K05 | Eine zeittypisch reaktionäre Verkehrung von Dürrenmatt Zur ARD-Verfilmung von "Der Besuch der alten Dame" 8. Januar 2011 |
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Am 5. Januar 2011 wäre Friedrich Dürrenmatt 90 Jahre alt geworden.
Am 27. Dezember 2010 zeigte die ARD eine Wiederholung der Fernseh-Verfilmung der tragischen Komödie von Friedrich Dürrenmatt: "Der Besuch der alten Dame". |
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Vor über 45 Jahren lieben sich die jungen Alfred Ill und Klara Wäscher in Güllen. Klara Wäscher wird von Ill schwanger, Ill bestreitet seine Vaterschaft und besticht zwei Männer (Jakob Hühnlein und Ludwig Sparr) mit einer Flasche Schnaps, vor Gericht auszusagen, sie hätten mit Klara geschlafen. Die von Klara Wäscher gegen Alfred Ill angestrengte Vaterschaftsklage wird vom Gericht abgewiesen. Ill heiratet eine andere reichere Frau aus Güllen. |
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Friedrich Dürrenmatt Der Besuch der alten Dame (1956) |
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Klara Wäscher verlässt Güllen, landet in einem Hamburger Bordell, wo sie vom alten Zachanassian, einem schwerreichen Mann gefunden und geheiratet wird. Klara Wäscher erbt den Besitz von Zachanassian, nennt sich Claire Zachanassian. Sie überlebt einen Autounfall sowie - als einzige - einen Flugzeugabsturz. Vieles an ihr ist Prothese. Claire Zachanassian holt zwei Schwerverbrecher aus Sing-Sing und macht diese zu ihren Leibwächtern (Toby und Roby). Sie lässt Jakob Hühnlein und Ludwig Sparr aufspüren. Die beiden werden von Toby und Roby geblendet und kastriert. Claire Zachanassian führt sie als Koby und Loby mit sich. Sie kauft ohne Wissen der Güllener die ganzen Betriebe von Güllen auf und legt sie still. Sie sorgt dafür, dass Güllen der bittersten Armut verfällt. Nach 45 Jahren kehrt Claire Zachanassian als reichste Frau der Welt wieder nach Güllen zurück. Sie verspricht Güllen eine Milliarde und fordert dafür den Tod von Alfred Ill. Die Güllener wehren sich gegen die Forderung, stellen sich vor Alfred Ill, tätigen aber bereits auf Kredit Einkäufe - plötzlich tragen alle gelbe Schuhe -, zunächst in der Hoffnung, die Sache liesse sich anders lösen. Wie sie realisieren, dass Claire Zachanassian alle Betriebe besitzt, es keine Chance gibt, aus eigener Kraft aus der Armut herauszukommen, erfüllen sie Zachanassians Forderung. Sie töten Alfred Ill. Ill realisiert im Verlauf des Prozesses gegen ihn, wie ihm geschieht, geht entsprechend mutig in den Tod. |
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In der Verfilmung erscheint Claire Zachanassian ohne die beiden geblendeten und kastrierten Toby und Roby. Die körperlichen Beschwerden der Claire Zachanassian werden auf eine zusätzliche Schuld von Alfred Ill zurück geführt. Ill habe damals betrunken einen Autounfall gebaut und die schwer verletzte Mitfahrerin Klara Wäscher beim Auto liegen gelassen. In der Folge wird die Zachanassian als Frau dargestellt, die ihre Unfallfolgen - es ist von Lähmungen die Rede - "durch hartes Training" überwunden habe. | |||||
Fernsehfilm "Der Besuch der alten Dame" Erstausstrahlung : 13.10.2008, 20.15 (ARD) Regie: Nikolaus Leytner |
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Ebenfalls stückwidrig wird eine Journalistin mit zentraler Rolle eingeführt. Sie entpuppt sich als Tochter von Alfred Ill und seiner Frau und musste Güllen vor nicht allzu langer Zeit verlassen, weil sie sich gegen den Willen des Vaters in einen arbeitslosen jungen Mann verliebte. Die Journalistin kehrt parallel zum Erscheinen von Claire Zachanassian in Güllen auf, um als Journalistin fürs Fernsehen über den Besuch der Zachanassian zu berichten. Die junge Frau soll dem Publikum als Identifikationsfigur dienen; sie spielt die scheinbar neutrale moralische Instanz, die einerseits gegen die Forderung der Zachanassian antritt, andererseits dann aber - folgerichtig in der Sicht der Verfilmung - Verständnis für die "Gerechtigkeit" der Zachanassian signalisiert, sich dann fast wie deren Tochter gibt (u.a. mittels der Analogie: beide Frauen mussten Güllen wegen Ill verlassen).
