K18
"Der Schlag ans Hoftor" von Franz Kafka / Zu Kafkas immanenter Kritik der verwalteten Welt

9. April 2011

Die Erzählungen von Franz Kafka (1883 - 1924) wären aufzufassen als eine immanente Kritik der verwalteten Welt. Welche Momente zu dieser Welt gehören, kann in diesem Kommentar bestenfalls angedeutet werden. Doch lässt sich sagen, dass sie sehr viel weiter gehen respektive - auf das Individuum bezogen - sehr viel weiter hinein gehen, als im Allgemeinen angenommen wird. Wenn einer das zeigt, dann ist es Kafka.

Die verwaltete Welt wurde von den Menschen zwar selber als solche erschaffen, doch versetzten sie sich damit im Gleichen dermassen in die Abhängigkeit von eben dieser selbst erschaffenen Welt, dass sie ihr in der Folge auf Gedeih und Verderb ausgeliefert waren. Die Menschen werden von ihr gleichsam vor sich her geschoben und je nach dem in geschützter Abhängigkeit gehalten oder zerstört.

Wenn es zutreffend ist, dass in der verwalteten Welt die Menschen zum einen keinen Einfluss mehr auf sie haben, zum andern völlig abhängig von ihr sind und sie entsprechend weiter erhalten müssen, wäre sie zu beschreiben als zweite Natur. Die Menschen wären den Gesetzen der verwalteten Welt dann analog wie einst denen der ersten Natur ausgeliefert, ohne noch grundlegend etwas dazu tun oder ihnen ausweichen zu können. Sie haben mitzuspielen. Der von Kafka geprägte Begriff des Naturtheaters bringt es auf den Punkt (vgl. Kafkas Erzählung: "Das Naturtheater von Oklahoma"). Ins Naturtheater können alle eintreten als Schauspieler, und sie werden eingeteilt nach ihren Berufen oder dem, was sie zu können angeben. Es ist ihre letzte Zuflucht innerhalb der total verwalteten Welt, sozusagen deren Innerstes oder auch Äusserstes, wo die Menschen nur noch eine Rolle spielen. Im Naturtheater kann es vielleicht auch geschehen (was im "Naturtheater von Oklahoma" nicht vorkommt), dass der Mensch sich in ein Tier verwandelt. In Kafkas Erzählung "Die Verwandlung" heisst es von Gregor Samsa, der am Morgen als ungeheures Ungeziefer aufwacht: "Es war eine Kreatur des Chefs, ohne Rückgrat und Verstand".

Zu fragen wäre: Liesse sich nicht doch eine verwaltete Welt vorstellen, die die Menschen zwar in Abhängigkeit hält, sie gleichzeitig aber alle schützt, das heisst keinen einzigen zu Fall bringt? In der Frage ist die von den Menschen allgemein an die verwaltete Welt gerichtete Hoffnung enthalten, die nach Menschlichkeit oder bestenfalls Gerechtigkeit: "Sie hatte den Schlag wahrscheinlich gar nicht getan, und hätte sie ihn getan, so wird deswegen nirgends auf der Welt ein Beweis geführt." (aus Kafkas Erzählung: "Der Schlag ans Hoftor"; vgl. oben). Der Beweis wird dann aber doch geführt. Die Hoffnung wird enttäuscht.

Bei Kafka wird die Hoffnung immer sofort konterkariert, so auch im "Schlag ans Hoftor", wo die Dorfbevölkerung vom angeblichen "Schlag" schon weiss und warnt, und der scheinbar selbstsichere Ich-Erzähler doch auch ängstlich zum Hof zurückschaut. Prägnant steht es formuliert auch zu Beginn von Kafkas Roman "Der Prozess" (vgl. den Text links), wo auch die Nachbarin von vis-à-vis schon alles zu wissen scheint, noch bevor die Wächter ins Zimmer von K. treten. Die unerbittliche Logik der verwalteten Welt wird von allem Anfang an spürbar, und jene Hoffnung scheint als Moment nicht mehr als dazu zu gehören.

Die Hoffnung auf die "gute" verwaltete Welt ist deshalb Täuschung, weil die Abhängigkeit von ihr dem menschlichen Leben als einem weltoffenen und unabhängigen grundsätzlich widerspricht. Es hat mit dem Kantischen Begriff von Aufklärung zu tun, mit dem Mut, sich des eigenen Verstandes ohne Leitung eines andern zu bedienen (vgl. Kommentar K17). Die verwaltete Welt der Konzerne, Ämter, Schulen, Familien, Vereinen, Kirchen, Verbänden, Gewerkschaften, Parteien steht diesem Mut diametral entgegen. Der Mut aber meldet sich - gleichsam aus erster Natur - beständig an und stellt die Logik der Welt in Frage, von der die Menschen abhängen.

Umso mehr geht die verwaltete Welt gegen ihn vor, auch sogenannt präventiv noch dort, wo er sich gar nicht zeigt, das heisst im Grunde überall. Und die Menschen mit ihrer internalisierten zweiten Natur machen dabei mit, bis sie entweder zum Kadaver mutiert oder selber zum Opfer geworden sind.

Am Schluss vom "Prozess" (vgl. Text unten) findet sich der folgende Satz, formuliert von K., kurz vor seiner Hinrichtung: "Die Logik ist zwar unerschütterlich, aber einem Menschen, der leben will, widersteht sie nicht." K. irrt, die Logik widersteht ihm. Die Logik selber ist das Problem.