K188 'Und machen Sie keinen solchen Lärm mit dem Gefühl Ihrer Unschuld ...'
Eine Anzeige mit Franz Kafkas Der Prozess

2. Februar 2019

Im letzten Kommentar K187 wurde mit Dürrenmatts Hörspiel Die Panne darauf hingewiesen, dass die Menschen in den modernen Gesellschaften gezwungen werden, sich in Schuld zu verstricken, sich schuldig zu machen. Das Sich-Schuldig-Machen wird als ein derart Normales angesehen, dass es als solches – so ging die Deutung mit Dürrenmatt – gar nicht mehr wahrgenommen wird, höchstens noch in Ausnahmesituationen. Allerdings gelingt es der Hauptfigur der Panne, TRAPS, auch in der Ausnahmesituation nicht, die Problematik des gesellschaftlichen Zwangs in die Schuld einzusehen und daraus auf deren mögliche Aufhebung zu schliessen.

Die gesellschaftliche Utopie wäre, dass die Menschen zu der – von TRAPS nicht erreichten – Selbstbesinnung in die gesellschaftlich erzwungene Schuld sich befähigen und von da aus die Aufhebung der Schuld, die Versöhnung untereinander, mit sich selbst und mit der äusseren Natur ins Auge fassen.

Für den hier thematisierten Roman Der Prozess von Franz Kafka (vgl. Nachweis im gelben Kasten) wird wie für Dürrenmatts Die Panne von derselben gesellschaftlichen Grundbedingung ausgegangen. Die Menschen sind gesellschaftlich dazu gezwungen, sich an anderen, an sich und der äusseren Natur schuldig zu machen, und dieser gesellschaftliche Zwang zur Schuld wird für ganz normal gehalten und dementsprechend bewusst nicht mehr wahrgenommen. Während die Selbstbesinnung auf den gesellschaftlichen Zwang in Dürrenmatts Panne keine Verkörperung in einer Figur findet und auch nicht finden soll, ist dem nicht so in Kafkas Prozess. Im Prozess wird diese Selbstbesinnung von Josef K. verkörpert, der dadurch – im Gegensatz zu TRAPS – zum Helden wird. Zwar ist auch der als Prokurist in einer Bank tätige Josef K. zum Sich-Schuldig-Machen gezwungen, doch hebt er sich von den anderen dadurch ab, dass er auf die dabei entstehenden Schwierigkeiten sich besinnt, Schuldgefühle kennt, ein Gewissen besitzt. Josef K. braust nicht wie TRAPS besinnungslos durch die Welt und ist auch nicht überzeugt davon, keinem Tierchen etwas zuleide tun zu können, sondern reflektiert sein Handeln auf mögliche Schuld hin, insistiert für sich auf eine reell zu erreichende Unschuld, ja, er steht ein für die Unschuld.

Dieses Einstehen für die Unschuld lässt Josef K. in den Augen derjenigen, die das Sich-Schuldig-Machen als das Normale und als das nicht in Frage zu Stellende ansehen, als schuldhaftes Verhalten erscheinen. Josef K.s insistierendes Besinnen auf mögliche Schuld in Erreichung von Unschuld wird ihm als die grosse Schuld ausgelegt. Darum – so die hier vorgelegte Deutung von Kafkas Prozess – wird ihm der Prozess gemacht.

Auf die Fragen von Josef K., wer warum ihn verhafte, antwortet der Aufseher:

'Wenn ich nun aber auch Ihre Fragen nicht beantworte, so kann ich Ihnen doch raten, denken Sie weniger an uns und was mit Ihnen geschehen wird, denken Sie lieber mehr an sich. Und machen Sie keinen solchen Lärm mit dem Gefühl Ihrer Unschuld, es stört den nicht gerade schlechten Eindruck, den Sie im übrigen machen.'
(Kafka, Der Prozess, S. 16; Nachweis im gelben Kasten)

Unschuld darf es nicht geben und wer doch auf sie insistiert, setzt unbotmässig sich ab, macht sich schuldig und läuft Gefahr, je nach Sichtweise (in der Sicht von Josef K.) verleumdet oder (in der Sicht der Gesellschaft) richtigerweise angezeigt zu werden.

Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet.
(Kafka, Der Prozess, S. 7)

Franz Kafka (1883-1924) ist von Josef K. nur schwer zu unterscheiden. Max Brod, sein Freund, Retter und Herausgeber seines Nachlasses, schreibt im Nachwort des Herausgebers zum Prozess über das Werk von Kafka:

Dass sein Werk trotzdem vielen, die zum Glauben, zur Natur, zur vollkommenen Seelengebundenheit hinstreben, ein starker Helfer hätte werden können, durfte ihm (Kafka, kw) nichts bedeuten, der mit dem unerbittlichen Ernst für sich selbst auf der Suche nach dem rechten Wege war und zunächst sich selbst, nicht andern Rat zu geben hatte.
(Max Brod im Nachwort des Herausgebers zu: Kafka, Der Prozess, S. 223; Nachweis im gelben Kasten)

Franz Kafka war mit seinen Schriften für sich selbst auf der Suche nach dem rechten Wege, wollte sich selbst Rat geben, was er durch sein Schreiben vermittels die Figur des Josef K. machte und diese charakterisierte mittels Selbstbesinnung, offenes Fragen, Zweifel, Schuldgefühle, Scham, Gewissen.

