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"Der Schlag ans Hoftor" von Franz Kafka / Zu Kafkas immanenter Kritik der verwalteten Welt
9. April 2011 |
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Franz Kafka Der Schlag ans Hoftor Es war im Sommer, ein heißer Tag. Ich kam auf dem Nachhauseweg mit meiner Schwester an einem Hoftor vorüber. Ich weiß nicht, schlug sie aus Mutwillen ans Tor oder aus Zerstreutheit oder drohte sie nur mit der Faust und schlug gar nicht. Hundert Schritte weiter an der nach links sich wendenden Landstraße begann das Dorf. Wir kannten es nicht, aber gleich nach dem ersten Haus kamen Leute hervor und winkten uns, freundschaftlich oder warnend, selbst erschrocken, gebückt vor Schrecken. Sie zeigten nach dem Hof, an dem wir vorübergekommen waren, und erinnerten uns an den Schlag ans Tor. Die Hofbesitzer werden uns verklagen, gleich werde die Untersuchung beginnen. Ich war sehr ruhig und beruhigte auch meine Schwester. Sie hatte den Schlag wahrscheinlich gar nicht getan, und hätte sie ihn getan, so wird deswegen nirgends auf der Welt ein Beweis geführt. Ich suchte das auch den Leuten um uns begreiflich zu machen, sie hörten mich an, enthielten sich aber eines Urteils. Später sagten sie, nicht nur meine Schwester, auch ich als Bruder werde angeklagt werden. Ich nickte lächelnd. Alle blickten wir zum Hofe zurück, wie man eine ferne Rauchwolke beobachtet und auf die Flamme wartet. Und wirklich, bald sahen wir Reiter ins weit offene Tor einreiten. Staub erhob sich, verhüllte alles, nur die Spitzen der hohen Lanzen blinkten. Und kaum war die Truppe im Hof verschwunde, schien sie gleich die Pferde gewendet zu haben und war auf dem Wege zu uns. Ich drängte meine Schwester fort, ich werde alles allein ins reine bringen. Sie weigerte sich, mich allein zu lassen. Ich sagte, sie solle sich aber wenigstens umkleiden, um in einem besseren Kleid vor die Herren zu treten. Endlich folgte sie und machte sich auf den langen Weg nach Hause. Schon waren die Reiter bei uns, noch von den Pferden herab fragten sie nach meiner Schwester. Sie ist augenblicklich nicht hier, wurde ängstlich geantwortet, werde aber später kommen. Die Antwort wurde fast gleichgültig aufgenommen; wichtig schien vor allem, dass sie mich gefunden hatten. Es waren hauptsächlich zwei Herren, der Richter, ein junger, lebhafter Mann, und sein stiller Gehilfe, der Aßmann genannt wurde. Ich wurde aufgefordert in die Bauernstube einzutreten. Langsam, den Kopf wiegend, an den Hosenträgern rückend, setzte ich mich unter den scharfen Blicken der Herren in Gang. Noch glaubte ich fast, ein Wort werde genügen, um mich, den Städter, sogar noch unter Ehren, aus diesem Bauernvolk zu befreien. Aber als ich die Schwelle der Stube überschritten hatte, sagte der Richter, der vorgesprungen war und mich schon erwartete: "Dieser Mann tut mir leid." Es war aber über allem Zweifel, dass er damit nicht meinen gegenwärtigen Zustand meinte, sondern das, was mit mir geschehen würde. Die Stube sah einer Gefängniszelle ähnlicher als einer Bauernstube. Große Steinfliesen, dunkel, ganz kahle Wände, irgendwo eingemauert ein eiserner Ring, in der Mitte etwas, das halb Pritsche, halb Operationstisch war. (entstanden im März/April 1917) |
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Die Erzählungen von Franz Kafka (1883 - 1924) wären aufzufassen als eine immanente Kritik der verwalteten Welt. Welche Momente zu dieser Welt gehören, kann in diesem Kommentar bestenfalls angedeutet werden. Doch lässt sich sagen, dass sie sehr viel weiter gehen respektive - auf das Individuum bezogen - sehr viel weiter hinein gehen, als im Allgemeinen angenommen wird. Wenn einer das zeigt, dann ist es Kafka. Die verwaltete Welt wurde von den Menschen zwar selber als solche erschaffen, doch versetzten sie sich damit im Gleichen dermassen in die Abhängigkeit von eben dieser selbst erschaffenen Welt, dass sie ihr in der Folge auf Gedeih und Verderb ausgeliefert waren. Die Menschen werden von ihr gleichsam vor sich her geschoben und je nach dem in geschützter Abhängigkeit gehalten oder zerstört. Wenn es zutreffend ist, dass in der verwalteten Welt die Menschen zum einen keinen Einfluss mehr auf sie haben, zum andern völlig abhängig von ihr sind und sie entsprechend weiter erhalten müssen, wäre sie zu beschreiben als zweite Natur. Die Menschen wären den Gesetzen der verwalteten Welt dann analog wie einst denen der ersten Natur ausgeliefert, ohne noch grundlegend etwas dazu tun oder ihnen ausweichen zu können. Sie haben mitzuspielen. Der von Kafka geprägte Begriff des Naturtheaters bringt es auf den Punkt (vgl. Kafkas Erzählung: "Das Naturtheater von Oklahoma"). Ins Naturtheater können alle eintreten als Schauspieler, und sie werden eingeteilt nach ihren Berufen oder dem, was sie zu können angeben. Es ist ihre letzte Zuflucht innerhalb der total verwalteten Welt, sozusagen deren Innerstes oder auch Äusserstes, wo die Menschen nur noch eine Rolle spielen. Im Naturtheater kann es vielleicht auch geschehen (was im "Naturtheater von Oklahoma" nicht vorkommt), dass der Mensch sich in ein Tier verwandelt. In Kafkas Erzählung "Die Verwandlung" heisst es von Gregor Samsa, der am Morgen als ungeheures Ungeziefer aufwacht: "Es war eine Kreatur des Chefs, ohne Rückgrat und Verstand". |
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Zu fragen wäre: Liesse sich nicht doch eine verwaltete Welt vorstellen, die die Menschen zwar in Abhängigkeit hält, sie gleichzeitig aber alle schützt, das heisst keinen einzigen zu Fall bringt? In der Frage ist die von den Menschen allgemein an die verwaltete Welt gerichtete Hoffnung enthalten, die nach Menschlichkeit oder bestenfalls Gerechtigkeit: "Sie hatte den Schlag wahrscheinlich gar nicht getan, und hätte sie ihn getan, so wird deswegen nirgends auf der Welt ein Beweis geführt." (aus Kafkas Erzählung: "Der Schlag ans Hoftor"; vgl. oben). Der Beweis wird dann aber doch geführt. Die Hoffnung wird enttäuscht.