Im Vergleich zu Dürrenmatts Stück steigert die Verfilmung auf die eine Seite hin die Schuld von Alfred Ill, mindert auf die andere Seite hin die Verbrechen von Claire Zachanassian. Gemäss Verfilmung bestritt Alfred Ill nicht nur seine Vaterschaft und verführte zwei Männer zu einem Meineid, er fuhr zudem betrunken Auto (heute würde er "Raser" genannt), liess seine schwer verletzte Mitfahrerin im Stich (behauptete gar, Klara wäre gefahren), verbot seiner Tochter deren Beziehung zu einem arbeitslosen Mann. Auf der anderen Seite kämpfte sich Claire Zachanassian - der Verfilmung gemäss - ins Leben zurück, besiegte mit eisernem Willen ihre von Ill verschuldeten psychischen und physischen Verletzungen. Das Verbrechen, das Claire Zachanassian im Namen der Gerechtigkeit fordert, wird im Film als gerecht vorgestellt. Claire Zachanassian schwadroniert nicht einfach von Gerechtigkeit, sie stellt im Film die Gerechtigkeit dar. Die Verfilmung widerspiegelt den Trend der Gegenwart, schuldhaftes Vergehen aufzublasen, um es umso besser mit "gerechten" drakonischen Strafen sühnen zu können. Ein reaktionärer Film. |
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Ein paar Sätze aus den Anmerkungen von Friedrich Dürrenmatt zu seinem Stück: "Der Besuch der alten Dame": "Ich beschreibe Menschen, nicht Marionetten, eine Handlung, nicht eine Allegorie, stelle eine Welt auf, keine Moral, wie man mir bisweilen andichtet, ja ich suche nicht einmal, mein Stück mit der Welt zu konfrontieren, weil sich all dies natürlicherweise von selbst einstellt, solange zum Theater auch das Publikum gehört. (...) Man bleibe bei meinen Einfällen und lasse den Tiefsinn fahren (...) Claire Zachanassian stellt weder die Gerechtigkeit dar noch den Marshallplan oder gar die Apokalypse, sie sei nur das, was sie ist, die reichste Frau der Welt, durch ihr Vermögen in der Lage, wie eine Heldin der griechischen Tragödie zu handeln, absolut, grausam, wie Medea etwa. Sie kann es sich leisten. (...) Ist Claire Zachanassian unbewegt, eine Heldin, von Anfang an, wird ihr alter Geliebter erst zum Helden. Ein verschmierter Krämer, fällt er zu Beginn ahnungslos zum Opfer, schuldig, ist der Meinung, das Leben hätte von selber alle Schuld getilgt, ein gedankenloses Mannsbild, ein einfacher Mann, dem langsam etwas aufgeht, durch Furcht, durch Entsetzen, etwas höchst Persönliches, der an sich die Gerechtigkeit erlebt, weil er seine Schuld erkennt, der gross wird durch sein Sterben (sein Tod ermangle nicht einer gewissen Monumentalität). Sein Tod ist sinnvoll und sinnlos zugleich. Sinnvoll allein wäre er im mythischen Reich einer antiken Polis, nun spielt sich die Geschichte in Güllen ab. (...) Die alte Dame ist ein böses Stück, doch gerade deshalb darf es nicht böse, sondern aufs humanste wiedergegeben werden, mit Trauer, nicht mit Zorn, doch auch mit Humor, denn nichts schadet dieser Komödie, die tragisch endet, mehr als tierischer Ernst." (In: Friedrich Dürrenmatt: Komödien I. Buchclub Ex Libris Zürich, 1974: S. 347ff.) |
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"Der Besuch der alten Dame" Studio-Adaption 1959 8.1.2011, 20.15 (3sat) Regie: Ludwig Cremer |
Nachtrag vom 8.1.2011: An diesem Samstagabend zeigt 3sat eine Studioadaption der "alten Dame" aus dem Jahr 1959. Ganz ausgezeichnet. Es wäre vieles herauszustreichen, die Entwicklung, die Alfred Ill durchmacht, die Starre der Zachanassian, die Selbsttäuschung der Güllener ... |
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