In der von Kafka im Prozess beschriebenen Gesellschaft sind auch gewöhnliche Strafprozesse denkbar, in denen Fälle behandelt werden, wo Menschen beim Sich-Schuldig-Machen gleichsam über die Stränge geschlagen, z.B. zu dreist Gelder veruntreut haben. Um solche Fälle geht es jedoch gerade nicht im Prozess:

'Vor allem, Onkel', sagte K., 'handelt es sich gar nicht um einen Prozess vor dem gewöhnlichen Gericht.' 'Das ist schlimm', sagte der Onkel. 'Wie?' sagte K. und sah den Onkel an. 'Dass das schlimm ist, meine ich', wiederholte der Onkel.
(Kafka, Der Prozess, S. 84)

Das Gericht, das – wie hier unterstellt – für Anklagen wegen Insistierens auf Unschuld sich zuständig erklärt, kann nur ein nicht offiziell agierendes sein. Eine derartige Anklage nämlich lässt sich überhaupt nicht formulieren, und doch kennen alle Gesellschaften, die von ihren Mitgliedern ein besinnungsloses Sich-Schuldig-Machen ultimativ einfordern, eine solche Anklage. Sie wird gegen alle diejenigen Personen erhoben, die sich – wie bewusst oder unbewusst auch immer – dem gefordert besinnungslosen Sich-Schuldig-Machen widersetzen, eben durch Selbstbesinnung, offenes Fragen, Zweifel, Schuldgefühle, Scham, Gewissen.

Die in gesellschaftlich vorgeschriebener Weise besinnungslos sich schuldig machende Bevölkerung weiss instinktiv, was auch der Onkel von Josef K. sofort weiss, nämlich, dass es schlimm ist, wenn jemand vor das nicht gewöhnliche Gericht gezogen wird. Dann muss der Betreffende gegen etwas Grundlegendes verstossen haben. Nur Menschen wie Josef K., die an die Möglichkeit der Unschuld glauben und die sich nicht vorstellen können, dass es sich beim Festhalten dieser Möglichkeit um ein Verbrechen handeln könnte, ahnen von der Gefahr, zumindest vorerst, nichts. Sie glauben ja doch – im Guten naiv – an die Unschuld.

Die breite Bevölkerung aber, die den Zwang in das besinnungslose Sich-Schuldig-Machen verinnerlicht hat, weiss um die Bedeutung des Verstosses dagegen, schaut dementsprechend fasziniert zu, wenn ein derart Angeklagter, wie jetzt Josef K., verhaftet wird:

Durch das offene Fenster erblickte man wieder die alte Frau, die mit wahrhaft greisenhafter Neugierde zu dem jetzt gegenüberliegenden Fenster getreten war, um auch weiterhin alles zu sehen.
(Kafka, Der Prozess, S. 7)

Der Onkel von Josef K. ist erschüttert über dessen Untätigkeit im laufenden Prozess:

'Ich dachte', sagte K. und fasste dem Onkel unterm Arm, um ihn am Stehenbleiben hindern zu können, 'dass du dem Ganzen noch weniger Bedeutung beimessen würdest als ich, und jetzt nimmst du es selbst so schwer.' 'Josef', rief der Onkel und wollte sich ihm entwinden, um stehenbleiben zu können, aber K. liess ihn nicht, 'du bist verwandelt, du hattest doch immer ein so richtiges Auffassungsvermögen, und gerade jetzt verlässt es dich? Willst du den Prozess verlieren? Weisst du, was das bedeutet? Das bedeutet, dass du einfach gestrichen wirst. Und dass die ganze Verwandtschaft mitgerissen oder wenigstens bis auf den Boden gedemütigt wird. Josef, nimm dich doch zusammen. Deine Gleichgültigkeit bringt mich um den Verstand. Wenn man dich ansieht, möchte man fast dem Sprichwort glauben: "Einen solchen Prozess haben, heisst ihn schon verloren haben".'
(Kafka, Der Prozess, S. 84f.)

Tatsächlich hat Josef K. seinen Prozess, da er ihn hat, schon verloren, nicht aber seine Würde.

Josef K. bekräftigt auch gegenüber dem Gerichtsmaler Titorelli, durch den man K. wieder näher an den Prozess führen will, seine Unschuld:

Dann kehrte er (der Gerichtsmaler; kw) wieder zu seinem Sessel zurück und stellte endlich die erste sachliche Frage, die K. alles andere vergessen liess. 'Sie sind unschuldig?' fragte er. 'Ja', sagte K. Die Beantwortung dieser Frage machte ihm geradezu Freude, besonders da sie gegenüber einem Privatmann (in Wirklichkeit allerdings ein Angehöriger des Gerichts, kw), also ohne jede Verantwortung erfolgte. Noch niemand hatte ihn so offen gefragt. Um diese Freude auszukosten, fügte er noch hinzu: 'Ich bin vollständig unschuldig.' 'So', sagte der Maler, senkte den Kopf und schien nachzudenken. Plötzlich hob er wieder den Kopf und sagte: 'Wenn Sie unschuldig sind, dann ist ja die Sache sehr einfach.' K.s Blick trübte sich, dieser angebliche Vertrauensmann des Gerichtes redete wie ein unwissendes Kind. 'Meine Unschuld vereinfacht die Sache nicht', sagte K. Er musste trotz allem lächeln und schüttelte langsam den Kopf. 'Es kommt auf viele Feinheiten an, in denen sich das Gericht verliert. Zum Schluss aber zieht es von irgendwoher, wo ursprünglich gar nichts gewesen ist, eine grosse Schuld hervor.'
(Kafka, Der Prozess, S. 128)

Es ist Josef K. an dieser Stelle schon klar, auch wenn er es sich noch nicht voll eingestehen kann, dass er mit seinem völlig zu Recht erfolgenden Beharren auf seiner Unschuld nicht durchkommen wird, das Gericht von irgendwoher, wo ursprünglich gar nichts gewesen ist, eine grosse Schuld hervorziehen wird.

Josef K. sieht sich vor die folgende Alternative gestellt:

Entweder macht er es so, wie der Onkel und alle ihm raten und wie der ebenfalls angeklagte, schon fünf Jahre im Prozess stehende Kaufmann Block es macht (vgl. dazu: Kafka, Der Prozess, Achtes Kapitel), nämlich den ganzen zum Prozess gehörigen, erniedrigenden Ritualen zu folgen, tagelang im Wartezimmer der auf stickigen Dachböden sich befindenden Gerichtskanzleien zu warten, bis er vorgelassen respektive, wie es die Regel ist, nicht vorgelassen wird, oder in den verliessähnlichen Räumlichkeiten des ihn verteidigenden Advokaten auf jede mögliche Art erniedrigt zu werden, dabei glauben müssend, auf diese Weise die dann stillschweigend als Schuld anerkannte Unschuld sühnen zu können. In dieser Variante kann der Angeklagte den Prozess zwar verschleppen, damit länger sich am Leben erhalten, muss dafür aber völlig verarmen, wie ein Strassenbettler werden, sich permanent demütigen lassen, jegliche Würde verlieren:

Sie standen niemals vollständig aufrecht, der Rücken war geneigt, die Knie geknickt, sie standen wie Strassenbettler. K. wartete auf den ein wenig hinter ihm gehenden Gerichtsdiener und sagte: 'Wie gedemütigt die sein müssen.' 'Ja', sagte der Gerichtsdiener, 'es sind Angeklagte, alle, die sie hier sehn, sind Angeklagte.' 'Wirklich!' sagte K. 'Dann sind es ja meine Kollegen.'
(Kafka, Der Prozess, S. 58)

Oder er macht es so, wie niemand ihm rät – ausser vielleicht Fräulein Bürstner ihm geraten hätte – und wohl nur wenige es machen, nämlich, dass er an seiner Unschuld festhält, nicht mehr ins Gericht geht, nachdem er sich von dessen Rechtlosigkeit überzeugt hat, er seinem Advokaten kündigt, wie dieser ihn in den Prozess totaler Demütigung zu ziehen versucht und auch zu den Vertrauensmännern des Gerichts, die ihn doch nur in die erste Variante zu ziehen versuchen, nicht mehr hingeht:

Der Advokat merkte wohl, dass ihm K. diesmal mehr Widerstand leistete als sonst, denn er verstummte jetzt, um K. die Möglichkeit zu geben, selbst zu sprechen, und fragte dann, da K. stumm blieb: 'Sind Sie heute mit einer bestimmten Absicht zu mir gekommen?' 'Ja', sagte K., und blendete mit der Hand ein wenig die Kerze ab, um den Advokaten besser zu sehen, 'ich wollte Ihnen sagen, dass ich Ihnen mit dem heutigen Tage meine Vertretung entziehe.' 'Verstehe ich Sie recht?' fragte der Advokat, erhob sich halb im Bett und stützte sich mit einer Hand auf die Kissen. 'Ich nehme es an', sagte K., der straff aufgerichtet, wie auf der Lauer, dasass. 'Nun, wir können ja auch diesen Plan besprechen', sagte der Advokat nach einem Weilchen. 'Es ist kein Plan mehr', sagte K. 'Mag sein', sagte der Advokat, 'wir wollen aber trotzdem nichts übereilen.' Er gebrauchte das Wort 'wir', als habe er nicht die Absicht, K. freizulassen, und als wolle er, wenn er schon nicht sein Vertreter sein dürfte, wenigstens sein Berater bleiben. 'Es ist nicht übereilt', sagte K., stand langsam auf und trat hinter seinen Sessel, 'es ist gut überlegt und vielleicht sogar zu lange. Der Entschluss ist endgültig.'
(Kafka, Der Prozess, S. 158f.)

Josef K. wählt den zweiten Weg, den Weg der Bewahrung der Würde, den Weg zum raschen Todesurteil.

