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Gratis ist sie nicht zu haben
Zur "Dialektik der Aufklärung" von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno

1. September 2012

In einem seiner späten Interviews wies Leo Löwenthal, der selber ein frühes Mitglied des Instituts für Sozialforschung war und an einzelnen Thesen der "Dialektik" mitarbeitete, darauf hin, dass die "Dialektik der Aufklärung" nicht gratis zu haben sei. Tatsächlich ist die im Werk von Horkheimer und Adorno behandelte Sache - und zwar von der Sache her - nicht einfach und vielleicht auch gar nicht zu "haben". Das geht so weit, dass gerade dann, wenn man sie begriffen zu haben scheint, die Wahrscheinlichkeit am grössten ist, dass sie einem erst recht entglitten ist. Es geht eben genau um die mit der fortgeschrittenen Aufklärung sich geradezu vollendende Selbstherrlichkeit der Menschen, es restlos begriffen zu haben. Diese Selbstherrlichkeit kritisch wenigstens zu erkennen wäre der - im Verhältnis zum gesellschaftlich Erwarteten - hohe Preis. Wenige sind bereit, ihn zu entrichten.

In der Vorrede zur Erstausgabe 1944 schreiben Horkheimer und Adorno:

"Die Aporie, der wir uns bei unserer Arbeit gegenüber fanden, erwies sich somit als der erste Gegenstand, den wir zu untersuchen hatten: die Selbstzerstörung der Aufklärung. Wir hegen keinen Zweifel - und darin liegt unsere petitio principii -, dass die Freiheit in der Gesellschaft vom aufklärenden Denken unabtrennbar ist. Jedoch glauben wir, genauso deutlich erkannt zu haben, dass der Begriff eben dieses Denkens, nichts weniger als die konkreten historischen Formen, die Institutionen der Gesellschaft, in die es verflochten ist, schon den Keim zu jenem Rückschritt enthalten, der heute überall sich ereignet. Nimmt Aufklärung die Reflexion auf dieses rückläufige Moment nicht in sich auf, so besiegelt sie ihr eigenes Schicksal." (S. 3)

Max Horkheimer und Theodor W. Adorno

Dialektik der Aufklärung
Philosophische Fragmente
(1944)

Frankfurt a.M.: S. Fischer 1986 (1969)

Der Schritt der Aufklärung besteht jeweils darin, das historisch Vorangegangene, das sich selber als aufgeklärt verstand, als Mythos oder Aberglaube zu entlarven. "Es gibt die Geister ja gar nicht, die Ihr in den Pflanzen und in den Tieren seht!" Insofern es diese Geister wirklich nicht gibt, hat die Aufklärung recht; insofern sie annimmt, dass man Pflanzen und Tiere jetzt vollständig begriffen habe oder auf dem Wege dazu sei, sie vollständig zu begreifen, hat sie noch weniger recht als das Voraufgegangene, wofern darin das Unbegriffene offener lag. Aufklärung lässt mit jedem Schritt der Entlarvung des Vormaligen als Mythos - und schon der Mythos war Aufklärung, der dann in Mythos verkehrt wurde - inklusive des damit einhergehenden Anwachsens der praktischen Naturbeherrschung den Schein anwachsen, alles verstehen und beherrschen zu können. Darin aber liegt ihr Irrtum und deshalb entfernt sie sich nicht - wie sie vermeint - vom Mythos, sondern verstrickt sich nur noch stärker in ihn. Alles wird von Systemen und formaler Vernunft überzogen, dabei all das tabuisierend, was darin respektive was für die angestrebte Naturbeherrschung als unerheblich angesehen wird. Aufklärung macht blind, blind fürs Nichtidentische am je einzelnen, am je anderen, an Natur. Hierin liegt ihr rückläufiges Moment.

"(D)ie Ursache des Rückfalls von Aufklärung in Mythologie (ist) nicht so sehr bei den eigens zum Zweck des Rückfalls ersonnenenen nationalistischen, heidnischen und sonstigen modernen Mythologien zu suchen, sondern bei der in Furcht vor der Wahrheit erstarrenden Aufklärung selber." (S. 3f.) Und die Wahrheit läge genau in jenem rückläufigen Moment von Aufklärung selber, der anwachsenden Blindheit dem Nichtidentischen gegenüber.

So ist auch in der heutigen Zeit zu beobachten, wie durchaus kritische Menschen sich auf jene nationalistischen, heidnischen und sonstigen modernen Mythologien einschiessen, sie sich auch mit aller Vehemenz gegen historisch Überkommenes wenden, ohne dabei den gesellschaftlich höchsten Stand von Aufklärung - der jenen in der "Dialektik der Aufklärung" konstatierten Rückfall genau in sich trägt - auch nur im mindesten in Frage zu stellen. Der sich am wenigsten zurückgeblieben Dünkende vermeint am allermeisten, die Anstrengung des Denkens nicht mehr auf sich nehmen zu müssen, da er es eben immer schon weiss, er es den anderen voraus hat. Und natürlich "hat" er auch die "Dialektik der Aufklärung" längst schon, schaut mitleidig auf jene herab, denen es nicht gelingen mag, sie in einem Kanon festen Wissens zu verankern.

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"War die respektable Bildung bis zum neunzehnten Jahrhundert ein Privileg, bezahlt mit gesteigerten Leiden der Bildungslosen, so ist im zwanzigsten der hygienische Fabrikraum durch Einschmelzen alles Kulturellen im gigantischen Tiegel erkauft." (S. 5)