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Die Erzählung "Der Mensch erscheint im Holozän" von Max Frisch: Eine Naturgeschichte

7. Mai 2011

Der 74jährige Herr Geiser lebt als Rentner allein in seinem Haus im Tessin. Es kommen Gewitter und Regen, die über Tage oder Wochen anhalten: "Keine Nacht ohne Gewitter und Wolkenbruch" (11). Der Strom fällt aus, das Postauto fährt nicht ...

Die Erde gerät in Bewegung, aber Herr Geiser kann von seinem Haus aus nichts Genaueres feststellen: "Ein Feldstecher hilft in diesen Tagen überhaupt nichts, man schraubt hin und her, ohne irgendeinen Umriss zu finden, der sich verschärfen liesse; der Feldstecher verdichtet bloss den Nebel." (14) Wenigstens vor dem Haus kann er nachsehen: "Eine kleine Mauer im unteren Garten (Trockenmauer) ist eingestürzt: Geröll im Salat, Fladen von Lehm unter den Tomaten. Vielleicht ist es schon vor Tagen geschehen." (14) Kommt vielleicht der ganze Hang ins Rutschen?

Bei diesem Wetter kann Herr Geiser nicht viel tun: "Es bleibt nichts als Lesen." (16) Aber wofür soll man sich interessieren, wenn alles ins Rutschen gerät, wenn die Natur zur Geschichte wird?

Es gibt Anzeichen dafür, dass auch inneres "Gelände" ins Rutschen geraten ist: "Schlimm ist nicht das Unwetter - (...) Schlimm wäre der Verlust des Gedächtnisses - (...) Ohne Gedächtnis kein Wissen." (11/13/14)

Was wäre gegen das drohende Rutschen vorzukehren?

Herr Geiser hätte jemandem aus dem Dorf um Hilfe bitten können, doch es geht um den Erhalt seiner Autonomie, was eher dagegen spricht, jemanden um Hilfe zu bitten. Er stellt sich der Naturgeschichte, weil es ihm peinlich wäre, in die "menschliche" Geschichte zu flüchten. Und was sollte er da?

"Nicht um Schnaps zu trinken, sondern um Streichhölzer zu kaufen, Streichhölzer auf Vorrat, ist Herr Geiser ins nächste Dorf gegangen und hat in der Pinte vergessen, Streichhölzer zu kaufen. / Offenbar fallen Hirnzellen aus." (45)

"Was schon gedruckt ist, nochmals abzuschreiben mit eigener Hand (abends bei Kerzenlicht), ist idiotisch. Warum nicht mit der Schere ausschneiden, was wissenswert ist und an die Wand gehört? Herr Geiser wundert sich, dass er nicht eher auf die Idee gekommen ist. Eine Schere ist im Haus; Herr Geiser muss sie nur noch finden. Ganz abgesehen davon, dass das Gedruckte leserlicher ist als die Handschrift eines alten Mannes - auch wenn Herr Geiser sich Zeit nimmt für Blockschrift - so viel Zeit hat der Mensch nicht." (48)

Mit den Wissens-Zetteln versucht Herr Geiser, im rutschenden Gelände, im Gewitter (G.), einen sicheren Stand zu finden.

"Der Strom ist wieder da und Herr Geiser steht mit der Kerze in der Hand und erinnert sich nicht, warum er den Hut auf dem Kopf hat. / Die Kochplatte glüht. / Licht auch im Keller. / Herr Geiser hat vergessen, dass die Tiefkühltruhe, die wieder summt, leer ist, und erinnert sich auch, warum er den Hut auf dem Kopf hat: Herr Geiser wollte zur Post gehen. Der Hut hat keinen Zweck; Herr Geiser hat vergessen, dass die Strasse gesperrt ist und keine Post verkehrt. Die Kerze hat keinen Zweck, der Strom ist wieder da. / Irgendetwas vergisst man immer." (74f.)