Wie der Gefängniskaplan Josef K. im Dom das Todesurteil eröffnet und es vermittels eines Gleichnisses – ganz so, wie alle Pfarrer es so gerne machen – zu begründen versucht (vgl. Kafka, Der Prozess, S. 182f.) und erklärt, dass das Gericht nicht wegen seiner Wahrheit, sondern wegen seiner Notwendigkeit akzeptiert werden müsse (vgl. Kafka, Der Prozess, S. 188), antwortet Josef K. trocken:

'Trübselige Meinung', sagte K. 'Die Lüge wird zur Weltordnung gemacht.'
(Kafka, Der Prozess, S. 188)

Die Vollstreckung des Todesurteils will Josef K. so selbstbesonnen und würdig wie möglich bestehen:

'Das einzige, was ich jetzt tun kann', sagte er sich, und das Gleichmass seiner Schritte und der Schritte der beiden anderen (der beiden Henker; kw) bestätigte seine Gedanken, 'das einzige, was ich jetzt tun kann, ist, bis zum Ende den ruhig einteilenden Verstand behalten. Ich wollte immer mit zwanzig Händen in die Welt hineinfahren und überdies zu einem nicht zu billigenden Zweck. Das war unrichtig. Soll ich nun zeigen, dass nicht einmal der einjährige Prozess mich belehren konnte? Soll ich als ein begriffsstutziger Mensch abgehen? Soll man mir nachsagen dürfen, dass ich am Ende des Prozesses ihn beenden wollte und jetzt, an seinem Ende, ihn wieder beginnen will? Ich will nicht, dass man das sagt. Ich bin dafür dankbar, dass man mir auf diesem Weg diese halbstummen, verständnislosen Herren mitgegeben hat und dass man es mir überlassen hat, mir selbst das Notwendige zu sagen.'
(Kafka, Der Prozess, S. 192)

Wenn Josef K. zu sich und seinem Handeln von einem nicht zu billigenden Zweck spricht und feststellt, dass es unrichtig war, dann bezieht er sich auf den von der Gesellschaft nicht zu billigenden Zweck und darauf, dass sein auf Unschuld insistierendes Handeln von den gesellschaftlich geltenden Normen her gesehen unrichtig war. Dafür hat er nun zu bezahlen und will er auch bezahlen, das heisst den Prozess nicht etwa jetzt wieder beginnen und es so erscheinen lassen, als sei er über jene trübselige gesellschaftliche Notwendigkeit – dass die Gesellschaft das Insistieren auf Unschuld als Schuld auslegt – begriffsstutzig geworden und wolle jetzt doch noch Sühne leisten im Sinne der oben erwähnten ersten Variante. Dem erteilt Josef K. noch im Angesicht der laufenden Urteilsvollstreckung eine Absage, auch wenn er die Vollstreckung – nichts kann restlos konsequent gelingen – nicht auch noch selber durchzuführen vermag.

Dann öffnete der eine Herr seinen Gehrock und nahm aus einer Scheide, die an einem um die Weste gespannten Gürtel hing, ein langes, dünnes, beiderseitig geschärftes Fleischermesser, hielt es hoch und prüfte die Schärfe im Licht. Wieder begannen die widerlichen Höflichkeiten, einer reichte über K. hinweg das Messer dem anderen, dieser reichte es wieder über K. zurück. K. wusste jetzt genau, dass es seine Pflicht gewesen wäre, das Messer, als es von Hand zu Hand über ihm schwebte, selbst zu fassen und sich einzubohren. Aber er tat es nicht, sondern drehte den noch freien Hals und sah umher. Vollständig konnte er sich nicht bewähren, alle Arbeit den Behörden nicht abnehmen, die Verantwortung für diesen letzten Fehler trug der, der ihm den Rest der dazu nötigen Kraft versagt hatte. Seine Blicke fielen auf das letzte Stockwerk des an den Steinbruch angrenzenden Hauses. Wie ein Licht aufzuckt, so fuhren die Fensterflügel eines Fensters dort auseinander, ein Mensch, schwach und dünn in der Ferne und Höhe, beugte sich mit einem Ruck weit vor und streckte die Arme noch weiter aus. Wer war es? Ein Freund? Ein guter Mensch? Einer, der teilnahm? Einer, der helfen wollte? War es ein einzelner? Waren es alle? War noch Hilfe? Gab es Einwände, die man vergessen hatte? Gewiss gab es solche. Die Logik ist zwar unerschütterlich, aber einem Menschen, der leben will, widersteht sie nicht. Wo war der Richter, den er nie gesehen hatte? Wo war das hohe Gericht, bis zu dem er nie gekommen war? Er hob die Hände und spreizte alle Finger.
Aber an K.s Gurgel legten sich die Hände des einen Herrn, während der andere das Messer ihm tief ins Herz stiess und zweimal dort drehte. Mit brechenden Augen sah noch K., wie die Herren, nahe vor seinem Gesicht, Wange an Wange aneinandergelehnt, die Entscheidung beobachteten. 'Wie ein Hund!' sagte er, es war, als sollte die Scham ihn überleben.
(Kafka, Der Prozess, S. 193f.)

Wie ist solches möglich?

