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Die Erzählung "Der Mensch erscheint im Holozän" von Max Frisch: Eine Naturgeschichte
7. Mai 2011 |
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Der 74jährige Herr Geiser lebt als Rentner allein in seinem Haus im Tessin. Es kommen Gewitter und Regen, die über Tage oder Wochen anhalten: "Keine Nacht ohne Gewitter und Wolkenbruch" (11). Der Strom fällt aus, das Postauto fährt nicht ... |
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Max Frisch
Der Mensch erscheint im Holozän Franfurt am Main: Suhrkamp 1981 |
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Die Erde gerät in Bewegung, aber Herr Geiser kann von seinem Haus aus nichts Genaueres feststellen: "Ein Feldstecher hilft in diesen Tagen überhaupt nichts, man schraubt hin und her, ohne irgendeinen Umriss zu finden, der sich verschärfen liesse; der Feldstecher verdichtet bloss den Nebel." (14) Wenigstens vor dem Haus kann er nachsehen: "Eine kleine Mauer im unteren Garten (Trockenmauer) ist eingestürzt: Geröll im Salat, Fladen von Lehm unter den Tomaten. Vielleicht ist es schon vor Tagen geschehen." (14) Kommt vielleicht der ganze Hang ins Rutschen?
Bei diesem Wetter kann Herr Geiser nicht viel tun: "Es bleibt nichts als Lesen." (16) Aber wofür soll man sich interessieren, wenn alles ins Rutschen gerät, wenn die Natur zur Geschichte wird? |
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"(Romane eignen sich in diesen Tagen überhaupt nicht, da geht es um Menschen in ihrem Verhältnis zu sich und zu andern, um Väter und Mütter und Töchter beziehungsweise um Söhne und Geliebte usw., um Seelen, hauptsächlich unglückliche, und um die Gesellschaft usw., als sei das Gelände dafür gesichert, die Erde ein für allemal Erde, die Höhe des Meeresspiegels geregelt ein für allemal.)" (16)
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"In der Nacht vom 30. September 1512 (gerade zur Zeit, da der Herzog von Mailand mit den Schweizern um die Abtretung von Lugano und Locarno verhandelte), barst ganz unerwartet, nach dem Pontironetal zu, die über Biasca gelegene Spitze des Monte Crenone und die nachgleitenden Felslawinen begruben gar viele Häuser samt ihren Einwohnern, während von den entgegengesetzten Abhängen des Bergs andre gewaltige Erdmassen niedergingen und das Dorf Campo Bargigno in der Val Calanca verschütteten." (22)
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Es gibt Anzeichen dafür, dass auch inneres "Gelände" ins Rutschen geraten ist: "Schlimm ist nicht das Unwetter - (...) Schlimm wäre der Verlust des Gedächtnisses - (...) Ohne Gedächtnis kein Wissen." (11/13/14) Was wäre gegen das drohende Rutschen vorzukehren? |
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"Wie der Goldene Schnitt herzustellen ist mit Zirkel und Winkel, das steht im Lexikon, und auch wenn kein Zirkel im Haus ist, Herr Geiser weiss sich zu helfen: ein Reissnagel, dazu ein Bindfaden, der am Reissnagel befestigt wird, und ein Bleistift, befestigt am anderen Ende des Bindfadens, ersetzen den Zirkel einigermassen. Herr Geiser braucht im Augenblick keinen Goldenen Schnitt, aber Wissen beruhigt." (20)
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"Der Rucksack steht in der Diele, ein Rucksack aus Leder, den Herr Geiser seinerzeit in Island gekauft hat, wasserdicht, und Herr Geiser hat an alles gedacht: Pass, Verbandstoff, Taschenlampe, Unterwäsche zum Wechseln, Ovomaltine, Socken zum Wechseln, Jod, ein kleines Heft mit Traveller-Checks, Aspirin, Miroton (gegen Herzschwäche), sowie Kompass und Lupe, damit man die Landkarte entziffern kann, CARTA NAZIONALE DELLA SVIZZERA I : 25 000, FOGLIO 1312 und 1311, dabei weiss Herr Geiser, dass eine Flucht über die Berge (nach Italien) ein Wahnsinn wäre. Das hätte man vielleicht als junger Mann wagen können. Auch der alte Saumpfad hinunter ins Tal, den Herr Geiser vor vielen Jahren einmal begangen hat, dürfte zurzeit von Bächen mit Geschiebe unterbrochen sein, lebensgefährlich, das braucht Herr Geiser sich von niemand sagen zu lassen." (24f.)
