K188 | 'Und machen Sie keinen solchen Lärm mit dem Gefühl Ihrer Unschuld ...' Eine Anzeige mit Franz Kafkas Der Prozess 2. Februar 2019 |
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Im letzten Kommentar K187 wurde mit Dürrenmatts Hörspiel Die Panne darauf hingewiesen, dass die Menschen in den modernen Gesellschaften gezwungen werden, sich in Schuld zu verstricken, sich schuldig zu machen. Das Sich-Schuldig-Machen wird als ein derart Normales angesehen, dass es als solches – so ging die Deutung mit Dürrenmatt – gar nicht mehr wahrgenommen wird, höchstens noch in Ausnahmesituationen. Allerdings gelingt es der Hauptfigur der Panne, TRAPS, auch in der Ausnahmesituation nicht, die Problematik des gesellschaftlichen Zwangs in die Schuld einzusehen und daraus auf deren mögliche Aufhebung zu schliessen. Die gesellschaftliche Utopie wäre, dass die Menschen zu der – von TRAPS nicht erreichten – Selbstbesinnung in die gesellschaftlich erzwungene Schuld sich befähigen und von da aus die Aufhebung der Schuld, die Versöhnung untereinander, mit sich selbst und mit der äusseren Natur ins Auge fassen. Für den hier thematisierten Roman Der Prozess von Franz Kafka (vgl. Nachweis im gelben Kasten) wird wie für Dürrenmatts Die Panne von derselben gesellschaftlichen Grundbedingung ausgegangen. Die Menschen sind gesellschaftlich dazu gezwungen, sich an anderen, an sich und der äusseren Natur schuldig zu machen, und dieser gesellschaftliche Zwang zur Schuld wird für ganz normal gehalten und dementsprechend bewusst nicht mehr wahrgenommen. Während die Selbstbesinnung auf den gesellschaftlichen Zwang in Dürrenmatts Panne keine Verkörperung in einer Figur findet und auch nicht finden soll, ist dem nicht so in Kafkas Prozess. Im Prozess wird diese Selbstbesinnung von Josef K. verkörpert, der dadurch – im Gegensatz zu TRAPS – zum Helden wird. Zwar ist auch der als Prokurist in einer Bank tätige Josef K. zum Sich-Schuldig-Machen gezwungen, doch hebt er sich von den anderen dadurch ab, dass er auf die dabei entstehenden Schwierigkeiten sich besinnt, Schuldgefühle kennt, ein Gewissen besitzt. Josef K. braust nicht wie TRAPS besinnungslos durch die Welt und ist auch nicht überzeugt davon, keinem Tierchen etwas zuleide tun zu können, sondern reflektiert sein Handeln auf mögliche Schuld hin, insistiert für sich auf eine reell zu erreichende Unschuld, ja, er steht ein für die Unschuld. Dieses Einstehen für die Unschuld lässt Josef K. in den Augen derjenigen, die das Sich-Schuldig-Machen als das Normale und als das nicht in Frage zu Stellende ansehen, als schuldhaftes Verhalten erscheinen. Josef K.s insistierendes Besinnen auf mögliche Schuld in Erreichung von Unschuld wird ihm als die grosse Schuld ausgelegt. Darum – so die hier vorgelegte Deutung von Kafkas Prozess – wird ihm der Prozess gemacht. Auf die Fragen von Josef K., wer warum ihn verhafte, antwortet der Aufseher:
Unschuld darf es nicht geben und wer doch auf sie insistiert, setzt unbotmässig sich ab, macht sich schuldig und läuft Gefahr, je nach Sichtweise (in der Sicht von Josef K.) verleumdet oder (in der Sicht der Gesellschaft) richtigerweise angezeigt zu werden.