Eine Antwort findet sich im eben Zitierten mit dem Hinweis auf die unerschütterliche Logik des – so möchte man fortfahren – Systems. Wenn etwas dieser Logik entgegen steht, dann ist es die Selbstbesinnung der Menschen darauf, was ein Handeln innerhalb des Systems für die anderen Menschen, für sich selbst und für die äussere Natur bedeutet (vgl. zur Kritik am System auch Kommentar K186). Das System verlangt die Stillstellung der Subjekt-Objekt-Dialektik, während der Versuch, sich in andere, in sich selbst und in die äussere Natur einzufühlen, das heisst sich zu versöhnen, dieser Dialektik als einer gerade nicht stillgestellten bedarf. Für die Lebendigkeit möglich machende, nicht stillgestellte Subjekt-Objekt-Dialektik steht Josef K.

Josef K. sieht die anderen Angeklagten im Gang der Gerichtskanzlei:

In fast regelmässigen Entfernungen voneinander sassen sie auf den zwei Reihen langer Holzbänke, die zu beiden Seiten des Ganges angebracht waren. Alle waren vernachlässigt angezogen, obwohl die meisten nach dem Gesichtsausdruck, der Haltung, der Barttracht und vielen, kaum sicherzustellenden kleinen Einzelheiten den höheren Klassen angehörten.
(Kafka, Der Prozess, S. 57)

Wie Josef K. selber gehören die meisten Angeklagten den höheren Klassen an. Das deutet darauf hin, dass mit dem Prozess Säuberungen in diesen Klassen bezweckt werden, ganz so, wie es im Stalinismus und im Nationalsozialismus zur Regel wurde. Es geht gegen diejenigen, die bei dem, was sie tun, sich besinnen, zweifeln, zögern (vgl. zum Zögerlichen auch Kommentar K181), damit freilich die Logik des Systems – Erhalt der Nomenklatura, totale Gewalt der einen Reichshand usw. – gefährden. Nicht gewöhnliche Gerichte gehen dagegen vor.

Wird das Bürgerliche durch die von Josef K. verkörperte Selbstbesinnung in Bewahrung der Würde eines jeden einzelnen bestimmt, ...

(... eine Bestimmung des Bürgerlichen, von der bereits zu Zeiten von Kafka und erst recht nach seiner Zeit selbst die weiterhin sich als Bürger Bezeichnenden nichts mehr wissen wollten)

... dann sind die ungewöhnlichen Gerichte gegen dieses Bürgerliche gerichtet, säubern die Gesellschaft von denjenigen Menschen, die an der bürgerlichen Utopie festhalten, Menschen wie Josef K.

Dann ist da freilich noch die ganze breite Unterklasse, die nie oder dann nur vermeintlich zu Bürgern und Bürgerinnen werden konnten. In der Tat, die Unterklasse wurde breit integriert in die sich entwickelnde Gesellschaft, deren Angehörige mussten hierfür allerdings zu ihren besinnungslosen Dienern, genauer ihren besinnungslosen Unterdienern werden, während die ehemaligen Bürger in besinnungslose Oberdiener sich verwandelten.

Im Prozess werden die Menschen aus den Armenvierteln breit dafür rekrutiert, Beamtenstellen innerhalb der ungewöhnlichen Gerichte zu besetzen. Sie werden Wächter, Aufseher, Prügler, Untersuchungsrichter, Student, Gerichtsdiener, Gerichtsbeamter, Gerichtsmaler, Gerichtskanzleidirektor, Auskunftgeber, Advokat, Henker usw. Allerdings ist es weniger so, dass das Gericht rekrutiert, als vielmehr so, dass die ganzen unteren Klassen als Exekutive das ungewöhnliche Gericht geradezu sind und die niedrigen Beamten wie natürlich aus ihnen hervorgehen.

Der Gerichtsmaler Titorelli muss, wie Josef K. ihn in seinem kleinen, stickigen Atelier besucht, sich der vor seiner Tür lauernden Mädchen erwehren.

'Verzeihen Sie', sagte der Maler, als er zu K. wieder zurückkehrte. K. hatte sich kaum zur Tür hingewendet, er hatte es vollständig dem Maler überlassen, ob und wie er ihn (vor den Mädchen; kw) in Schutz nehmen wollte. Er machte auch jetzt kaum eine Bewegung, als sich der Maler zu ihm niederbeugte und ihm, um draussen nicht gehört zu werden, ins Ohr flüsterte: 'Auch diese Mädchen gehören zum Gericht.' 'Wie?' fragte Josef K., wich mit dem Kopf zur Seite und sah den Maler an. Dieser aber setzte sich wieder auf seinen Sessel und sagte halb im Scherz, halb zur Erklärung: 'Es gehört ja alles zum Gericht.' 'Das habe ich noch nicht bemerkt', sagte K. kurz, die allgemeine Bemerkung des Malers nahm dem Hinweis auf die Mädchen alles Beunruhigende. Trotzdem sah K. ein Weilchen lang zur Tür hin, hinter der die Mädchen jetzt still auf den Stufen sassen. Nur eines hatte einen Strohhalm durch eine Ritze zwischen den Balken gesteckt und führte ihn langsam auf und ab.
(Kafka, Der Prozess, S. 129)