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Herr Geiser hätte jemandem aus dem Dorf um Hilfe bitten können, doch es geht um den Erhalt seiner Autonomie, was eher dagegen spricht, jemanden um Hilfe zu bitten. Er stellt sich der Naturgeschichte, weil es ihm peinlich wäre, in die "menschliche" Geschichte zu flüchten. Und was sollte er da?
"Nicht um Schnaps zu trinken, sondern um Streichhölzer zu kaufen, Streichhölzer auf Vorrat, ist Herr Geiser ins nächste Dorf gegangen und hat in der Pinte vergessen, Streichhölzer zu kaufen. / Offenbar fallen Hirnzellen aus." (45) |
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"Gedächtnisschwäche ist die Abnahme der Fähigkeit, sich an frühere Erlebnisse zu erinnern (Erinnerungsschwäche). In der Psychopathologie unterscheidet man von der Gedächtnisschwäche die Merkschwäche, die Abnahme der Fähigkeit, neue Eindrücke dem Altbesitz des G. einzuverleiben. Gedächtnis- und Merkschwäche sind nur dem Grade nach verschieden. Bei den Alterskrankheiten des Gehirns (Altersblödsinn, Gehirn-Arterienverkalkung) und anderen Gehirnkrankheiten nimmt zuerst die Merkfähigkeit, später auch das G. ab." (53)
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"Bedenklicher als der Einsturz einer Trockenmauer wäre ein Riss durchs Gelände, ein vorerst schmaler Riss -
(So fangen Erdrutsche an, wobei solche Risse lautlos entstehen und sich Wochen lang nicht erweitern oder kaum, bis plötzlich, wenn man nichts erwartet, der ganze Hang unterhalb des Risses rutscht und auch Wälder mit sich reisst und alles, was nicht Grundfels ist.) Man muss auf alles gefasst sein." (45) |
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"Was schon gedruckt ist, nochmals abzuschreiben mit eigener Hand (abends bei Kerzenlicht), ist idiotisch. Warum nicht mit der Schere ausschneiden, was wissenswert ist und an die Wand gehört? Herr Geiser wundert sich, dass er nicht eher auf die Idee gekommen ist. Eine Schere ist im Haus; Herr Geiser muss sie nur noch finden. Ganz abgesehen davon, dass das Gedruckte leserlicher ist als die Handschrift eines alten Mannes - auch wenn Herr Geiser sich Zeit nimmt für Blockschrift - so viel Zeit hat der Mensch nicht." (48)
Mit den Wissens-Zetteln versucht Herr Geiser, im rutschenden Gelände, im Gewitter (G.), einen sicheren Stand zu finden. |
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"Die Lebensvorgänge im menschl. und tier. Organismus werden durch G. insofern beeinflusst, als die Labilisierung der Wetterlage (→ Wetter) eine erhöhte Erregbarkeit des vegetativen Nervensystems bewirkt. Man findet beim Menschen Störungen der Durchblutungsgrösse in den Kapillaren der Haut, abhängig davon vorübergehende "Verschlechterungen mancher Hautkrankheiten (Ekzeme, 'Gewitter-Pruritus'), auch Embolien können sich an Tagen mit G. häufen. Ob Anfälle von Glaukom, Epilepsie und Eklampsie, wie gelegentl. berichtet wurde, gesetzmässig bei G. vermehrt auftreten, ist nicht sicher erwiesen. - Im allgemeinen scheint bei Mensch und Tier der seelische Eindruck des G. (Erweckung von Angst oder einer interessanten Spannung) den physischen Einfluss auf den Organismus (Verursachung oder verschlechterung einer Krankheit) wesentlich zu überwiegen." (114)
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"BEREIT SEIN IST ALLES
BLITZGESCHWINDIGKEIT: 100.000 KM PRO SEKUNDE. STROMSTÄRKE DER BLITZE: 20 BIS 180.000 AMPÈRE VERWANDLUNG VON MENSCHEN IN TIERE, BÄUME, STEINE ETC. SIEHE: METAMORPHOSE / MYTHOS STEINZEIT: 6000 - 4000 V. CHR. (74) |
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"Der Strom ist wieder da und Herr Geiser steht mit der Kerze in der Hand und erinnert sich nicht, warum er den Hut auf dem Kopf hat. / Die Kochplatte glüht. / Licht auch im Keller. / Herr Geiser hat vergessen, dass die Tiefkühltruhe, die wieder summt, leer ist, und erinnert sich auch, warum er den Hut auf dem Kopf hat: Herr Geiser wollte zur Post gehen. Der Hut hat keinen Zweck; Herr Geiser hat vergessen, dass die Strasse gesperrt ist und keine Post verkehrt. Die Kerze hat keinen Zweck, der Strom ist wieder da. / Irgendetwas vergisst man immer." (74f.)
