K74 "Ein Abend nicht von dieser Welt"
Marina Zwetajewa inmitten des Weltensturms

16. Februar 2013

Im letzten Kommentar (K73) wurde auf die Problematik des Gedichteschreibens hingewiesen und - mit Enzensberger - darauf, dass Gedichte für den Erhalt des Lebendigen unter lebenswidrigen Umständen stehen können. Ähnlich sah es Marina Zwetajewa, russische Dichterin und Schriftstellerin. Besonders deutlich macht sie es in einem Stück mit dem Titel "Ein Abend nicht von dieser Welt". Darin beschreibt sie einen Abend im Januar 1916 in Petersburg, an dem verschiedene Petersburger Dichterinnen und Dichter in einem Haus sich trafen und einander ihre Gedichte vortrugen.

Zwetajewa beginnt ihr Prosastück folgendermassen:

Über Petersburg stand der Schneesturm. Ja, stand: wie ein kreiselnder Kreisel - oder ein sich im Kreise drehendes Kind - oder eine Feuersäule. Eine weisse Kraft, die mitriss.
Sie riss Strasse und Haus aus dem Gedächtnis und trug mich davon - setzte, stellte mich mitten in einen Raum ab, gross wie ein Bahnhof, ein Ballsaal, ein Museum, ein Traum.
Aus dem Schneesturm also in den Saal, aus der weissen Wüste des Schneesturms in die gelbe Wüste des Saals, ohne die Zwischeninstanzen der Eingänge und Begrüssungsfloskeln der Bediensteten.
Und dort, am Ende des Saals, weit weg, als blickte man durch ein umgekehrtes Fernglas, zwei riesige, wie durchs Fernglas betrachtete, glasgrosse - Augen.
Über Petersburg stand der Schneesturm, und in diesem Schneesturm - unbeweglich wie zwei Planeten - standen Augen.

Standen? Nein, gingen. Von ihnen verzaubert, bemerke ich nicht, dass der sie begleitende Körper sich in Bewegung gesetzt hat, ich merke es erst durch einen schneidenden Schmerz in den Augen, als hätte man mir das ganze Fernglas in die Augenhöhlen gerammt, Rand an Rand.
Vom andern Ende des Saals - unbeweglich wie zwei Planeten - kamen Augen auf mich zu.
Die Augen waren - da.
Vor mir stand - Kusmin.

Augen - und weiter nichts. Augen - und alles übrige. Dieses Übrige bestand aus wenig: aus fast nichts.

(Zwetajewa 1936: S. 113)

Michail Kusmin war einer der am Treffen teilnehmenden Dichter. Marina Zwetajewa beschreibt ihre Begegnung mit ihm und auch Begegnungen mit anderen anwesenden Dichterinnen und Dichtern.

Als eine der angesehensten Dichterinnen galt die in Petersburg lebende Anna Achmatowa. Achmatowa befand sich am beschriebenen Abend jedoch nicht in Petersburg. Marina Zwetajewa, damals in Moskau lebend, schreibt über die abwesende Achmatowa:

Ich trage mein ganzes Gedichtjahr 1915 vor - aber es ist zu wenig, aber sie wollen noch mehr. Deutlich fühle ich, dass ich im Namen Moskaus spreche und dass ich diesen Namen nicht beflecke, vielmehr auf die Höhe jenes der Achmatowa hebe. Achmatowa! - Das Wort ist gefallen. Mit meinem ganzen Wesen spüre ich - bei jeder Zeile - das angespannte und unvermeidliche Vergleichen (mitunter auch Gegeneinander-Ausspielen) von Achmatowa und mir, ja mehr noch: der Petersburger und der Moskauer Dichtung, der Städte Petersburg und Moskau. Doch mögen einige Achmatowa-Eiferer mir auch aus einer Gegenposition zuhören, ich selbst lese nicht gegen die Achmatowa, sondern - zu ihr hin. Lese, als wäre Achmatowa im Raum, nur sie allein. Lese für die abwesende Achmatowa. Ich brauche meinen Erfolg als direkten Draht zur Achmatowa. (...) Ich weiss, dass sich die Achmatova später von meinen 1916/1917 an sie gerichteten handschriftlichen Gedichten nicht getrennt hat und sie so lange in ihrer Handtasche trug, bis nur noch Falten und Risse übrig waren. Dies weiss ich von Ossip Mandelstam, und es gehört zu den grössten Freuden meines Lebens. (Zwetajewa 1936: S. 122f.)