Wie Josef K. das Atelier des Malers, um die Mädchen zu umgehen, über eine Hintertür verlassen will:

Und er (der Maler; kw) beugte sich endlich über das Bett und sperrte die Tür auf. 'Steigen Sie ohne Scheu auf das Bett', sagte der Maler, 'das tut jeder, der hier hereinkommt.' K. hätte auch ohne diese Aufforderung keine Rücksicht genommen (er wollte das stickige Zimmer möglichst rasch verlassen; kw), er hatte sogar schon einen Fuss mitten auf das Federbett gesetzt, da sah er durch die offene Tür hinaus und zog den Fuss wieder zurück. 'Was ist das?' fragte er den Maler. 'Worüber staunen Sie?' fragte dieser, seinerseits staunend. 'Es sind die Gerichtskanzleien. Wussten Sie nicht, dass hier Gerichtskanzleien sind? Gerichtskanzleien sind doch fast auf jedem Dachboden, warum sollten sie gerade hier fehlen? Auch mein Atelier gehört eigentlich zu den Gerichtskanzleien, das Gericht hat es mir aber zur Verfügung gestellt.' K. erschrak nicht so sehr darüber, dass er auch hier Gerichtskanzleien gefunden hatte, er erschrak hauptsächlich über sich, über seine Unwissenheit über Gerichtssachen.
(Kafka, Der Prozess, S. 141)

Während das Versprechen der Integration der unteren Klassen besagt, dass sie dadurch zu einem guten Leben finden und frei und gleich leben können, bedeutet sie – im Stalinismus und im Nationalsozialismus in extremis vordemonstriert – ihre totale Verarmung, Zwang ins Lebensfeindliche, Versteinerung.

Josef K. wird zu Beginn seines Prozesses in ein Haus in einem der ärmlichen Vorstadtviertel vorgeladen, dort in ein unter dem Dachboden sich befindendes Untersuchungszimmer:

K. glaubte in eine Versammlung einzutreten. Ein Gedränge der verschiedensten Leute (...) füllte ein mittelgrosses, zweifenstriges Zimmer, das knapp an der Decke von einer Galerie umgeben war, die gleichfalls vollständig besetzt war und wo die Leute nur gebückt stehen konnten und mit Kopf und Rücken an die Decke stiessen. K., dem die Luft zu dumpf war, ... (...)
Die meisten waren schwarz angezogen, in alten, lang und lose hinunterhängenden Feiertagsröcken. (...)
Sie (die Leute auf der Galerie; kw) schienen, soweit man oben in dem Halbdunkel, Dunst und Staub etwas unterscheiden konnte, schlechter angezogen zu sein als die unten. (...)
Er (Josef K.; kw) stand eng an den Tisch gedrückt, das Gedränge hinter ihm war so gross, dass er ihm Widerstand leisten musste, wollte er nicht den Tisch des Untersuchungsrichters und vielleicht auch diesen selbst vom Podium hinunterstossen. (...)
Was für Gesichter um ihn! Kleine, schwarze Äuglein huschten hin und her, die Wangen hingen herab, wie bei Versoffenen, die langen Bärte waren steif und schütter, und griff man in sie, so war es, als bilde man bloss Krallen, nicht als griffe man in Bärte.
(Kafka, Der Prozess, S. 37ff.)

Die über Josef K. zu Gericht sitzen oder besser stehen, auf der Galerie nur gebeugt stehen, haben jede Würde verloren, merken davon aber gar nichts, weil sie mit ihren kleinen, schwarzen Äuglein auf die vorgeblichen Gerichtssachen konzentriert sind, das heisst auf die aus den oberen Klassen hergeführten Schuldigen, die sie jetzt peinigen können. Josef K. wird sich – zur Überraschung der Anwesenden – widersetzen, tapfer und würdig sich wehren (vgl. Kafka, Der Prozess, Zweites Kapitel).

Die Gerichtskanzlei, in welche Josef K. eine Woche später vom Gerichtsdiener geführt wird (vgl. Kafka, Der Prozess, Drittes Kapitel, Schlussteil), befindet sich auf dem Dachboden oberhalb des Untersuchungszimmers und beginnt mit einem langen Gang, worin die Angeklagten warten:

Es war ein langer Gang, von dem aus roh gezimmerte Türen zu den einzelnen Abteilungen des Dachbodens führten. Obwohl kein unmittelbarer Lichtzutritt bestand, war es doch nicht vollständig dunkel, den manche Abteilungen hatten gegen den Gang zu statt einheitlicher Bretterwände blosse, allerdings bis zur Decke reichende Holzgitter, durch die einiges Licht drang und durch die man auch einzelne Beamte sehen konnte, wie sie an Tischen schrieben oder geradezu am Gitter standen und durch die Lücken die Leute auf dem Gang beobachteten. (...)
Das Mädchen (in der Gerichtskanzlei arbeitend; kw) aber erkannte doch zuerst, dass das Benehmen K.s in einem leichten Unwohlsein seinen Grund hatte, sie brachte einen Sessel und fragte: 'Wollen Sie sich nicht setzen?' K. setzte sich sofort und stützte, um noch besseren Halt zu bekommen, die Ellbogen auf die Lehnen. 'Sie haben ein wenig Schwindel, nicht?' fragte sie ihn. Er hatte nun ihr Gesicht vor sich, es hatte den strengen Ausdruck, wie ihn manche Frauen gerade in ihrer schönsten Jugend haben. 'Machen Sie sich darüber keine Gedanken', sagte sie, 'das ist hier nichts Aussergewöhnliches, fast jeder bekommt einen solchen Anfall, wenn er zum erstenmal herkommt. Sie sind zum erstenmal hier? Nun ja, das ist also nichts Aussergewöhnliches. Die Sonne brennt hier auf das Dachgerüst, und das heisse Holz macht die Luft so dumpf und schwer. Der Ort ist deshalb für Büroräumlichkeiten nicht sehr geeignet, so grosse Vorteile er allerdings sonst bietet. Aber was die Luft betrifft, so ist sie an Tagen grossen Parteienverkehrs, und das ist fast jeder Tag, kaum mehr atembar. Wenn Sie dann noch bedenken, dass hier auch vielfach Wäsche zum Trocknen ausgehängt wird man kann es den Mietern nicht gänzlich untersagen , so werden Sie sich nicht mehr wundern, dass Ihnen ein wenig übel wurde. Aber man gewöhnt sich schliesslich an die Luft sehr gut. Wenn Sie zum zweiten- oder drittenmal herkommen, werden Sie das Drückende hier kaum mehr spüren. Fühlen Sie sich schon besser?' K. antwortete nicht, es war ihm zu peinlich, durch diese plötzliche Schwäche den Leuten hier ausgeliefert zu sein, überdies war ihm, da er jetzt die Ursachen seiner Übelkeit erfahren hatte, nicht besser, sondern noch ein wenig schlechter. Das Mädchen merkte es sogleich, nahm, um K. eine Erfrischung zu bereiten, eine Hakenstange, die an der Wand lehnte, und stiess damit eine kleine Luke auf, die gerade über K. angebracht war und ins Freie führte. Aber es fiel so viel Russ herein, dass das Mädchen die Luke gleich wieder zuziehen und mit ihrem Taschentuch die Hände K.s vom Russ reinigen musste, denn K. war zu müde, um das selbst zu besorgen. (...)
'Wir anderen sind, wie Sie gleich an mir sehen können, leider sehr schlecht und altmodisch angezogen; es hat auch nicht viel Sinn, für die Kleidung etwas zu verwenden, da wir fast unaufhörlich in den Kanzleien sind, wir schlafen ja auch hier.' (...)
Er (Josef K.; kw) war wie seekrank. Er glaubte auf einem Schiff zu sein, das sich in schwerem Seegang befand. Es war ihm, als stürze das Wasser gegen die Holzwände, als komme aus der Tiefe des Ganzen ein Brausen her, wie von überschlagendem Wasser, als schaukle der Gang in der Quere und als würden die wartenden Parteien zu beiden Seiten gesenkt und gehoben. (...)
K. merkte, dass er vor der Ausgangstür stand, die das Mädchen geöffnet hatte. Ihm war, als wären alle seine Kräfte mit einemmal zurückgekehrt, um einen Vorgeschmack der Freiheit zu gewinnen, trat er gleich auf eine Treppenstufe und verabschiedete sich von dort aus von seinen Begleitern, die sich zu ihm hinabbeugten. 'Vielen Dank', wiederholte er, drückte beiden wiederholt die Hände und liess erst ab, als er zu sehen glaubte, dass sie, an die Kanzleiluft gewöhnt, die verhältnismässig frische Luft, die von der Treppe kam, schlecht ertrugen. Sie konnten kaum antworten, und das Mädchen wäre vielleicht abgestürzt, wenn nicht K. äusserst schnell die Türe geschlossen hätte. K. stand dann noch einen Augenblick still, strich sich mit Hilfe eines Taschenspiegels das Haar zurecht, hob seinen Hut auf, der auf dem nächsten Treppenabsatz lag der Auskunftgeber hatte ihn wohl hingeworfen und lief dann die Treppe hinunter, so frisch und in so langen Sprüngen, dass er von diesem Umschwung fast Angst bekam.
(Kafka, Der Prozess, S. 57ff.)

Die unteren Klassen der Prozess-Gesellschaft bemerken den enormen Preis, den sie für ihr Gerichtsdienertum zu bezahlen haben, überhaupt nicht mehr, sondern glauben sogar, wenn sie auch nur irgendein auf Gerichtszugehörigkeit hinweisendes Abzeichen am Revers tragen und welch scheussliche Arbeitspflicht fürs Gericht auch immer erfüllen dürfen, integriert zu sein. Sie bezahlen mit dem Tod noch im Leben, halten es selber im gegen das Lebendige Gerichteten überhaupt nur noch aus. Nur schon frische Luft bekommt ihnen schlecht.