"Herr Geiser braucht im Augenblick seinen Pass nicht, hingegen ein Saridon gegen Kopfschmerzen, die nicht rasend sind, nur langweilig ..." (77) |
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"Im Morgengrauen, noch vor dem kurzen Kirchengeläute, hat Herr Geiser den gepackten Rucksack genommen, dazu Hut und Regenmantel und Schirm - der Rucksack ist nicht zu schwer, und sowie Herr Geiser in den Wald gekommen ist, hat das Herzklopfen nachgelassen; niemand im Dorf hat ihn gesehen und gefragt, wohin denn Herr Geiser wandern wolle mit seinem Rucksack und bergaufwärts und bei diesem Wetter.
Herr Geiser weiss, was er tut." (89) |
"Das organische Leben, vor etwa 1,5 Milliarden Jahren entstanden, aber erst in Gesteinen nachweisbar, die etwa 1 Milliarde Jahre alt sind, strebt höheren Stufen, reicherer Formenentwicklung und höherer Qualität zu. Dabei spielt die Umgestaltung des Erdbildes mit; durch sie werden Pflanzen und Tiere zur Anpassung an neue Lebensverhältnisse, zur Wanderung oder zum Untergang gezwungen." (89)
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Einige Tage früher fiel der Satz: "... dabei weiss Herr Geiser, dass eine Flucht über die Berge (nach Italien) ein Wahnsinn wäre" (24). Nun will er doch bei starkem Regen über den Pass ins andere Tal nach Aurigeno, wo es einen Post-Bus nach Locarno gibt und von da mit dem Zug nach Basel, wo seine Tochter mit ihrer Familie lebt. Er schafft es mit grösster Mühe über den Pass und steigt dort vierhundert Meter ab. Von dort wären es noch dreihundert Höhenmeter hinunter nach Aurigeno gewesen. Bis hierher ist Herr Geiser bereits sechseinhalb Stunden unterwegs und macht Rast auf einer Bank bei einem Muttergottes-Fresko: "Es ist ungefähr zwei Uhr gewesen." (...) Es ist ungefähr vier Uhr gewesen, als Herr Geiser erwacht ist. Von einem Gewitter hat er nur noch die letzten ausrollenden Donner gehört, offenbar hat es kurz geregnet." (102f.) Herr Geiser entscheidet sich für die Rückkehr. "Was soll Herr Geiser in Basel?" (105) So geht er denselben Weg zurück und ist bis tief in die Nacht hinein unterwegs. | |||||
Schwierige Stelle auf der Flucht am Morgen
"Ein Bach ohne Brücke, eigentlich kein Bach, sondern ein Gewässer, das es nur nach langen Unwettern gibt und das auf der Karte nicht verzeichnet ist, ein breites Gewässer über Geröll, ein Gesprudel, nirgends so reissend, dass einer mit kniehohen Stiefeln nicht hätte darin stehen können, hat viel Zeit gekostet, da Herr Geiser gewöhnliche Wanderschuhe trägt. Mindestens eine halbe Stunde. Um eine Stelle zu finden, wo zuverlässige Steine, möglichst grosse, die nicht kippen oder rollen, wenn man den Fuss darauf stellt, ungefähr in Schrittweite auseinander liegen, ist Herr Geiser hinauf und hinunter gegangen. Überall ungefähr das gleiche Gesprudel. Schliesslich hat Herr Geiser es einfach wagen müssen. Einer der Steine, denen er nach längerer Betrachtung besonders vertraut hat, ist dann doch gekippt - Herr Geiser ist nicht gestürzt, er hat nur einen Schuh voll Wasser herausgezogen, das ist um neun Uhr morgens gewesen, also noch früh am Tag." (94f.) |
Dieselbe Stelle auf dem Rückweg in der Nacht
"- und wieder das breite Gewässer ohne Brücke: |
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"Das Dorf hat geschlafen, es ist nach Mitternacht gewesen, als Herr Geiser, von niemandem gesehen, zuhause angekommen ist." (110) Dass inzwischen jemand im Haus war, um eine Suppe zu bringen, und dabei die Zettel an den Wänden sah, ist ärgerlich. Herr Geiser schliesst die Haustüre ab.
