit des Darüberhinausgehens kann heute - so Adorno - kaum noch überhaupt gedacht werden.
7.
"Weil kaum mehr ein Junge sich träumt, einmal ein grosser Dichter oder Komponist zu werden, darum gibt es wahrscheinlich, übertreibend gesagt, unter den Erwachsenen keine grossen ökonomischen Theoretiker, am Ende keine wahrhafte politische Spontaneität mehr. Bildung brauchte Schutz vorm Andrängen der Aussenwelt, eine gewisse Schonung des Einzelsubjekts, vielleicht sogar die Lückenhaftigkeit der Vergesellschaftung. 'Ich verstand die Sprache des Äthers, die Sprache der Menschen verstand ich nie', schrieb Hölderlin; ein Jüngling, der so dächte, würde hundertfünfzig Jahre später verlacht oder seines Autismus wegen wohlwollender psychiatrischer Betreuung überantwortet. Wird aber der Unterschied zwischen der Sprache des Äthers, also der Idee einer wahren Sprache, der der Sache selbst, und der praktischen der Kommunikation nicht mehr gefühlt, so ist es um Bildung geschehen." (S. 106) (Es sei in Klammern angemerkt, wie sehr das gegen eine Theorie des kommunikativen Handelns spricht, wie sie von Jürgen Habermas vorgelegt wurde.) Oder an anderer Stelle: "Vielerorten steht sie (Bildung, kw), als unpraktische Umständlichkeit und eitle Widerspenstigkeit, dem Fortkommen bereits im Wege: wer noch weiss, was ein Gedicht ist, wird schwerlich eine gutbezahlte Stellung als Texter finden." (S. 101)
8. "Bologna" stellt den vorläufigen Endpunkt eines langen Niedergangs der Bildung dar. Während Bildung auch in ihrer an Marx geschulten Variante der 68er durchaus instrumentell war, wurde dabei über deren Zweck wenigstens noch gestritten, gegen die 68er und innerhalb der 68er, und es gab auch noch so etwas wie Windschatten oder gleichsam "Zweck"-Schatten (vgl. oben, Punkt 1). Unter "Bologna" wurde Bildung ganz und gar unter die gesellschaftlich vorherrschenden Zwecke subsumiert, richtiggehend linintreu gemacht. Eine Kollegin des Kommentierenden, die dereinst im Ostblock studierte und heute unter "Bologna"-Bedingungen lehrt, stellt zwischen den beiden Bildungssystemen keine grundlegenden Unterschiede fest. Im Ostblock waren die Studierenden zu Mittelschülern degradiert, unter "Bologna" werden sie es auch oder vielmehr erst recht. Und auch "Bologna" ist bürokratische Planwirtschaft.
Sieht man sich die drei Hauptziele des so genannten "Bologna-Prozesses" an, die Förderung der Mobilität, der internationalen Wettbewerbsfähigkeit und der Beschäftigungsfähigkeit, dann denkt man zuletzt daran, dass es dabei um Bildung gehen könnte. Es geht aber um Bildung, nämlich um eine dem autoritären Programm neoliberalen Wirtschaftens untergeordnete Bildung. Mit "Bologna" wurde die sozialisierte Halbbildung auf ihr vorläufig höchstes Niveau getrieben. Sie "verhilft" dazu, die Menschen an jedem Punkt der Erde gleich schnell ausbeutbar zu machen (das meint "Förderung der Mobilität"), sie international - vermittels dem "European Credit Transfer System" (es sind übrigens auch hier faule Kredite) - jederzeit miteinander vergleichen zu können (das meint "Förderung von internationaler Wettbewerbsfähigkeit") und sie überhaupt als ausbeutbar jederzeit sofort - auch im Sinn von "lean production" - zur Verfügung zu haben (das meint "Förderung der Beschäftigungsfähigkeit").