Und weiter:

Nach mir - lesen alle. Jessenin liest seine Statthalterin Marfa, die Gorkji in die Zeitschrift Letopis aufnehmen wollte, was aber von der Zensur verboten wurde. Ich erinnere mich an die graublauen Wolken der Tauben und an die schwarze des Volkszorns. "Wie der Moskauer Zar - beim blutigen Gelage - seine Seele - dem Antichrist verkaufte ..." (gemeint ist damit wohl Rasputin, kw) Ich lausche mit allen Haarwurzeln. Hatte wirklich dieser Cherub, dieses MILCHGESICHT ein solch opernhaftes "Öffnet, öffnet!" zustandegebracht, hatte wirklich dieser - dieses geschrieben, empfunden? (Bei Jessenin konnte ich nie aufhören, mich zu wundern.) (Zwetajewa 1936: S. 123)

  • Einschub: Sergej Alexandrowitsch Jessenin (1895-1925): russischer Dichter; aus altgläubiger bäuerlicher Familie; Bohemien; war fünfmal verheiratet; trunksüchtig; dem Wahnsinn nahe; begeht 1925 im Alter von 30 Jahren Selbstmord; die mit Jessenin befreundete Journalistin Galina Benislawskaja, die er als seine literarische Sekretärin beschäftigte, begeht ein Jahr nach Jessenins Tod an dessen Grab Selbstmord. Jessenins Werke sind unter Stalin verboten; Jessenins Sohn Juri wird 1937 während der Stalinschen Säuberungen erschossen. (Quellen: Wikipedia; Universal-Lexikon)
Was sind authentische Gedichte? Es sind Gedichte, die das Verhältnis zur Natur, zu den Menschen, zu den Dingen so wiedergeben, wie die Konstellation es verlangt, Konvention hin oder her. Dieses Unabhängig-abhängige ist es, was die Zensur provoziert.

Ossip Mandelstam, die Kamelaugen halb geschlossen, verkündet:

Auf nach Za-arskoje Se-elo,
Wo fröhlich, frei und weinselig
Die Ulanen lachen und singen
Und sich in den Sattel schwingen.

Weinselig ersetzte ihm die Zensur durch leutselig, denn in Zarskoje Selo gibt es keine weinseligen Ulanen, nur leutselige! (Zwetajewa 1936: S. 123)

Um solches genau ging es in der - damals noch zarististischen, kurze Zeit später kommunistischen - Zensur.

  • Einschub: Ossip Emiljewitsch Mandelstam (1891-1938): russischer Dichter; lebt stets ohne grosse materielle Basis; heiratet 1922 Nadeschda, die später viele Gedichte Ossips durch auswendig lernen retten wird. In den 1920er Jahren dürfen seine Bücher noch erscheinen. Spätestens nach 1933, wo Mandelstam ein stalinkritisches Gedicht verfasst, wird er verfolgt, verhaftet, begeht einen Selbstmordversuch, wird in die Verbannung geschickt, 1938 erneut verhaftet, zu fünf Jahren Lager verurteilt, stirbt im selben Jahr in der Krankenbaracke eines Übergangslagers. (Quellen: Wikipedia; Frankfurter Rundschau)
Viele habe ich vergessen. Aber ich weiss, dass ganz Petersburg las, ausser Achmatowa, die auf der Krim, und Gumiljow, der im Krieg war.

Es lasen das ganze Petersburg und ein Moskau.

... Und hinter den riesigen Fenstern tobt unbeweglich der Schneesturm. (Zwetajewa 1936: S. 124f.)