Irgendwann später: "Offenbar hat Herr Geiser den Hut auf dem Kopf getragen. Sonst läge der Hut nicht auf dem Boden neben ihm. Es ist Tag. Wieso Licht im ganzen Haus? Im Kamin glimmt es noch. Herr Geiser kann sich aufsetzen. Kein Knochenbruch; jedenfalls schmerzt es nirgends. Es schwindelt ihn bloss, weswegen Herr Geiser eine Weile warten muss, bevor er es wagen kann, aufzustehen wie ein Mensch." (119) |
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"Das kommt vor, dass ein grosses Holz (Kastanie) am andern Morgen noch glimmt. Sieben oder acht Stunden können vergangen sein, seit Herr Geiser gestürzt ist - / Vielleicht ist es die Tochter, die anruft, wahrscheinlich hat sie es schon vor Tagen versucht, als die Leitung unterbrochen gewesen ist, und jetzt versucht sie es immer wieder. / Es klingelt den ganzen Vormittag. / Was gäbe es schon zu berichten ..." (121f.) | |||||
"Es ist das Augenlid links. Kein Schmerz. Wenn man das Augenlid mit dem Finger berührt, so fühlt das Augenlid überhaupt nichts. Später hat es an der Haustüre geklingelt. Der Strom ist ja wieder da, und Herr Geiser ist nicht taub. Wieder und wieder hat es geklingelt.
Herr Geiser will keinen Besuch." (121) |
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"Das Augenlid, links, bleibt gelähmt. Sonst ist nichts geschehen. Wenn Herr Geiser wieder in den Spiegel schaut, um sein Gesicht zu sehen, so weiss er: die Tochter in Basel heisst Corinne und die Firma in Basel, die der Schwiegersohn leitet und die seither ihren Umsatz verdreifacht hat, trägt seinen Namen, auch wenn Herr Geiser aussieht wie ein Lurch." (124) |
"Herr Geiser ist kein Lurch." (125)
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Die Tochter ist eingetroffen.
"Es gibt nichts zu sagen. / Das Augenlid ist gelähmt, der Mundwinkel auch, Herr Geiser weiss es, dagegen hilft auch kein Hut auf dem Kopf. / Heute scheint die Sonne. / Was man mit den Zetteln machen soll? / Das Geländer ohne Handlauf - / Die zerschnittenen Bücher - / Die Ameisen, die Herr Geiser neulich unter einer tropfenden Tanne beobachtet hat, legen keinen Wert darauf, dass man Bescheid weiss über sie, so wenig wie die Saurier, die ausgestorben sind, bevor ein Mensch sie gesehen hat. Alle die Zettel, ob an der Wand oder auf dem Teppich, können verschwinden. Was heisst Holozän! Die Natur braucht keine Namen. Das weiss Herr Geiser. Die Gesteine brauchen sein Gedächtnis nicht." (138f.) Aber gerade wenn die Natur am Naturhaftesten, sie der Geschichte nicht einfach bloss Liege sondern selber Geschichte ist - Naturgeschichte -, benötigt die Natur das Gedächtnis der Menschen, zur Rettung eben dieser Menschen. Die Menschen und noch deren Gedächtnis sind auch Natur. |
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"DER MENSCH GILT ALS DAS EINZIGE LEBEWESEN MIT EINEM GEWISSEN GESCHICHTSBEWUSSTSEIN." (54)
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Im Normalfall tritt die Naturgeschichte in den Hintergrund und an deren Stelle pulsiert so etwas wie die Geschichtsnatur: "Wo die Sonne hinkommt, kann man im Winter, wenn es nicht schneit, oft ohne Mantel gehen, so warm wird es über Mittag, obschon die Erde gefroren bleibt. Im Frühjahr blühen Kamelien und im Sommer sieht man da und dort ein Zelt, Leute baden im kalten Bach oder liegen auf den besonnten Felsen. Bund und Kanton tun alles, damit das Tal nicht ausstirbt; Post-Bus drei Mal täglich. Die Goldwäscherei in den Bächen hat sich nie gelohnt. Alles in allem ein grünes Tal, waldig wie zur Steinzeit. Ein Stausee ist nicht vorgesehen. Im August und im September, nachts, sind Sternschnuppen zu sehen oder man hört ein Käuzchen." (143) | |||||