K20
"Es kommt alles auf den Menschen an" - Zur Problematik eines immer wieder zu hörenden Satzes

23. April 2011

In Diskussionen wird immer wieder gerne - im Singular - vom Menschen gesprochen und behauptet, dass alles auf den Menschen ankomme. Ganz analog wird das "Menschenbild" bemüht und dazu die These formuliert, dass je nach dem, welches "Menschenbild" man habe, auch ein anderes Bild der Gesellschaft resultiere. So setze beispielsweise die Einführung eines garantierten Grundeinkommens ein sogenannt "positives Menschenbild" insofern voraus, als damit gerechnet werde, dass "der Mensch" mit einem solchen Grundeinkommen umgehen, sich mithin positiv verhalten könne. Umgekehrt habe das Setzen von monetären Anreizen und also der Verzicht auf ein solches Grundeinkommen ein "negatives Menschenbild" insofern zur Voraussetzung, als dabei damit gerechnet werde, dass "der Mensch" ohne Anreize nicht von selber aktiv oder in die falsche Richtung aktiv werde.

Eine solche vom "Menschen" aus geführte Argumentation ist in verschiedener Hinsicht problematisch. Darauf weist Theodor W. Adorno in einem Streitgespräch mit Arnold Gehlen hin. Dieses Streitgespräch führten die beiden im Jahr 1965 unter dem Titel: "Ist die Soziologie eine Wissenschaft vom Menschen?" In den Erläuterungen dieser Titelfrage tendiert Adorno zu einem Nein und Gehlen zu einem Ja.

Zunächst sind sich die beiden Kontrahenden darin einig, dass das Chrakteristische des Menschen - im Gegensatz zur Eingangs angesprochenen Auffassung - darin besteht, dass der Mensch sich gerade nicht festlegen lasse und dessen Charakeristikum genau darin bestehe, in den Möglichkeiten offen zu sein, und zwar sowohl in positiver als auch in negativer Hinsicht. Solche Offenheit unterscheide den Menschen in der Grundtendenz vom Tier, welches in seinen Verhaltensweisen durch natürliche Instinkte respektive Reaktionsweisen weitgehend festgelegt sei. Von solchem könne beim Menschen nun eben gerade nicht ausgegangen werden. Zu sagen was der Mensch sei, also von dem Menschen in einer bildhaft festgelegten Form zu sprechen, ist unmöglich, und darin zunächst also sind sich Adorno und Gehlen einig.

Dazu ist anzumerken - und auch darin sind sich die beiden Kontrahenden einig -, dass die Auffassung des Menschen, wonach dieser halt so sei, wie er sei und alles davon abhänge, insofern ideologischen Zwecken dient, als damit unmenschliche gesellschaftliche Verhältnisse ganz auf den Menschen, wie er von Natur halt sei, abgeschoben und verschleiert werden können. Adorno formuliert es dann gar so, "dass heute der Mensch die Ideologie für die Unmenschlichkeit sei" (S. 227).

Gehlen stimmt Adorno betreffend Unbestimmbarkeit des Menschen zwar zu, erklärt diese aber sogleich zu einem Grundproblem des Menschen selber insofern, als dieser durch sie beständig verunsichert werde. Diese Verunsicherung der Menschen sei - so Gehlen - infolge des technischen Fortschritts etwa im Kommunikationsbereich und dem dadurch verstärkten Aufeinandertreffen verschiedenster Lebensmöglichkeiten in der "One World" nochmals angewachsen. Entsprechend bedürfe es - so Gehlens Theorie - fester Institutionen, welche den Menschen einen klaren Halt gäben und auf diese Weise das Problem der Unbestimmtheit oder der Nichtfestgelegtheit des Menschen gleichsam ausbügelten. Gehlen betrachtet die Institution als Ersatz für die den Menschen fehlenden Instinkte. Zwar verkennt Gehlen nicht, dass die Institutionen - er nennt Recht, Ehe, Familie, Eigentum - für die Menschen auch belastend sein können, doch ist ihm deren Entlastungsfunktion das Grundlegende. So erklärt er die Unbestimmtheit des Menschen zu dessen natürlichen Wesensmerkmal, leitet daraus die Notwendigkeit der Entlastung vermittels Institutionen ab und betrachtet die Institutionen dementsprechend als "Wesensmerkmale des Menschen" (S. 244). Damit aber ist für ihn die Soziologie als eine die Institutionen untersuchende Wissenschaft hinwiederum doch eine Wissenschaft vom Menschen.

