K06 Uniformierung vermittels "Pluralismus" und "Individualisierung"
Zur Schrift von Stefan Zenklusen: "Abschied von der These der 'pluralsten' aller Welten"

15. Januar 2011

Hier finden Sie die Replik von Stefan Zenklusen vom 18. Januar 2011 auf den vorliegenden Kommentar: Replik Zenklusen pdf-Datei 86 KB

Seit den 1980er Jahren setzte sich die Vorstellung, die westlichen Gesellschaften hätten pluralistische und individualisierte Lebens- und Arbeitsformen hervorgebracht, immer mehr durch. Damit verband sich der Glaube, die oder der Einzelne könne sich in der bestehenden Gesellschaft freier denn je entfalten, habe keiner Ideologie mehr zu folgen, könne sich sein Leben eigenständig gestalten.

In seiner Schrift nimmt Stefan Zenklusen "Abschied" von dieser - wie der Autor sie nennt - "These der 'pluralsten' aller Welten". Dazu kritisiert er wissensreich die Arbeiten verschiedener Vertreter der "These" (an erster Stelle die einschlägigen Werke der Soziologen Ulrich Beck und Zygmunt Bauman) und zeigt auf, wie tendenziös einerseits, widersprüchlich andererseits die Vertreter der "These" argumentieren.

Stefan Zenklusen

Abschied von der These der "pluralsten" aller Welten
Wissenschaftlicher Verlag Berlin

(2007)

Zenklusen erweist die von ihm kritisierten Autoren als - wie es wohl am treffendsten zu bezeichnen wäre - philosophiefremd. Er legt sie dar als unfähig oder auch unwillens, das, was allgemein "im Trend liegt" - eben etwa Pluralität, Individualität, Ideologiefreiheit usw. - daraufhin zu hinterfragen, ob es wirklich das ist, als was es erscheint. Zenklusen legt es dar in einem wissenschaftlichen Essay von 81 Seiten, das im Wechsel der Argumente ein grosses Tempo aufweist, in einem Zug vorgelegt, ohne Innehalten, ohne explizierte Struktur, ohne jeden Zwischentitel und dementsprechend ohne Inhaltsverzeichnis. Der rote Faden ist einzig die zu kritisierende "These" der pluralsten aller Welten (wobei dieser rote Faden zwischendurch und vor allem gegen Schluss etwas verloren geht). Als Philosoph stellt Zenklusen - emphatisch gesagt - die Wahrheitsfrage: Stimmt die "These" oder stimmt sie nicht? Seine Antwort ist negativ und entsprechend sei die "These" zu verabschieden.

Zenklusens Antwort ist wahr insofern, als die "These" die in Wirklichkeit vonstatten gehende Uniformierung der Menschen verschleiert (vgl. dazu nachstehend). Seine Antwort ist falsch insofern, als die "These" als Ideologie nicht nur in den Köpfen der kritisierten Autoren, sondern in den Köpfen sehr vieler Menschen drin ist und also eine reale gesellschaftliche Kraft darstellt. Als Falsches ist sie. Und davon kann man sich nicht verabschieden.

Schade ist, dass Zenklusen die kritisierte "These" unter dem Aspekt gesellschaftlicher Ideologie nicht untersucht. Die Frage von Ideologie und Ideologisierung wird im Essay nicht behandelt. In der Folge bleibt Zenklusen zu sehr auf die kritisierten Autoren fixiert. Er kommt nicht recht über sie - die zudem in rascher Folge wechseln - und auch nicht recht über die vorgebrachten empirischen Beispiele hinaus. Gleichzeitig hält er nie inne, tritt nie - bildlich gesprochen - zwei, drei Schritte zurück, um seine Einsichten zur "These" aus grösserer Distanz zu reflektieren.

Hätte Zenklusen die kritisierten Autoren verstärkt als blosse Produzenten respektive Reproduzenten einer der Globalisierung des Kapitals dienlichen Ideologie aufgefasst, hätte er weit ruhiger und souveräner argumentieren können. Es wäre nicht nötig geworden, sich mit den kritisierten Autoren ständig in rhetorische Zweikämpfe zu verwickeln, Zweikämpfe zudem, die zumeist sehr kurz gehalten und für die Leserinnen und Leser dementsprechend nicht immer leicht nachvollziehbar sind. Es kennen nicht alle das, was Zenklusen kennt.
Manchmal kriegt man beim Lesen gar das Gefühl, es gehe Zenklusen weniger um die Leserinnen und Leser als vielmehr darum, die kritisierten Autoren an Rhetorik zu überbieten: Worthülsen gegen Worthülsen. Der Sache selbst ist das nicht förderlich.

"Wer denkt, ist in aller Kritik nicht wütend: Denken hat die Wut sublimiert."