"Während die ursprünglich sozialen Differenzierungsmomente kassiert werden, in denen Bildung bestand - Bildung und Differenziertheit sind eigentlich dasselbe -, gedeiht an ihrer Stelle ein Surrogat. Die perennierende Statusgesellschaft saugt die Reste von Bildung auf und verwandelt sie in Embleme des Status. Das war der bürgerlichen Bildung nie fremd. Sie hat von je sich dazu erniedrigt, ihre sogenannten Träger, früher jene, die Latein konnten, vom Volk zu trennen, so wie es noch Schopenhauer in aller Naivetät aussprach. Nur konnten hinter den Mauern ihres Privilegs auch die humanen Kräfte sich regen, die, auf die Praxis zurückgewandt (vgl. oben, Punkt 3, kw), einen privileglosen Zustand verhiessen. Solche Dialektik der Bildung ist durch ihre gesellschaftliche Integration (vgl. oben Punkt 5, kw), dadurch also, dass sie unmittelbar in Regie genommen wird, stillgestellt. Halbbildung ist der vom Fetischcharakter der Ware ergriffene Geist." (S. 108)
9. Mit Bildung ist, seit es sie gibt, die Möglichkeit realer Autonomie fest verknüpft, die Auffassung mithin, man gelange dank Bildung zu Selbstbestimmung, was freilich schon immer - und erst recht in sozialisierter Halbbildung - Ideologie war, als solche nun aber von grundlegender gesellschaftlicher Bedeutung. "Die totalitäre Gestalt von Halbbildung ist nicht bloss zu erklären aus dem sozial und psychologisch Gegebenen, sondern ebenso aus dem besseren Potential: dass der in der bürgerlichen Gesellschaft einmal postulierte Bewusstseinsstand auf die Möglichkeit realer Autonomie des je eigenen Lebens vorverweist, die von dessen Einrichtungen verweigert und auf die blosse Ideologie abgedrängt wird." (S. 103) Die Menschen vermeinen noch dann, vermittels Bildung zu Autonomie zu gelangen, wenn sie - wie unter "Bologna" - ganz offen und unmittelbar dem Wirtschaftsprozess einverleibt werden. Diese in der Bildung nach wie vor drinsteckende ideologische Kraft dient der Internalisierung der Ziele des Kapitals, indem eben noch der Abschluss unter "Bologna" ideologisch mit Autonomie gleichgesetzt wird. "Denn die einmal erreichte Aufklärung, die wie sehr auch unbewusst in allen Individuen der durchkapitalisierten Länder wirksame Vorstellung, die seien Freie, sich selbst bestimmende, die sich nichts vormachen zu lassen brauchen, nötigt sie dazu, sich wenigstens so zu verhalten, als wären sie es wirklich." (S. 103)
Das ist auch der Grund, weshalb plötzlich auch in praktischen Berufen wie Krankenpflege oder Treuhand ein so genannter "Bachelor" verlangt wird. Es geht um die allgemeine Sozialisierung der mit Halbbildung respektive Bologna (oder übrigens auch PISA) verknüpften Ideologie. Auch Krankenpfleger oder Treuhänder sollen möglichst kapitalgerecht arbeiten, egal, was es im Besonderen bedeutet (gegenüber erkrankten Menschen; gegenüber dem Steuerrecht usw.), dabei im selben sich einreden, es geschehe aus vermittels Bildung gewonnener Autonomie: "Ich muss es ja von selber so wollen."
In der Tat - und das wird im Zusammenhang mit dem "Bologna-Prozess" massiv verschleiert - werden die Menschen vermittels "Bologna" mehr und mehr zu "autonomen" Spezialisten herangezogen, die von dem nicht weit entfernt sind, was - um den Namen eines ganz besonderen Spezialisten zu nennen - Adolf Eichmann im Nationalsozialismus "leistete". Später werden sie behaupten, sie hätten nur auf Befehl gehandelt, doch im Handeln selber fühlten sie zum einen anders, nämlich autonom, wussten zum andern auch genau, was sie taten. Auch die heute "Bologna" umsetzenden Professoren wissen, was sie tun und was sie ausschliessen.