Im Gegensatz dazu wäre den Menschen nach Adorno ihre Unbestimmtheit genau zu belassen, da dank dieser die Möglichkeit einer autonomen Gestaltung des Lebens - wobei Adorno es im Gespräch nicht so formuliert - überhaupt erst in Betracht kommt, wie dann auch - um es mit Kant zu sagen - "der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit" (vgl. auch Kommentar K17). Tatsächlich haben für Adorno die von Gehlen als wesensnotwendig erachteten Institutionen eine derartige Übergewalt über die Menschen angenommen und sich gegenüber den Menschen in einer Weise verselbständigt, dass von jener in der Offenheit des Menschen liegenden Möglichkeit zur Autonomie auch in den scheinbar aufgeklärten Gesellschaften nicht die Rede sein kann. Wenn es aber zutreffend ist, dass die mit dem Begriff der Institution bezeichneten gesellschaftlichen Verhältnisse sich von den Menschen wesentlich abgekoppelt haben - und dem widerspricht nicht, dass die Menschen sich gezwungen sehen, sie zu reproduzieren -, dann ist die damit sich beschäftigende Soziologie gerade nicht eine Wissenschaft vom Menschen, sondern eben eine von jenen Verhältnissen. Und entsprechend ist die Soziologie für Adorno nicht eine Wissenschaft vom Menschen, sondern eine von den gesellschaftlichen Verhältnissen. Hier dann also widersprechen sich die Auffassungen von Gehlen und Adorno.

Selbstverständlich bedeutet Adornos Auffassung nicht, dass die Soziologie sich nicht auch mit dem einzelnen Menschen beschäftigt, doch unter den vorherrschenden gesellschaftlichen Bedingungen eben primär derart, dass die Menschen als von jenen Verhältnissen wesentlich geprägte aufgefasst werden. Diese Prägungen wären bis in deren innersten Regungen der Menschen hinein zu verfolgen. So gesehen müsste - überspitzt gesagt - noch die Psychologie als Soziologie betrieben werden, und in dieser Weise spricht die Soziologin Iva Sedlak bei ihrer Form der Beratung von Menschen, die mit psychischen Problemen konfrontiert sind, nicht von Psychotherapie oder Psychoanalyse, sondern von "Sozialanalyse": Das Seelische ist das Gesellschaftliche.

Die Differenz zwischen Gehlen und Adorno zeigt sich analog beim Begriff der Technik. Adorno weist darauf hin, dass die Technik als verlängerter Arm des Menschen wie eben der Mensch selbst unter den gegenwärtigen Bedingungen als von den gesellschaftlichen Verhältnissen bedingt zu betrachten seien, dass aber Begriffe wie der von Gehlen ins Gespräch eingeführte der "Industriekultur" genau dieses verschleiern, indem darin die Industrie oder die Technik als das Wesentliche gleichsam vorgeschoben wird. Parallel zum "Es kommt alles auf den Menschen an" wird dann entsprechend auch gesagt: "Es hängt alles an der Technik". Das Problem des vor die Verhältnisse der gesellschaftlichen Produktion gezogenen "technischen Schleiers" (Adorno, S. 237) liesse sich analog bei Begriffen wie "Industriegesellschaft", "Atomzeitalter", "Erdölzeitalter" et cetera zeigen. So sehr die Technik in den gesellschaftlichen Verhältnissen gründet und nicht umgekehrt, ist zu sagen, "dass die Kritik der Gesellschaft das ist, auf das es vielmehr ankommt, als etwa auf eine Kritik der Technik als Technik" (Adorno, S. 237). Das schliesst letzteres nicht aus (die Nutzung der Atomkraft ist beispielsweise immer auch als Technik zu kritisieren), doch wären immer primär und erst recht im Fall der Atomkraft die Verhältnisse, worin die Technik zur Anwendung kommt, zu kritisieren.

Adorno charakterisiert die Verhältnisse der gesellschaftlichen Produktion mit dem Begriff des universalen Tauschprinzips. Wo Gehlen vermeint, es komme zu einer Verunsicherung der Menschen infolge des technischen Fortschritts - Gehlen spricht hierbei von "Entformung" - und er umso mehr nach entlastenden Institutionen verlangt (Gehlen: "Da bin ich doch dafür, das man das, was an Institutionen da ist, nun auch - jetzt nehme ich das Wort -: konserviert." (Gehlen, S. 247)), sieht Adorno das universale Tauschprinzip am Werk, wodurch die Bedürfnisse der Menschen nivelliert oder eingeebnet werden. Gemäss Adorno sind es gerade die Institutionen als Vermittlungsinstanzen des Tauschprinzips, welche die Menschen im Gleichen im Würgegriff und in Scheinsicherheit halten. Er spricht dabei dann auch - in Anlehnung an die Psychoanalyse - von der "Identifizierung mit dem Angreifer". Die Menschen kommen nicht zum Eigenen und fürchten sich gleichzeitig wie wahnsinnig vor dem Rausfallen, sei es infolge einer Katastrophe oder des innergesellschaftlichen Überflüssiggemachtwerdens. Umso mehr krallen sie sich an die Institutionen, an die damit verbundenen Techniken und daran, dass der Mensch halt so sei und man nichts machen könne.