  • Einschub: Nikolai Stepanowitsch Gumiljow (1886-1921): russischer Dichter; Protagonist der literarischen Richtung des Akmeismus; erster Mann von Anna Achmatowa; gemeinsamer Sohn Lew; mit Beginn des Ersten Weltkriegs meldet er sich freiwillig an die Front; im August 1921 wird Gumiljow wegen angeblicher Beteiligung an einer konterrevolutionären Verschwörung erschossen. Lew Gumiljow (Sohn von ihm und Anna Achmatowa) wird 1935 zum ersten Mal verhaftet, aber kurz darauf wieder freigelassen. 1938 kommt er für fünf Jahre ins Lager, 1949 wird er zu weiteren zehn Jahren verurteilt, kommt aber 1956 frei. (Quellen: Wikipedia; Nadeschda Mandelstam: Erinnerungen an Anna Achmatowa. Berlin: Suhrkamp 2011)
Marina Zwetajewa hört die Gedichte der anderen, schliesslich auch jene von Kusmin. Sie schreibt, bezogen auf ihn:

"Michail Alexejewitsch! Ich flehe Sie an - lesen Sie jetzt! Sonst muss ich gehen."
Er, gedehnt:
"Wohi-in?"
Ich erkläre es ihm.
Er, ohne zuzuhören:
"Wa-ru-um? Hier ist es doch schön. Hier ist es doch so schön. Wir müssen doch alle längst gehen."
(Oh, wie wir dann
alle gegangen sind! In jenen Schneesturm hinaus, der uns schrecklich und treulich erwartete ...)
Ich flehe erneut.
Er:
"Ich lese mein letztes Gedicht."
(Der Anfang handelt von Spiegeln. Dann:)

Sie sind so nah mir, so verwandt,
Das nennt sich wohl nicht Liebe,
In dieser Weise zärtlich kalt
Sind Seraphim und Cherubine ...

Und wieder atme ich ganz frei.
Ich glaube -
kindlich! - ans Vollkommene.
Das ist nicht Liebe, doch vielleicht ...
Ist es ...

(eine übermässige Pause und - MIT NACHDRUCK des ganzen Wesens!)

die allerhöchste
(fast ohne Stimme)
... Wonne ...

Eigentlich hört das Gedicht hier auf, doch wie im Leben gibt es einen nochmaligen Abschied:

Und dann Ihr schönes blaues Heft
Mit den Gedichten - war so neu!
Mir wurde klar, dass leben heisst -
Zu lieben - ohne Scham und Scheu.

Die unvergessliche Betonung auf die allerhöchste war selbst eine solche Wonne! So reden nur Kinder, aus ganzer Seele - und Brust! So unerträglich-wehrlos, nackt und blutend inmitten all der Bekleideten und Bewehrten. (Zwetajewa 1936: S. 126f.)

Je nach historischer Konstellation kann ein und dasselbe Gedicht entweder barbarisch oder aufklärend sein. Adorno vermerkte 1949/1951, als er jenen Satz formulierte, wonach es barbarisch sei, nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, etwas Wahres; für diesen historischen Moment, wo das ganze Grauen offenbar wurde: Zeit des Schocks. Doch musste und muss gegen das Grauen weitergelebt werden, auch - und das war die von Enzensberger 1959 ausgesprochene Wahrheit - mit Gedichten.

  • Einschub: Michail Alexejewitsch Kusmin (1872-1936): russischer Schriftsteller und Komponist (offenbar auch Sänger, gemäss Zwetajewas Beschreibung); entstammt adligen Verhältnissen; es scheint wenig bekannt über sein Leben, so wenig wie über die unbekannten Planeten.
Am Schluss ihres Prosastücks schreibt Marina Zwetajewa:

Anfang Januar 1916, Anfang des letzten Jahres der alten Welt. Der Krieg auf dem Höhepunkt. Dunkle Kräfte.

Wir sitzen und lesen Gedichte. Die letzten Gedichte auf den letzten Fellen vor den letzten Kaminen. Den ganzen Abend fällt kein einziges Mal das Wort Front, kein einziges Mal - trotz solch naher physischer Nachbarschaft - der Name Rasputin.

Morgen schon beenden Serjoscha und Ljonja ihr Leben, übermorgen schon irrt Sofja Isaakowna Tschazkina durch Moskau, wie ein Schatten Unterkunft suchend; sie, die von Kaminen nie genug hatte, erstarrt an fiktiven Moskauer Öfen.

Morgen verliert die Achmatowa alle, Gumiljow - das Leben.

Doch heute gehört der Abend uns!

Gelage zur Zeit der Pest? Ja. Doch jene feierten mit Wein und Rosen, wir aber - körperlos, phantastisch, wie reine Geister - wie Hadesgespenster - mit Worten: mit dem Klang der Worte und dem lebendigen Blut der Gefühle.