"Im Klima der Halbbildung überdauern die warenhaft verdinglichten Sachgehalte von Bildung auf Kosten ihres Wahrheitsgehalts und ihrer lebendigen Beziehung zu lebendigen Subjekten. Das etwa entspräche ihrer Definition." (Adorno, S. 103)
10. Die gesellschaftlichen Bedingungen selber verunmöglichen differenzierende Bildung. "(D)er einzelne (empfängt) von der durch die Allherrschaft des Tauschprinzips virtuell entqualifizierten Gesellschaft nichts an Formen und Strukturen, womit er, geschützt gleichsam, überhaupt sich identifizieren, woran er im wörtlichsten Verstand sich bilden könnte; während andererseits die Gewalt des Ganzen über das Individuum in sich das Entformte wiederholen muss. Was einmal selbst so gestaltet war, dass die Subjekte ihre wie immer problematische Gestalt daran gewinnen mochten, ist dahin; sie selber aber bleiben gleichwohl derart in Unfreiheit verhalten, dass ihr Miteinanderleben aus Eigenem sich erst recht nicht als wahrhaftes artikuliert." (S. 103f.) Oder anders: "Dem Fortschritt selber, der Kategorie des Neuen ist als Ferment ein Zusatz von Barbarei beigemischt: man fegt aus. Zu visieren wäre ein Zustand, der weder Kultur beschwört, ihren Rest konserviert, noch sie abschafft, sondern der selber hinaus ist über den Gegensatz von Bildung und Unbildung, von Kultur und Natur." (S. 120) Das meint auch: "Die philosophische Bildungsidee auf ihrer Höhe wollte natürliches Dasein bewahrend formen. Sie hatte beides gemeint, Bändigung der animalischen Menschen durch ihre Anpassung aneinander und Rettung des Natürlichen im Widerstand gegen den Druck der hinfälligen, von Menschen gemachten Ordnung. Die Philosophie Schillers, des Kantianers und Kantkritikers, war der prägnanteste Ausdruck der Spannung beider Momente, während in Hegels Bildungslehre, unterm Namen Entäusserung, ebenso wie beim späten Goethe das Desiderat der Anpassung inmitten des Humanismus selber triumphiert. Ist jene Spannung einmal zergangen, so wird Anpassung allherrschend, ihr Mass das je Vorfindliche. Sie verbietet, aus individueller Bestimmung übers Vorfindliche, Positive sich zu erheben." (S. 95)
Differenzierend hinaus gehen übers Vorfindliche, was Bildung erst wäre, ist heute wohl möglich nur noch in gesellschaftlichen Nischen. "An ihm (diesem Bildungsbegriff, kw) partizipieren nur noch, zu ihrem Glück oder Unglück, einzelne Individuen, die nicht ganz in den Schmelztiegel hineingeraten sind, oder professionell qualifizierte Gruppen, die sich gern selbst als Eliten feiern." (S. 103) Das Elitäre zeigt sich in der Tat rasch, wo Bildung, und sei sie noch so zweckfrei kritisch, zum verstandenen Wahren hochstilisiert wird und dadurch ihren - eben nicht bloss subjektiven - Wahrheitsanspruch implizit aufkündigt, denn: "Wahr sind einzig die Gedanken, die sich selber nicht verstehen." (Adorno)
Deshalb gehörte zur Bildung - und das wird heute im Allgemeinen überhaupt nicht mehr gesehen - eine bestimmte Form von Unbildung notwendig dazu: "Unbildung, als blosse Naivetät, blosses Nichtwissen, gestattete ein unmittelbares Verhältnis zu den Objekten und konnte zum kritischen Bewusstsein gesteigert werden kraft ihres Potentials von Skepsis, Witz und Ironie - Eigenschaften die im nicht ganz Domestizierten gedeihen. Der Halbbildung will das nicht glücken. Unter den gesellschaftlichen Bedingungen von Bildung (im umfassenden Sinn, kw) war, neben anderem, wesentlich Tradition - nach Sombarts und Max Webers Lehre ein Vorbürgerliches, essentiell unvereinbar mit bürgerlicher Rationalität. Der Traditionsverlust durch Entzauberung der Welt terminiert in einem Stand von Bilderlosigkeit, einer Verödung des zum blossen Mittel sich zurichtenden Geistes, die vorweg mit Bildung inkompatibel ist. Nichts verhält mehr den Geist zur leibhaften Fühlung mit Ideen." (S. 104f.)
Man vertrete mal so was unter "Bologna"!
|
|