Bei Kafka wird die Hoffnung immer sofort konterkariert, so auch im "Schlag ans Hoftor", wo die Dorfbevölkerung vom angeblichen "Schlag" schon weiss und warnt, und der scheinbar selbstsichere Ich-Erzähler doch auch ängstlich zum Hof zurückschaut. Prägnant steht es formuliert auch zu Beginn von Kafkas Roman "Der Prozess" (vgl. den Text links), wo auch die Nachbarin von vis-à-vis schon alles zu wissen scheint, noch bevor die Wächter ins Zimmer von K. treten. Die unerbittliche Logik der verwalteten Welt wird von allem Anfang an spürbar, und jene Hoffnung scheint als Moment nicht mehr als dazu zu gehören. |
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Franz Kafka
Die ersten Sätze aus dem Roman "Der Prozeß" Jemand mußte Josef K. verleumdet haben, denn ohne daß er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet. Die Köchin der Frau Grubach, seiner Zimmervermieterin, die ihm jeden Tag gegen acht Uhr das Frühstück brachte, kam diesmal nicht. Das war noch niemals geschehen. K. wartete noch ein Weilchen, sah von seinem Kopfkissen aus die alte Frau, die ihm gegenüber wohnte und die ihn mit einer an ihr ganz ungewöhnlichen Neugier beobachtete, dann aber, gleichzeitig befremdet und hungrig, läutete er. Sofort klopfte es und ein Mann, den er in dieser Wohnung noch niemals gesehen hatte, trat ein. (aus Kafkas Nachlass erschienen; der grösste Teil geschrieben vermutlich 1914) |
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Die Hoffnung auf die "gute" verwaltete Welt ist deshalb Täuschung, weil die Abhängigkeit von ihr dem menschlichen Leben als einem weltoffenen und unabhängigen grundsätzlich widerspricht. Es hat mit dem Kantischen Begriff von Aufklärung zu tun, mit dem Mut, sich des eigenen Verstandes ohne Leitung eines andern zu bedienen (vgl. Kommentar K17). Die verwaltete Welt der Konzerne, Ämter, Schulen, Familien, Vereinen, Kirchen, Verbänden, Gewerkschaften, Parteien steht diesem Mut diametral entgegen. Der Mut aber meldet sich - gleichsam aus erster Natur - beständig an und stellt die Logik der Welt in Frage, von der die Menschen abhängen. Umso mehr geht die verwaltete Welt gegen ihn vor, auch sogenannt präventiv noch dort, wo er sich gar nicht zeigt, das heisst im Grunde überall. Und die Menschen mit ihrer internalisierten zweiten Natur machen dabei mit, bis sie entweder zum Kadaver mutiert oder selber zum Opfer geworden sind. Am Schluss vom "Prozess" (vgl. Text unten) findet sich der folgende Satz, formuliert von K., kurz vor seiner Hinrichtung: "Die Logik ist zwar unerschütterlich, aber einem Menschen, der leben will, widersteht sie nicht." K. irrt, die Logik widersteht ihm. Die Logik selber ist das Problem. |
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Franz Kafka
Die letzten Sätze aus dem Roman "Der Prozeß" Seine Blicke fielen auf das letzte Stockwerk des an den Steinbruch grenzenden Hauses. Wie ein Licht aufzuckt, so fuhren die Fensterflügel eines Fensters dort auseinander, ein Mensch, schwach und dünn in der Ferne und Höhe, beugte sich mit einem Ruck weit vor und streckte die Arme noch weiter aus. Wer war es? Ein Freund? Ein guter Mensch? Einer, der teilnahm? Einer, der helfen wollte? War es ein einzelner? Waren es alle? War noch Hilfe? Gab es Einwände, die man vergessen hatte? Gewiss gab es solche. Die Logik ist zwar unerschütterlich, aber einem Menschen, der leben will, widersteht sie nicht. Wo war der Richter, den er nie gesehen hatte? Wo war das hohe Gericht, bis zu dem er nie gekommen war? Er hob die Hände und spreizte alle Finger. (aus Kafkas Nachlass erschienen; der grösste Teil geschrieben vermutlich 1914) |
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