(Theodor W. Adorno)

Hätte Zenklusen die "These" als Ideologie gedeutet, hätte er daran direkt mit der Frage anschliessen können, welche Funktion die Ideologie gesellschaftlich erfüllt. Es ginge dann primär um sie und nur sekundär um Ulrich Beck oder Zygmunt Bauman und all die anderen, und auch nur sekundär um "Etikettentrinker" (Wein) oder "Anglotumbdeutsch" (englisch im deutsch). All das ist auch wichtig, aber nur als Epiphänomen. Als solches wäre das Unmittelbare zu deuten, nicht darüber sich empören, wenn die Leute ihm erliegen. Wer erliegt ihm schon nicht?

Es wäre explizit darauf hinzuweisen - und das schimmert im Essay von Zenklusen lediglich durch -, dass die Menschen vermittels der Ideologie von "Pluralismus" und "Individualisierung" uniform gemacht werden, und zwar im Sinne der Imperative des globalisierten Kapitals. Es ginge um das von Ulrich Beck so bezeichnete, bei ihm aber unbegriffene "Markt-Individuum". Durch den alltäglich vermittelten Schein des Pluralen und Individuellen wird dessen Gegenteil bewirkt: Uniformierung zum "Markt-Individuum". Dazu einige wenige Stichworte, die den Ausführungen von Zenklusen nicht widersprechen, die aber ein anderes, ideologiekritisches Licht auf die Sache werfen.

Der Konsumismus beinhaltet die reale Möglichkeit, dass die Menschen aus einer sehr breiten Palette von Waren auswählen und die ausgewählten Waren für sich zusammen stellen können. Noch die untersten Schichten der Bevölkerung können zwischen sehr vielen "Programmen" (Fernsehen; Internet) wählen. Die Dimension des Konsums bestimmt die Freizeit, verdrängt damit aber andere Möglichkeiten freier Zeit. Die scheinbar breite Welt des Konsums ist im Verhältnis zu diesen anderen Möglichkeiten des Nicht-Konsums äusserst schmal, erscheint den Menschen aber äusserst breit. Das dürfte damit zusammen hängen, dass die Möglichkeiten freier Zeit aus der allgemeinen Sicht verdrängt sind. So werden die Menschen - ohne dass sie es angesichts des scheinbaren Pluralismus merken - in die in Wirklichkeit sehr schmale Welt des Konsums gezwängt. Sie werden - vermittels der Ideologie von Pluralismus und Individualisierung - zu KonsumentInnen uniformiert. Hier wäre u.a. auf Herbert Marcuse und dessen "Eindimensionalen Menschen" - man beachte den Begriff - zu verweisen. Bei Marcuse findet sich auch die Unterscheidung von Freizeit und freier Zeit.

Die Arbeitswelt erscheint als äusserst flexibel und individualisiert. Jede und jeder kann scheinbar jederzeit die Stelle wechseln, und gleichzeitig sind die Hierarchien innerhalb der Betriebe flacher geworden, der individuelle Spielraum des Einzelnen scheinbar grösser. Dank solcher scheinbaren Pluralisierung und Individualisierung können die Imperative des Kapitals - möglichst viel Gewinn für das Unternehmen generieren; auch unbezahlt Überstunden leisten; Mitarbeitende mobben, die zu wenig stromlinienförmig denken usw. - nur umso besser und stärker in die Köpfe der Mitarbeitenden eingepflanzt werden. Aus Kapitalsicht nämlich sind diejenigen Mitarbeitenden die besten, die alles fürs Unternehmen tun, dabei aber glauben, es aus freien und selbstbestimmten Stücken zu tun; ohne Vorarbeiter und ohne Stechuhr. Das meint heute Effizienz. Dabei sind diese Mitarbeitenden weit uniformierter als jene, die früher ständig via Vorarbeiter und Stechuhr kontrolliert werden mussten. Sie haben die kapitalen Imperative internalisiert, merken es dank der Ideologie von Pluralismus und Individualisierung aber nicht einmal mehr. Ansatzweise findet sich solches beschrieben u.a. im "flexiblen Menschen" von Richard Sennett oder im "Arbeitskraftunternehmer" von Günter G. Voss und Hans J. Pongratz.

Die freie Zeit wird im Zeichen der Globalisierung des Kapitals als gesellschaftliches Grundproblem dargestellt, entsprechend wahrgenommen, verfemt. Wer nicht flexibel arbeitet oder konsumiert, wer also genau anders und individuell zu leben versucht (wie weit dies heutzutage überhaupt gehen kann, ist eine andere Frage), gerät rasch unter Verdacht. Clochards werden weggewiesen oder gar in Haft genommen; Langzeiterwerbslose in Beschäftigungsprogramme gesteckt; vom Weg Abweichende sofort zu Recht gewiesen; frei sich Bildende als unqualifiziert ausgegrenzt. Auch an solchem zeigt sich, wie ideologisch die Rede von Pluralismus und Individualisierung ist.