Franz Kafka (1883-1924) ist von Josef K. nur schwer zu unterscheiden. Max Brod, sein Freund, Retter und Herausgeber seines Nachlasses, schreibt im Nachwort des Herausgebers zum Prozess über das Werk von Kafka:
Franz Kafka war mit seinen Schriften für sich selbst auf der Suche nach dem rechten Wege, wollte sich selbst Rat geben, was er durch sein Schreiben vermittels die Figur des Josef K. machte und diese charakterisierte mittels Selbstbesinnung, offenes Fragen, Zweifel, Schuldgefühle, Scham, Gewissen. |
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In der von Kafka im Prozess beschriebenen Gesellschaft sind auch gewöhnliche Strafprozesse denkbar, in denen Fälle behandelt werden, wo Menschen beim Sich-Schuldig-Machen gleichsam über die Stränge geschlagen, z.B. zu dreist Gelder veruntreut haben. Um solche Fälle geht es jedoch gerade nicht im Prozess:
Das Gericht, das – wie hier unterstellt – für Anklagen wegen Insistierens auf Unschuld sich zuständig erklärt, kann nur ein nicht offiziell agierendes sein. Eine derartige Anklage nämlich lässt sich überhaupt nicht formulieren, und doch kennen alle Gesellschaften, die von ihren Mitgliedern ein besinnungsloses Sich-Schuldig-Machen ultimativ einfordern, eine solche Anklage. Sie wird gegen alle diejenigen Personen erhoben, die sich – wie bewusst oder unbewusst auch immer – dem gefordert besinnungslosen Sich-Schuldig-Machen widersetzen, eben durch Selbstbesinnung, offenes Fragen, Zweifel, Schuldgefühle, Scham, Gewissen. Die in gesellschaftlich vorgeschriebener Weise besinnungslos sich schuldig machende Bevölkerung weiss instinktiv, was auch der Onkel von Josef K. sofort weiss, nämlich, dass es schlimm ist, wenn jemand vor das nicht gewöhnliche Gericht gezogen wird. Dann muss der Betreffende gegen etwas Grundlegendes verstossen haben. Nur Menschen wie Josef K., die an die Möglichkeit der Unschuld glauben und die sich nicht vorstellen können, dass es sich beim Festhalten dieser Möglichkeit um ein Verbrechen handeln könnte, ahnen von der Gefahr, zumindest vorerst, nichts. Sie glauben ja doch – im Guten naiv – an die Unschuld. Die breite Bevölkerung aber, die den Zwang in das besinnungslose Sich-Schuldig-Machen verinnerlicht hat, weiss um die Bedeutung des Verstosses dagegen, schaut dementsprechend fasziniert zu, wenn ein derart Angeklagter, wie jetzt Josef K., verhaftet wird:
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Franz Kafka (1925: Erstveröffentlichung aus dem Nachlass) Der Prozess Roman Fr.a.M.: Fischer 1987 |
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Der Onkel von Josef K. ist erschüttert über dessen Untätigkeit im laufenden Prozess:
Tatsächlich hat Josef K. seinen Prozess, da er ihn hat, schon verloren, nicht aber seine Würde. Josef K. bekräftigt auch gegenüber dem Gerichtsmaler Titorelli, durch den man K. wieder näher an den Prozess führen will, seine Unschuld:
Es ist Josef K. an dieser Stelle schon klar, auch wenn er es sich noch nicht voll eingestehen kann, dass er mit seinem völlig zu Recht erfolgenden Beharren auf seiner Unschuld nicht durchkommen wird, das Gericht von irgendwoher, wo ursprünglich gar nichts gewesen ist, eine grosse Schuld hervorziehen wird. Josef K. sieht sich vor die folgende Alternative gestellt: Entweder macht er es so, wie der Onkel und alle ihm raten und wie der ebenfalls angeklagte, schon fünf Jahre im Prozess stehende Kaufmann Block es macht (vgl. dazu: Kafka, Der Prozess, Achtes Kapitel), nämlich den ganzen zum Prozess gehörigen, erniedrigenden Ritualen zu folgen, tagelang im Wartezimmer der auf stickigen Dachböden sich befindenden Gerichtskanzleien zu warten, bis er vorgelassen respektive, wie es die Regel ist, nicht vorgelassen wird, oder in den verliessähnlichen Räumlichkeiten des ihn verteidigenden Advokaten auf jede mögliche Art erniedrigt zu werden, dabei glauben müssend, auf diese Weise die dann stillschweigend als Schuld anerkannte Unschuld sühnen zu können. In dieser Variante kann der Angeklagte den Prozess zwar verschleppen, damit länger sich am Leben erhalten, muss dafür aber völlig verarmen, wie ein Strassenbettler werden, sich permanent demütigen lassen, jegliche Würde verlieren:
Oder er macht es so, wie niemand ihm rät – ausser vielleicht Fräulein Bürstner ihm geraten hätte – und wohl nur wenige es machen, nämlich, dass er an seiner Unschuld festhält, nicht mehr ins Gericht geht, nachdem er sich von dessen Rechtlosigkeit überzeugt hat, er seinem Advokaten kündigt, wie dieser ihn in den Prozess totaler Demütigung zu ziehen versucht und auch zu den Vertrauensmännern des Gerichts, die ihn doch nur in die erste Variante zu ziehen versuchen, nicht mehr hingeht:
Josef K. wählt den zweiten Weg, den Weg der Bewahrung der Würde, den Weg zum raschen Todesurteil. Wie der Gefängniskaplan Josef K. im Dom das Todesurteil eröffnet und es vermittels eines Gleichnisses – ganz so, wie alle Pfarrer es so gerne machen – zu begründen versucht (vgl. Kafka, Der Prozess, S. 182f.) und erklärt, dass das Gericht nicht wegen seiner Wahrheit, sondern wegen seiner Notwendigkeit akzeptiert werden müsse (vgl. Kafka, Der Prozess, S. 188), antwortet Josef K. trocken:
Die Vollstreckung des Todesurteils will Josef K. so selbstbesonnen und würdig wie möglich bestehen:
Wenn Josef K. zu sich und seinem Handeln von einem nicht zu billigenden Zweck spricht und feststellt, dass es unrichtig war, dann bezieht er sich auf den von der Gesellschaft nicht zu billigenden Zweck und darauf, dass sein auf Unschuld insistierendes Handeln von den gesellschaftlich geltenden Normen her gesehen unrichtig war. Dafür hat er nun zu bezahlen und will er auch bezahlen, das heisst den Prozess nicht etwa jetzt wieder beginnen und es so erscheinen lassen, als sei er über jene trübselige gesellschaftliche Notwendigkeit – dass die Gesellschaft das Insistieren auf Unschuld als Schuld auslegt – begriffsstutzig geworden und wolle jetzt doch noch Sühne leisten im Sinne der oben erwähnten ersten Variante. Dem erteilt Josef K. noch im Angesicht der laufenden Urteilsvollstreckung eine Absage, auch wenn er die Vollstreckung – nichts kann restlos konsequent gelingen – nicht auch noch selber durchzuführen vermag.