Bereue ich? Nein. Die einzige Verpflichtung des Menschen auf Erden ist - die Wahrheit seines Wesens. Ehrlich, Hand aufs Herz: an jenem Abend hätte ich ganz Petersburg und ganz Moskau für Kusmins "allerhöchste Wonne" hingegeben, die Wonne selbst für das eine Wort "allerhöchste". Die einen vergeben ihre Seele - für rosa Wangen, die andern geben ihre Seele hin - für himmlische Klänge.

Und alle haben dafür gezahlt. Serjoscha und Ljonia - mit dem Leben, Gumiljow - mit dem Leben, Jessenin - mit dem Leben, Kusmin, Achmatowa und ich - mit lebenslänglicher Haft in uns selbst, in dieser Festung, die unbezwinglicher ist als die Peter-Pauls-Festung.

Und so siegreich die Morgen und Abende von dieser Welt auch waren, und so unterschiedlich - welthistorisch oder lautlos - wir, die Teilnehmer jenes Abends nicht von dieser Welt, auch starben - der letzte Ton auf unsern Lippen war und wird sein:

Kein irdisches Lied, kein fader Gesang
Ersetzten ihr den Himmelsklang.

(Zwetajewa 1936: S. 130f.)

  • Marina Iwanowna Zwetajewa (1892-1941): russische Dichterin; stammt aus einem bildungsbürgerlichen Haushalt; studiert 1908 Literaturgeschichte an der Sorbonne; sie lernt italienisch, französisch und deutsch; 1912 heiratet sie Sergej Jakowlewitsch Efron, mit dem sie zwei Töchter hat; 1917 steht sie auf der Seite der Kämpfer gegen die Revolution; ihr Mann meldet sich als Freiwilliger in die Weisse Armee; auch Marina Zwetajewa wird von der Moskauer Hungersnot brutal getroffen. Sie verliert eine Tochter. 1922 zieht sie nach Berlin, wo sie ihren Mann Efron wieder trifft, dann nach Prag, wo sie sich leidenschaftlich in einen ehemaligen Offizier verliebt; 1925 reist sie mit Efron und ihrer Tochter Ariadna nach Paris, wo sie 14 Jahre leben; Sohn Georgi kommt zur Welt; Efron beginnt, heimlich als Spion für Russland zu arbeiten, bis er fliehen muss; Zwetajewa gerät dadurch in zusätzliche Schwierigkeiten, in Paris kann sie kaum noch überleben. 1939, zu Beginn des Zweiten Weltkriegs, kehrt sie in die Sowjetunion zurück. Unter Stalin ist jeder, der im Ausland gelebt hatte, verdächtig, ebenso wie jeder Angehörige der vorrevolutionären Intelligenzija. Zwetajewas Schwester Anastassja war bereits vor ihrer Rückkehr im Gefängnis, und obwohl diese den Gefängnisaufenthalt überlebt, sollten sich die Schwestern nicht mehr wiedersehen. Alle Türen haben sich für Marina Zwetajewa geschlossen. Boris Pasternak verschafft ihr einige Übersetzungsarbeiten, aber die anerkannten sowjetischen Schriftsteller weigern sich, ihr zu helfen, und ignorieren ihre Misere. Efron und Tochter Ariadna werden wegen Spionage inhaftiert. Es stellt sich heraus, dass Ariadnas Verlobter in Wirklichkeit ein Agent des NKWD war, der die Familie ausspioniert hatte. Efron wird 1941 erschossen, Ariadna verbringt 8 Jahre im Gefängnis. Nach Stalins Tod entlastet man beide von den Anschuldigungen. 1941 werden Zwetajewa und ihr Sohn nach Jelabuga evakuiert, in die Tatarische autonome Republik. Sie haben keinerlei Mittel zum Unterhalt. Georgi bedrängt seine Mutter in ihrer Armut und fleht sie an, den Ort zu verlassen; sie hat keine Möglichkeit, seinen Forderungen nachzukommen, bemüht sich jedoch noch um eine Genehmigung, nach Tschistopol umzuziehen. Am 31. August 1941 erhängt sich Marina Zwetajewa. Die genaue Lage ihres Grabes ist bis heute unbekannt. Erst in den 1960er Jahren werden ihre Arbeiten in der Sowjetunion rehabilitiert. (Quelle: Wikipedia)