Josef K. kommt auch im Prozess an das hohe Gericht nicht heran – ähnlich wie in Kafkas Roman Das Schloss –, das heisst er kommt an diejenigen nicht heran, die das Getriebe des ganzen Systems befehligen, die entscheiden, welche Positionen wo zu ersetzen respektive zu säubern sind. Er kommt an die ihn jagenden und hetzenden Richter nicht heran. Inwiefern diese Personen selbst zu – wenn natürlich reichen – Marionetten des Systems geworden sind, das heisst selber sofort durchgestrichen, ihre Fäden, an denen sie hängen, durchgeschnitten werden, wenn sie sich selbst nur ein wenig besinnen würden, lässt sich schwer sagen.

Die grosse Bank, in der Josef K. als erster Prokurist direkt unter dem Direktor-Stellvertreter tätig ist, ist bei seinem Prozess natürlich involviert und weiss über jeden gegen K. unternommenen Schritt ebenso wie über dessen Verhalten jederzeit genauestens Bescheid. Schon bei der Verhaftung von K. sind im Hintergrund drei niedere Beamte der Bank zugegen. Und die drei überwachen auch seinen Weg zur ersten Untersuchung. Gleichzeitig stösst Josef K. in einer Rumpelkammer der Bank auf die beiden Wächter, die ihn verhafteten. Hier spielen ihm die beiden zusammen mit dem Prügler eine allabendlich gleiche sadistische Szene vor, die ihn, Josef K., in die Verzweiflung, ins Schuldeingeständnis treiben soll. Der Direktor-Stellvertreter der Bank macht im Grunde nichts anderes als die Stellung von Josef K. vor allem mittels übertriebener Hilfestellungen und dadurch Herabwürdigungen zu demontieren. Wie Josef K. zur Urteilsverkündigung in den Dom gelockt werden soll, spielt ein italienischer Geschäftsfreund der Bank eine zentrale Rolle. Ihm nämlich soll K. den Dom zeigen, doch erscheint er zum abgemachten Zeitpunkt gar nicht im Dom. Am Morgen zuvor hat er ihn in der Bank zum ersten Mal getroffen.

Der Direktor lächelte freundlich, offenbar war er sehr erfreut über K.s Kommen, er besorgte sofort die Vorstellung, der Italiener schüttelte K. kräftig die Hand und nannte lächelnd irgend jemanden einen Frühaufsteher. K. verstand nicht genau, wen er meinte, es war überdies ein sonderbares Wort, dessen Sinn K. erst nach einem Weilchen erriet. Er antwortete mit einigen glatten Sätzen, die der Italiener wieder lachend hinnahm, wobei er mehrmals mit nervöser Hand über seinen graublauen, buschigen Schnurrbart fuhr. Dieser Bart war offenbar parfümiert, man war fast versucht, sich zu nähern und zu riechen. Als sich alle gesetzt hatten und ein kleines, einleitendes Gespräch begann, bemerkte K. mit grossem Unbehagen, dass er den Italiener nur bruckstückweise verstand. Wenn er ganz ruhig sprach, verstand er ihn fast vollständig, das waren aber nur seltene Ausnahmen, meistens quoll ihm die Rede aus dem Mund, er schüttelte den Kopf wie vor Lust darüber. Bei solchen Reden verwickelte er sich aber regelmässig in irgendeinen Dialekt, der für K. nichts Italienisches mehr hatte, den aber der Direktor nicht nur verstand, sondern auch sprach, was K. allerdings hätte voraussehen können, denn der Italiener stammte aus Süditalien, wo auch der Direktor einige Jahre gewesen war. Jedenfalls erkannte K., dass ihm die Möglichkeit, sich mit dem Italiener zu verständigen, zum grössten Teil genommen war, denn auch dessen Französisch war nur schwer verständlich, auch verdeckte der Bart die Lippenbewegungen, deren Anblick vielleicht zum Verständnis geholfen hätte. K. begann viel Unannehmlichkeiten vorauszusehen, vorläufig gab er es auf, den Italiener verstehen zu wollen – in der Gegenwart des Direktors, der ihn so leicht verstand, wäre es unnötige Anstrengung gewesen –, und er beschränkte sich darauf, ihn verdriesslich zu beobachten, wie er tief und doch leicht in dem Fauteuil ruhte, wie er öfters an seinem kurzen, scharf geschnittenen Röckchen zupfte und wie er einmal mit erhobenen Armen und lose in den Gelenken bewegten Händen irgend etwas darzustellen versuchte, das K. nicht begreifen konnte, obwohl er vorgebeugt die Hände nicht aus den Augen liess. Schliesslich machte sich bei K., der sonst unterbeschäftigt, nur mechanisch mit den Blicken dem Hin und Her der Reden folgte, die frühere Müdigkeit geltend, und er ertappte sich einmal zu seinem Schrecken, glücklicherweise noch rechtzeitig, dabei, dass er in der Zerstreutheit gerade hatte aufstehen, sich umdrehen und weggehen wollen.
(Kafka, Der Prozess, S. 171f.)

Selbst wenn Josef K. einem Vertreter des hohen Gerichts hätte begegnen können – und vielleicht ist er ja einem begegnet –, hätte dieser derart besinnungslos vor sich hin gesprochen, dass der lebendige K. ihn gar nicht verstanden hätte. Die angeblich notwendige, doch eben totbringende Sprache ist ja die der Systemlogik, für lebendig Integre wie Josef K. nicht zu verstehen.