Wie ist solches möglich? Eine Antwort findet sich im eben Zitierten mit dem Hinweis auf die unerschütterliche Logik des – so möchte man fortfahren – Systems. Wenn etwas dieser Logik entgegen steht, dann ist es die Selbstbesinnung der Menschen darauf, was ein Handeln innerhalb des Systems für die anderen Menschen, für sich selbst und für die äussere Natur bedeutet (vgl. zur Kritik am System auch Kommentar K186). Das System verlangt die Stillstellung der Subjekt-Objekt-Dialektik, während der Versuch, sich in andere, in sich selbst und in die äussere Natur einzufühlen, das heisst sich zu versöhnen, dieser Dialektik als einer gerade nicht stillgestellten bedarf. Für die Lebendigkeit möglich machende, nicht stillgestellte Subjekt-Objekt-Dialektik steht Josef K. Josef K. sieht die anderen Angeklagten im Gang der Gerichtskanzlei:
Wie Josef K. selber gehören die meisten Angeklagten den höheren Klassen an. Das deutet darauf hin, dass mit dem Prozess Säuberungen in diesen Klassen bezweckt werden, ganz so, wie es im Stalinismus und im Nationalsozialismus zur Regel wurde. Es geht gegen diejenigen, die bei dem, was sie tun, sich besinnen, zweifeln, zögern (vgl. zum Zögerlichen auch Kommentar K181), damit freilich die Logik des Systems – Erhalt der Nomenklatura, totale Gewalt der einen Reichshand usw. – gefährden. Nicht gewöhnliche Gerichte gehen dagegen vor. Wird das Bürgerliche durch die von Josef K. verkörperte Selbstbesinnung in Bewahrung der Würde eines jeden einzelnen bestimmt, ...
... dann sind die ungewöhnlichen Gerichte gegen dieses Bürgerliche gerichtet, säubern die Gesellschaft von denjenigen Menschen, die an der bürgerlichen Utopie festhalten, Menschen wie Josef K. Dann ist da freilich noch die ganze breite Unterklasse, die nie oder dann nur vermeintlich zu Bürgern und Bürgerinnen werden konnten. In der Tat, die Unterklasse wurde breit integriert in die sich entwickelnde Gesellschaft, deren Angehörige mussten hierfür allerdings zu ihren besinnungslosen Dienern, genauer ihren besinnungslosen Unterdienern werden, während die ehemaligen Bürger in besinnungslose Oberdiener sich verwandelten. Im Prozess werden die Menschen aus den Armenvierteln breit dafür rekrutiert, Beamtenstellen innerhalb der ungewöhnlichen Gerichte zu besetzen. Sie werden Wächter, Aufseher, Prügler, Untersuchungsrichter, Student, Gerichtsdiener, Gerichtsbeamter, Gerichtsmaler, Gerichtskanzleidirektor, Auskunftgeber, Advokat, Henker usw. Allerdings ist es weniger so, dass das Gericht rekrutiert, als vielmehr so, dass die ganzen unteren Klassen als Exekutive das ungewöhnliche Gericht geradezu sind und die niedrigen Beamten wie natürlich aus ihnen hervorgehen. Der Gerichtsmaler Titorelli muss, wie Josef K. ihn in seinem kleinen, stickigen Atelier besucht, sich der vor seiner Tür lauernden Mädchen erwehren.