"Herr Geiser braucht im Augenblick seinen Pass nicht, hingegen ein Saridon gegen Kopfschmerzen, die nicht rasend sind, nur langweilig ..." (77)

Einige Tage früher fiel der Satz: "... dabei weiss Herr Geiser, dass eine Flucht über die Berge (nach Italien) ein Wahnsinn wäre" (24). Nun will er doch bei starkem Regen über den Pass ins andere Tal nach Aurigeno, wo es einen Post-Bus nach Locarno gibt und von da mit dem Zug nach Basel, wo seine Tochter mit ihrer Familie lebt. Er schafft es mit grösster Mühe über den Pass und steigt dort vierhundert Meter ab. Von dort wären es noch dreihundert Höhenmeter hinunter nach Aurigeno gewesen. Bis hierher ist Herr Geiser bereits sechseinhalb Stunden unterwegs und macht Rast auf einer Bank bei einem Muttergottes-Fresko: "Es ist ungefähr zwei Uhr gewesen." (...) Es ist ungefähr vier Uhr gewesen, als Herr Geiser erwacht ist. Von einem Gewitter hat er nur noch die letzten ausrollenden Donner gehört, offenbar hat es kurz geregnet." (102f.) Herr Geiser entscheidet sich für die Rückkehr. "Was soll Herr Geiser in Basel?" (105) So geht er denselben Weg zurück und ist bis tief in die Nacht hinein unterwegs.
"Das Dorf hat geschlafen, es ist nach Mitternacht gewesen, als Herr Geiser, von niemandem gesehen, zuhause angekommen ist." (110) Dass inzwischen jemand im Haus war, um eine Suppe zu bringen, und dabei die Zettel an den Wänden sah, ist ärgerlich. Herr Geiser schliesst die Haustüre ab.

Irgendwann später: "Offenbar hat Herr Geiser den Hut auf dem Kopf getragen. Sonst läge der Hut nicht auf dem Boden neben ihm. Es ist Tag. Wieso Licht im ganzen Haus? Im Kamin glimmt es noch. Herr Geiser kann sich aufsetzen. Kein Knochenbruch; jedenfalls schmerzt es nirgends. Es schwindelt ihn bloss, weswegen Herr Geiser eine Weile warten muss, bevor er es wagen kann, aufzustehen wie ein Mensch." (119)

"Das kommt vor, dass ein grosses Holz (Kastanie) am andern Morgen noch glimmt. Sieben oder acht Stunden können vergangen sein, seit Herr Geiser gestürzt ist - / Vielleicht ist es die Tochter, die anruft, wahrscheinlich hat sie es schon vor Tagen versucht, als die Leitung unterbrochen gewesen ist, und jetzt versucht sie es immer wieder. / Es klingelt den ganzen Vormittag. / Was gäbe es schon zu berichten ..." (121f.)
Die Tochter ist eingetroffen.

"Es gibt nichts zu sagen. / Das Augenlid ist gelähmt, der Mundwinkel auch, Herr Geiser weiss es, dagegen hilft auch kein Hut auf dem Kopf. / Heute scheint die Sonne. / Was man mit den Zetteln machen soll? / Das Geländer ohne Handlauf - / Die zerschnittenen Bücher - / Die Ameisen, die Herr Geiser neulich unter einer tropfenden Tanne beobachtet hat, legen keinen Wert darauf, dass man Bescheid weiss über sie, so wenig wie die Saurier, die ausgestorben sind, bevor ein Mensch sie gesehen hat. Alle die Zettel, ob an der Wand oder auf dem Teppich, können verschwinden. Was heisst Holozän! Die Natur braucht keine Namen. Das weiss Herr Geiser. Die Gesteine brauchen sein Gedächtnis nicht." (138f.)

Aber gerade wenn die Natur am Naturhaftesten, sie der Geschichte nicht einfach bloss Liege sondern selber Geschichte ist - Naturgeschichte -, benötigt die Natur das Gedächtnis der Menschen, zur Rettung eben dieser Menschen. Die Menschen und noch deren Gedächtnis sind auch Natur.

Im Normalfall tritt die Naturgeschichte in den Hintergrund und an deren Stelle pulsiert so etwas wie die Geschichtsnatur: "Wo die Sonne hinkommt, kann man im Winter, wenn es nicht schneit, oft ohne Mantel gehen, so warm wird es über Mittag, obschon die Erde gefroren bleibt. Im Frühjahr blühen Kamelien und im Sommer sieht man da und dort ein Zelt, Leute baden im kalten Bach oder liegen auf den besonnten Felsen. Bund und Kanton tun alles, damit das Tal nicht ausstirbt; Post-Bus drei Mal täglich. Die Goldwäscherei in den Bächen hat sich nie gelohnt. Alles in allem ein grünes Tal, waldig wie zur Steinzeit. Ein Stausee ist nicht vorgesehen. Im August und im September, nachts, sind Sternschnuppen zu sehen oder man hört ein Käuzchen." (143)