Wie Josef K. das Atelier des Malers, um die Mädchen zu umgehen, über eine Hintertür verlassen will:
Während das Versprechen der Integration der unteren Klassen besagt, dass sie dadurch zu einem guten Leben finden und frei und gleich leben können, bedeutet sie – im Stalinismus und im Nationalsozialismus in extremis vordemonstriert – ihre totale Verarmung, Zwang ins Lebensfeindliche, Versteinerung. Josef K. wird zu Beginn seines Prozesses in ein Haus in einem der ärmlichen Vorstadtviertel vorgeladen, dort in ein unter dem Dachboden sich befindendes Untersuchungszimmer:
Die über Josef K. zu Gericht sitzen oder besser stehen, auf der Galerie nur gebeugt stehen, haben jede Würde verloren, merken davon aber gar nichts, weil sie mit ihren kleinen, schwarzen Äuglein auf die vorgeblichen Gerichtssachen konzentriert sind, das heisst auf die aus den oberen Klassen hergeführten Schuldigen, die sie jetzt peinigen können. Josef K. wird sich – zur Überraschung der Anwesenden – widersetzen, tapfer und würdig sich wehren (vgl. Kafka, Der Prozess, Zweites Kapitel). Die Gerichtskanzlei, in welche Josef K. eine Woche später vom Gerichtsdiener geführt wird (vgl. Kafka, Der Prozess, Drittes Kapitel, Schlussteil), befindet sich auf dem Dachboden oberhalb des Untersuchungszimmers und beginnt mit einem langen Gang, worin die Angeklagten warten:
Die unteren Klassen der Prozess-Gesellschaft bemerken den enormen Preis, den sie für ihr Gerichtsdienertum zu bezahlen haben, überhaupt nicht mehr, sondern glauben sogar, wenn sie auch nur irgendein auf Gerichtszugehörigkeit hinweisendes Abzeichen am Revers tragen und welch scheussliche Arbeitspflicht fürs Gericht auch immer erfüllen dürfen, integriert zu sein. Sie bezahlen mit dem Tod noch im Leben, halten es selber im gegen das Lebendige Gerichteten überhaupt nur noch aus. Nur schon frische Luft bekommt ihnen schlecht. Josef K. kommt auch im Prozess an das hohe Gericht nicht heran – ähnlich wie in Kafkas Roman Das Schloss –, das heisst er kommt an diejenigen nicht heran, die das Getriebe des ganzen Systems befehligen, die entscheiden, welche Positionen wo zu ersetzen respektive zu säubern sind. Er kommt an die ihn jagenden und hetzenden Richter nicht heran. Inwiefern diese Personen selbst zu – wenn natürlich reichen – Marionetten des Systems geworden sind, das heisst selber sofort durchgestrichen, ihre Fäden, an denen sie hängen, durchgeschnitten werden, wenn sie sich selbst nur ein wenig besinnen würden, lässt sich schwer sagen. Die grosse Bank, in der Josef K. als erster Prokurist direkt unter dem Direktor-Stellvertreter tätig ist, ist bei seinem Prozess natürlich involviert und weiss über jeden gegen K. unternommenen Schritt ebenso wie über dessen Verhalten jederzeit genauestens Bescheid. Schon bei der Verhaftung von K. sind im Hintergrund drei niedere Beamte der Bank zugegen. Und die drei überwachen auch seinen Weg zur ersten Untersuchung. Gleichzeitig stösst Josef K. in einer Rumpelkammer der Bank auf die beiden Wächter, die ihn verhafteten. Hier spielen ihm die beiden zusammen mit dem Prügler eine allabendlich gleiche sadistische Szene vor, die ihn, Josef K., in die Verzweiflung, ins Schuldeingeständnis treiben soll. Der Direktor-Stellvertreter der Bank macht im Grunde nichts anderes als die Stellung von Josef K. vor allem mittels übertriebener Hilfestellungen und dadurch Herabwürdigungen zu demontieren. Wie Josef K. zur Urteilsverkündigung in den Dom gelockt werden soll, spielt ein italienischer Geschäftsfreund der Bank eine zentrale Rolle. Ihm nämlich soll K. den Dom zeigen, doch erscheint er zum abgemachten Zeitpunkt gar nicht im Dom. Am Morgen zuvor hat er ihn in der Bank zum ersten Mal getroffen.
Selbst wenn Josef K. einem Vertreter des hohen Gerichts hätte begegnen können – und vielleicht ist er ja einem begegnet –, hätte dieser derart besinnungslos vor sich hin gesprochen, dass der lebendige K. ihn gar nicht verstanden hätte. Die angeblich notwendige, doch eben totbringende Sprache ist ja die der Systemlogik, für lebendig Integre wie Josef K. nicht zu verstehen. |
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